Nachkrieg im Nahen Osten

Die USA haben den Krieg gegen Saddam Hussein gewonnen, die Uno und das Völkerrecht vor den Kopf gestossen und den Irak besetzt. Doch die wirklichen Herausforderungen stehen erst an.

Arnold Hottinger. Er gilt als Kenner der arabischen Welt. Er hat für die NZZ und Radio DRS jahrelang über die Konflikte im Nahen Osten berichtet.

Jeder Kenner der Region wusste: Der Nachkrieg im Irak würde schwieriger werden als der Krieg selbst. Nur die neokonservativen Ideologen Amerikas, Leute wie Rumsfeld, Wolfowitz, Cheyney und zahlreiche andere, die Präsident Bush im Schlepptau führen, glaubten oder gaben vor zu glauben, dass nach dem zu erwartenden militärischen Sieg im Irak von heute auf morgen eine «Demokratie amerikanischen Stils» organisiert werden könne, von der sie auch noch behaupteten, sie werde dann ihrerseits «ausstrahlen» auf den Rest der nahöstlichen arabischen Staaten (Israel ist ihrer Ansicht nach bereits eine vorbildliche Demokratie) und die ganze Nahostregion umformen. Diese öffentlich vorgetragenen Erwartungen lassen sich aus zahllosen Reden und Schriften belegen, nicht zuletzt solchen, die Bush selbst von seinen Redeschreibern auf die Zunge gelegt wurden.

Im Falle der naiveren Neokonservativen, vielleicht auch des Präsidenten selbst, kann man vermuten, dass diese mehr oder weniger weitgehend an ihre eigene Propaganda glauben. Im Falle von anderen, zynischeren Manipulatoren, die ebenfalls zur Denkschule der Neokonservativen gezählt werden, Vizepräsident Cheney zum Beispiel, Richard Perle und anderen «Falken», kann man annehmen, dass die vorgeschobenen Erwartungen und Hoffnungen eher der Manipulation der amerikanischen Bevölkerung dienten mit dem Zweck, deren Bedenken gegen den Krieg und das ihm folgende unvermeidliche Besatzungsregime mehr oder weniger kolonialer Natur durch schöne Pläne und wohlklingende Worte zu überwinden. Die amerikanischen Neokonservativen streben zwar offensichtlich (wie ihre Schriften belegen) ein Imperium Americanum «neuer Art» an, doch es gehört zu seiner Dekoration und Apologie, dass es ein Imperium «amerikanischer Demokratie» werden soll.

Die Plünderungen waren vorhersehbar

Die Arbeit an dieser Musterdemokratie hätte eigentlich gleich nach dem «Sieg» anfangen sollen. Es stellte sich jedoch heraus, das Washington nicht über den Sieg hinaus gedacht hatte. Es gab keinerlei Vorbereitungen darauf, wie das nach dem Sturz des Diktators zu erwartende Machtvakuum wirksam gefüllt werden könne. Niemand dachte daran, dass der Irak, nachdem seine Regierungsstrukturen (Ministerien, Banken und Finanzsystem, Staatspartei, Armee, Polizei, Schulen, Erdölanlagen, Transport- und Wassersysteme, Fabriken, Strassen usw.) weitgehend zerstört worden waren, neuer, mindestens provisorischer Strukturen bedürfe, um weiter zu existieren. Dass es zu Plünderungen kommen werde, hatte Washington offenbar auch nicht erwartet, obwohl Kenner des Landes und seiner inneren Lage dies vorausgesagt hatten.

