Beobachten, um gesehen zu werden

Die Idee eines «Zivilen Friedensdienstes ZFD» ist mit der Abstimmungsniederlage der gleichnamigen Initiative im Herbst 2001 nicht gestorben. Im Gegenteil: Jeden Tag leisten Dutzende von Menschen überall auf der Welt einen Beitrag zum Abbau der Konfliktursachen und zur Entschärfung von Konflikten.

Samuel Durrer sprach mit Karin Künti, die für CORSAM in Chiapas war.

Karin, wieso hast Du Dich für einen zivilen Friedenseinsatz mit CORSAM entschieden?

Ich wollte schon lange einen Friedenseinsatz leisten. Dazu kam, dass ich nach meinem obligatorischen praktischen Semester unbedingt auch etwas ausserhalb der Uni und der Kirche machen wollte. Als ich einen Aushang für eine Infoveranstaltung von Peace Brigades International (PBI) und CORSAM sah, bin ich einfach mal hingegangen. Eigentlich interessierte ich mich eher für einen Einsatz mit PBI, da die Friedensarbeit bei PBI umfassender ist und zum Beispiel auch Büroarbeit beinhaltet. Die Einsätze von CORSAM tönten eher langweilig. Für was sollte ich zwei Monate in Dörfern rumsitzen und einfach nur zuschauen? Da PBI-Einsätze mindestens ein Jahr dauern und ich nicht soviel Zeit hatte, wollte ich aber wieder ganz auf den Friedenseinsatz verzichten.

Je länger ich jedoch über das Konzept von CORSAM nachdachte, desto mehr sagte es mir zu. Ich sah ein, dass es durchaus sinnvoll sein kann, ein reines Beobachtungsmandat einzunehmen, da damit auch keine Abhängigkeiten geschaffen werden.

Wieviel wusstest Du über den Konflikt in Chiapas, als Du Dich entschieden hast, einen Einsatz zu leisten?

Ich wusste sehr wenig über die politischen Hintergründe des Konflikts. Über die Zappatisten wusste ich eher, wie sie aussehen, als was sie fordern. Ich kannte den Kaffee und die Solidaritätsorganisationen, die bei fast jeder Demo präsent sind.

Als ich mich zur Vorbereitung in den Konflikt «eingelesen» habe, fiel mir vor allem auf, wie beispielhaft der Krieg in Chiapas ist. Es spielen die gleichen Mechanismen wie in den meisten Konflikten der ausbeuterischen Globalisierung: Das Land wird privatisiert, die Bauern werden in die Schuldenwirtschaft getrieben und machen sich so abhängig von den Konzernen, welche sie zu Monokulturen zwingen und gleichzeitig mit Billigimporten aus Brasilien den Kaffeepreis drücken. Ich verstehe jetzt auch, wieso die Solidaritätsorganisationen mit Chiapas in der Antiglobalisierungsbewegung so präsent sind: Chiapas ist ein gutes Beispiel für die verheerende Wirkung der Globalisierung.

Wie ist die aktuelle Situation in Chiapas?

Ich habe vor allem einen grossen psychischen Druck der Menschen gespürt; viele Männer und Frauen haben resigniert und sind dem Alkohol verfallen. Daneben gibt es eine grosse Armut: Chiapas ist der ressourcenreichste Bundesstaat Mexikos, aber 70% der indigenen Kinder sind unterernährt.

Welche Handlungsansätze hätte Deiner Meinung nach die Schweizerische Politik um die Situation in Chiapas zu verbessern?

Zum einen sollte sie Organisationen wie CORSAM unterstützen, die einen wertvollen Beitrag an eine zivile Lösung des Konflikts und eine bessere Zukunft der Region leisten. Zum anderen sollte sich die Schweizer Politik für verbindliche Standards in der Weltwirtschaft einsetzen. Auch Firmen mit Schweizer Sitz tragen viel zur Situation in Chiapas bei. So drückt zum Beispiel die Firma Néstle mit Billigimporten den Kaffeepreis.

Was können wir, die Zivilgesellschaft, tun?

Sicher müssen wir unsere Verantwortung als KonsumentInnen wahrnehmen. In der Schweiz sind wir in der privilegierten Situation, uns «fair trade»-Produkte leisten zu können. Wenn wir nicht fair gehandelte Produkte konsumieren, beteiligen wir uns an den ausbeuterischen Auswirkungen der Globalisierung. Die Einsätze von CORSAM leisten einen wichtigen Informationsbeitrag für die Bevölkerung, weil CORSAM den Konflikt immer wieder in die Schweiz zurückbringt.

CORSAM bietet reine Beobachtungsmissionen an: War es nicht schwer, zum tatenlosen Zuschauen gezwungen zu sein?

Die Ausweglosigkeit der Menschen in Chiapas gewährend, habe habe ich mir oft gedacht: «Was mache ich eigentlich hier?» Zum Beispiel wäre ich gern mit auf die Felder gegangen, um zu arbeiten. Als ich dies dem Dorfverantwortlichen gesagt habe, hat er gemeint, dass wir ihnen mehr nützten, wenn wir im Dorf blieben, denn wenn das Dorf allein gelassen würde, hätten sie Angst davor, dass die Armee während ihrer Abwesenheit ins Dorf kommen würde.

Bei meinem Einsatz im Dorf Nuevo San Rafael / Poblado Ignacio Allende wurde mir klar, wie viel unsere Anwesenheit bewirken kann. Bevor wir ins Dorf kamen, gab es massive Drohungen seitens des Militärs gegen dieses Dorf. Unsere mexikanische Partnerorganisation entschied sich, von nun an dauernd mit zivilen BeobachterInnen präsent zu sein. Als wir nach unserem zweiwöchigen Aufenthalt das Dorf verliessen, gab es für ca. 2-3 Stunden keine AusländerInnen im Dorf. Auf dem Fussmarsch aus dem Dorf hinaus sahen wir wie sich drei Boote dem Dorf näherten – wie wenn sie auf unsere Abreise gewartet hätten. Wir fotografierten sie und sorgten dafür, dass die Soldaten dies auch merkten – nach dem Motto: «Beobachten, um gesehen zu werden». Dieser Zwischenfall hat mir gezeigt, wie wichtig die Präsenz von zivilen und neutralen BeobachterInnen sein kann. Leider gibt es mehr Dörfer, die Schutz benötigen, als BeobachterInnen.

Ich mache mir keine Illusionen über die Frage, ob mein Einsatz das Leben der Bevölkerung verbessert hat. Ich glaube aber, dass zivile Präsenz dazu beitragen kann, die Situation nicht noch schlimmer werden zu lassen. Hätte es keine zivilen BeobachterInnen in Nuevo San Rafael / Poblado Ignacio Allende gegeben, wäre es vermutlich zu einem bewaffneten Konflikt gekommen.

Wo wir aber wirklich etwas zu einer Besserung der Situation beitragen können, ist nach der Rückkehr hier in der Schweiz: Eine Aufgabe von zivilen BeobachterInnen ist es, dafür zu sorgen, dass Konflikte nicht in Vergessenheit geraten und das Erlebte weiter zu erzählen.

Wie geht deine Aufgabe in der Schweiz nun weiter?

Ich habe meine Erlebnisse vielen Menschen erzählt. Da es in meinem Umfeld viele politisch aktive Leute gibt, sind auch schon einige Anfragen für Veranstaltungen zu mir gekommen. CORSAM unterstützt die RückkehrerInnen zusätzlich und organisiert ebenfalls öffentliche Veranstaltungen. Aus eigener Initiative werde ich einen Artikel in der Berner StudentInnenzeitung «unikum» schreiben und eine Veranstaltung in der evangelischen Unigemeinde «eug» organisieren. Im Übrigen ist auch dieses Interview Teil meiner Öffentlichkeitsarbeit.

Zum Schluss: Welche Erfahrungen und Lehren nimmst Du mit aus Chiapas?

Mein Einsatz in Chiapas hat mich vor allem in meiner bisherigen Lebensweise bestätigt. Ich bin kein neuer Mensch geworden, verzichte heute aber wohl bewusster auf gewisse Dinge.