Für die fehlende Vorbereitung auf die nach Völkerrecht feststehende Verpflichtung der Besatzungsmacht, für ein Minimum an Wohlergehen der besetzten Bevölkerung zu sorgen, kann man zweierlei Gründe verantwortlich machen, die einander nicht ausschliessen. Einerseits «le non pensé» der amerikanischen Verantwortlichen, die sich hatten einreden wollen, nach dem Sieg komme «die Demokratie» gewissermassen von selbst, als Folge der «Befreiung» der Iraker. Andrerseits bestand wohl auch die etwas zynischere Annahme, dass durch ein paar Tage oder Wochen der Anarchie die (nachher überlebende) irakische Bevölkerung um so dankbarer und gefügiger gegenüber der Besetzungsmacht werde, welche es dann schrittweise auf sich nähme, den Irakern bei der Einrichtung der geplanten Amerikanischen Demokratie zu helfen.

Das Öl kommt vor den Menschen

Die Iraker (und die übrige arabische Welt) stellten sofort fest, dass den Amerikanern offensichtlich mehr an der Sicherstellung der Erdölquellen lag als an der Sicherheit der irakischen Bevölkerung. Für die Absicherung der Ölfelder bestanden Pläne, die im grossen und ganzen erfolgreich durchgeführt wurden. Für die Sicherheit der Bevölkerung nach der «Befreiung» gab es sie offenbar nicht.

Der von den Neokonservativen oft angeführte Vergleich mit der amerikanischen Besetzung von Japan und Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg war irreführend. Unter anderem weil der Irak ein Vielvölkerstaat aus Gruppen ist, die gegeneinander rivalisieren und durch ethnische, religiöse, Stammes-, Sippen- und Familienbande enger zusammengehalten werden als durch ihren Staat. Demgegenüber können Deutschland und Japan als stark disziplinierte Einheitsstaaten gelten. In ihnen kann man das Oberhaupt amputieren und es durch ein neues ersetzen, der Staat funktioniert unter dem neuen weiter. Wenn im Irak das Oberhaupt entfernt wird, explodiert das Land in die zahllosen verschiedenen und oft untereinander verfeindeten Kleingruppen, aus denen es sich zusammensetzt. Eine jede handelt dann nach ihren (vermeintlichen) eigenen Interessen. Die Politik Saddams, die alle Gruppen gegen alle anderen ausspielte, förderte diese Tendenz. Er hinterlässt eine Gesellschaft, in der tiefe Ressentiments der verschiedenen Gruppen gegen ihre Rivalen und Konkurrenten bestehen, mehr noch: gegenseitige Angst vor der Macht der Anderen.

Die Anarchie und ihre Folgen

Es gab auch mehr technische Gründe für das unerwartete Ausmass der Anarchie, die nach dem amerikanischen Sieg ausbrach und immer noch nicht überwunden ist: Der Krieg durch Bombenmacht und schnell vordringende, relativ leichte Truppenverbände, der auf die Hauptstadt abzielte, ohne das ganze Land militärisch zu besetzen, war ein Krieg «neuer Art». Militärisch erfolgreich, weil das Regime offenbar sofort nach dem Vorstoss und Einfall der amerikanischen Tanks nach Bagdad zusammenbrach. Jedoch politisch viel fragwürdiger, weil er weite Zonen des Landes im Rücken der vordringenden Streitkräfte unbesetzt sich selbst überliess und dadurch ein Machtvakuum schaffte, das die Amerikaner bisher nicht zu füllen vermochten. Das Land wurde nicht besetzt, nur seine politischen und wirtschaftlichen Zentralen, gewissermassen sein Nervensystem, wurde zerschlagen und lahm gelegt. Es war logisch (aber offenbar von den Amerikanern nicht vorausgesehen), dass sich darauf die zersprengten Glieder auf eigenen Antrieb bewegten.