Ich habe nach wie vor Gewissheit darüber, dass es um unsere Welt sehr schlecht steht. Ich weiss nun aber auch, dass die Welt um einiges besser aussehen könnte, wenn mehr Leute, die die Möglichkeit haben, etwas zur Verbesserung der Welt zu tun, diese Möglichkeiten auch nutzen.

Karin, vielen Dank für dieses Gespräch.


(sl) Karin Künti ist 26 Jahre alt. Sie sie studiert Theologie an der Universität Bern und arbeitet zur Zeit als Praktikantin in einem Durchgangszentrum für AsylbewerberInnen. Sie war drei Monate in Mexiko und leistete zwischen dem 1.Mai und 10.Juni 2003 zweimal einen 15- tägigen Beobachtungseinsatz in verschiedenen zappatistischen Dörfern in Chiapas.

CORSAM, die «Coordinacion Suiza Para El Apoyo A Los Campamentos Civiles Por La Paz En Chiapas / Mexico» wurde 1996 mit dem Ziel gegründet, durch «die Präsenz der internationalen Begleiter und Begleiterinnen in indianischen Dörfern einen Beitrag zu leisten zur Verhinderung gewalttätiger Übergriffe auf die Zivilbevölkerung». Heute ist CORSAM ein Projekt des im Jahre 2001 gegründeten Vereins Peacewatch Switzerland. Informationen können bei Peacewatch Switzerland, Quellenstrasse 31, 8005 Zürich, Tel. 01 272 27 88, Email: corsam@peacewatch.ch, bestellt werden. Die Daten der nächsten Informationsnachmittage findet man im Internet unter corsam.peacewatch.ch


Gewaltfrei stören – Gewalt verhindern

(mp) Welche Wege sind gangbar, welche Methoden effektiv und für alle Parteien überzeugend, wenn Konflikte eskalieren und Parteien in diesem Konflikt auseinander gedrängt und falls möglich gar miteinander versöhnt werden sollen? Diesen Fragen gehen Die beiden Autoren, Liam Mahony und Luis Enrique Eguren, die selbst als Freiwillige mit PBI in Lateinamerika und Südostasien in den 80er und 90er Jahren tätig waren, in ihrem Buch «Gewaltfrei stören – Gewalt verhindern!» nach. Das Buch, welches unter dem Titel «Unarmed Bodyguard» bereits in den USA erschienen ist, ist erstmals auf deutsch erhältlich und stellt gewaltfreie Konfliktbarbeitung an den Beispielen von Guatemala, El Salvador, Haiti, Kolumbien und Sri Lanka vor. Eingegangen wird sowohl auf die theoretische Ebene als auch auf die Erfahrungen in der Praxis. Auf theoretischer Ebene werden die Verhältnisse und die politische Situation im jeweiligen Land analysiert und gleichzeitig in einen direkten Bezug zu den von PBI praktizierten Methoden und Strategien einer gewaltfreien Konfliktbearbeitung gestellt. Eine Vielzahl von Beispielen aus Konfliktsituationen verdeutlichen die konzeptionelle Entwicklung, die Peace Brigades International seit 1981 nahm, ausgehend von den ersten Erfahrungen von PBI-Freiwiligen in Guatemala. In zahlreichen Interviews mit PBI-Freiwilligen, aber auch mit jenen, die begleitet und beschützt wurden und sogar mit jenen, die sie bedrohten, wird die Bedeutung und Wirkungsweise der internationalen Begleitung als einer Möglichkeit der gewaltfreien Konfliktintervention deutlich und verständlich.

Das Buch stellt eine geglückte Mischung aus Report und Studie dar, mit etlichen Anmerkungen und einer großen Literaturliste. Es ist die bisher ausführlichste Darstellung der Arbeit von PBI und richtet sich an alle, die sich für zivile Konfliktlösung, die im Buch beschriebenen Regionen und für die Arbeit von PBI interessieren.

Gewaltfrei stören – Gewalt verhindern
Die Peace Brigades International
Laim Mahony
Luis Enriquue Eguren
Rotpunktverlag, Zürich, 2002-11-07 ISBN 3-85869-241-7
432 Seiten, CHF 34.00

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