Die «Anarchie», die zunächst nach der «Befreiung» entstand, hatte ihrerseits politische Folgen. Den Irakern war schon von der Propaganda des Saddam Regimes vorausgesagt worden, unter den Amerikanern würden sie noch viel mehr zu leiden haben als bisher. Denn, so lautete die im ganzen arabischen Raum weit über den Irak hinaus vorherrschende Propaganda (die beste Propaganda ist immer die, welche einen starken Wahrheitsanteil besitzt), die Amerikaner seien «nur» darauf aus, ihre eigenen (besonders Erdöl-) Interessen sicher zu stellen und die Iraker mitsamt ihrem potentiellen Reichtum «auszubeuten». Die Anarchie mit ihren Härten und Unsicherheiten für praktisch alle Iraker, besonders natürlich die Überreste des noch vorhandenen Mittelstandes, wurde als «Beweis» für die Wahrheit des vorhergesagten kolonialen Ausbeutungsdrucks durch die Amerikaner genommen. Sie diente deshalb dazu, die anfänglich vorhandene Dankbarkeit für die «Befreiung» etwa der Schiiten, die besonders schwer unter dem brutalen Druck des Saddam Regimes gelitten hatten, rasch in Bitterkeit über das beginnende Besatzungsregime zu verwandeln und in die Neigung, nun alle Missstände, gegenwärtige und zukünftige, ihm anzulasten.

Das «Nation-Building» wird Milliarden kosten

Die Besetzungsmacht ist auf diese Weise mit dem linken Stiefel in das besetzte Land getreten. Sie muss nun mit einem zähen negativen Vorurteil der Iraker rechnen, das sich natürlich mit jedem echten oder vermeintlichen Misserfolg des geplanten «Nation-Building» und mit jedem Akt echter oder vermeintlicher Ausbeutung weiter verdichten wird. Natürlich fehlt es nicht an irakischen Politikern und Wortführern, die versuchen werden, auf Grund dieses bereits bestehenden Gefälles negativer Vorurteile gegen die Amerikaner Karriere zu machen. Sie werden in allen Gemeinschaften aufstehen und überall versuchen, jene Iraker, die sich dem «Nationbuilding» der Amerikaner zur Verfügung stellen, auszustechen. Die Islamisten haben dabei die besten Chancen, weil ihr irrationales Heilsversprechen dann am besten wirkt, wenn keine rationalen Zukunftshoffnungen am Horizont sichtbar sind. Der Prozess des «Nationbuilding» wird ohnehin ausserordentlich schwierig werden. Die Schwierigkeiten bloss aufzuzählen, braucht viel Raum, wie ein ausgezeichneter Aufsatz über den Wiederaufbau im Irak im «Economist» (19. April 2003 p.17-19) belegt. Dort werden auch erstmals die benötigten Geldsummen, Dutzende und Hunderte von Milliarden, beziffert.

Schlechte Zeiten für den Irak

Die Amerikaner können den Irak nicht wie Afghanistan behandeln. Dort haben sie nur die Hauptstadt abgesichert und lassen den Rest des Landes in seinem eigenen Saft schmoren. Dies geht nicht im Irak, wegen des Erdöls, jenem des Iraks und dem aller benachbarten Erdölstaaten am Golf. Das Öl ist strategisch so wertvoll, vor allem für die Amerikaner, dass sie keinen permanenten Unruheherd in seiner unmittelbaren Nähe zulassen können. Die Amerikaner werden deshalb mit dem angekündigten Prozess der Besetzung und des «Nationbuilding» fortfahren müssen, gleich ob er erfolgreich oder wenig erfolgreich verläuft. Wenn und solange die «amerikanische Demokratie» nicht zustande kommt, müssen sie die «amerikanische Herrschaft» fortführen, trotz dem zu erwartenden wachsenden Widerstand der Iraker.

Für den Irak bedeutet dies schlechte Zeiten. Für den Rest der arabischen Welt, namentlich für Syrien, das verbal bereits auf die Abschussliste der Amerikaner kam, sowie auch für Iran, dürften jedoch die bevorstehenden Schwierigkeiten und Kosten Washingtons im Irak insofern vorteilhaft werden, als sie weitere militärische Expansionsversuche des «Neuen Amerikanischen Jahrhunderts» in den nahöstlichen Raum unwahrscheinlicher machen. Washington wird im Irak für die kommenden Jahre vollauf beschäftigt sein.

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