Kollektive Sicherheit am Scheideweg

Die Debatte um die Reform der Vereinten Nationen wurde in den letzten Monaten durch die Lobby-Anstrengungen einzelner Nationalstaaten geprägt, die um einen Sitz im UN-Sicherheitsrat balgen.

Dabei ist die Reform des Sicherheitsrates nur eine von zahlreichen Herausforderungen, vor denen die Vereinten Nationen in den nächsten Monaten stehen.

Als ein «Wettpinkeln gegen den Wind» (taz, 18.4.2005) bezeichnete ein Diplomat unlängst die Versuche von Staaten, sich einen Sitz im UN-Sicherheitsrat zu ergattern. Generell muss jedoch die Frage gestellt werden, ob eine Neuverteilung der Sicherheitsrat-Sitze die Demokratisierung der Uno entscheidend voranbringt. Auch mit einem Einbezug ständiger afrikanischer und lateinamerikanischer Länder widerspricht die Struktur des Sicherheitsrates dem in der Uno-Charta festgehaltenen Grundsatz der Gleichheit der Mitglieder.

Müssen die Erfolgsaussichten einer Uno-Reform, was die Zusammensetzung des Sicherheitsrates betrifft, pessimistisch eingestuft werden, so fällt das Fazit über die in den letzten Monaten geführte Diskussion um die Anpassung der inhaltlichen Bestimmungen der Uno-Charta widersprüchlich aus. Durch die völkerrechtswidrigen Kriege im Kosovo (1999) und Irak (2003) dazu veranlasst, hat UN-Generalsekretär Annan im Jahr 2003 eine Expertenkommission einberufen, die sich mit der zukünftigen Gestaltung kollektiver Sicherheit auseinandersetzen sollte. Dabei sollte auch die Rechtmässigkeit des präventiven Eingreifens gegenüber Bedrohungen diskutiert werden, auf die sich die USA im Krieg gegen Irak berufen hatten. Der ein Jahr später publizierte Bericht mit dem Namen «Eine sichere Welt. Unsere gemeinsame Verantwortung», von Uno-Korrespondent Andreas Zumach als die «klügste und konkreteste Blaupause zur Stärkung und Reform der Vereinten Nationen» bezeichnet, bildet dabei die Grundlage für den Bericht «In grösserer Freiheit», mit dem der Uno-Generalsekretär die Reform-Konferenz im September 2005 vorbereitet. Der Bericht der Kommission beginnt mit der Feststellung, dass «viele Menschen der Ansicht sind, dass das, was heute als kollektive Sicherheit gilt, einfach ein System zum Schutz der Reichen und Mächtigen ist». Für diese Menschen steht, was ihre Sicherheit betrifft, nicht der «internationale Terrorismus» im Vordergrund, sondern das eigene Überleben. Konsequenterweise listet der Bericht daher «wirtschaftliche und soziale Bedrohungen, einschliesslich Armut, Infektionskrankheiten und Umweltzerstörung» als ersten Punkt einer Liste von möglichen Bedrohungen auf. Armutsbeseitigung, die Herbeiführung eines stetigen Wirtschaftswachstums und die Förderung einer nachhaltigen Entwicklung sind daher auch die dringlichsten Aufgaben des Systems kollektiver Sicherheit im Rahmen der Uno. Zur Bekämpfung des Terrorismus wird folgende Massnahmen gefordert: «Abschreckung, Bemühungen zur Behebung der Ursachen oder Begünstigungsfaktoren des Terrorismus, unter anderem durch die Förderung der sozialen und politischen Rechte, der Rechtsstaatlichkeit und demokratischer Reformen, Bemühungen um die Beendigung von Besetzungen und die Beseitigung der grössten Ursachen politischer Unzufriedenheit, Bekämpfung der organisierten Kriminalität, Verringerung von Armut und Arbeitslosigkeit und Verhinderung des Zusammenbruchs von Staaten.» Einen schwierigen Spagat versucht der Bericht in der Frage der präventiven Gewaltanwendung: Zwar anerkennt er, nachdem er die Wichtigkeit von zivilen präventiven Anstrengungen betont hat, die Möglichkeit, dass in einer globalisierten Welt auch präventiv militärische Schritte eingeleitet werden müssen. Doch diese dürfen nicht aus dem in der Charta festgehaltenen Recht auf Selbstverteidigung abgeleitet werden, sondern müssen in jedem Fall dem UN-Sicherheitsrat zur Autorisierung vorgelegt werden. Der Bericht stellt zudem fest, dass massive Verletzungen der Menschenrechte im Innern eines Staates dazu führen können, dass der betroffene Staat sein Recht auf Souveränität und Nichteinmischung verliert (siehe auch hier). Die Staatengemeinschaft ist aber aufgefordert, für das internationale Eingreifen klare Regeln zu definieren (u.a. die Anwendung von Gewalt nur als letztes Mittel), um einen Missbrauch dieser Norm zu verhindern. Zudem ist auch für ein solches Eingreifen ein Beschluss der Uno unbedingt notwendig. Überhaupt bekräftigt der Bericht die Rolle der Uno als das zentrale und höchste Organ in der Autorisierung von Gewalt. Er fordert sogar, dass «für regionale Friedenseinsätze in allen Fällen die Genehmigung des Sicherheitsrats eingeholt werden soll» – was der zunehmenden Selbstmandatierung von Regionalbündnissen wie der EU einen Riegel schieben soll. Zu defensiv äussert sich der Bericht hingegen in der Frage, in welcher Form in Zukunft militärische Einsätze durchgeführt werden sollen. Zwar fordert die Kommission die westlichen Länder auf, sich wieder im Rahmen von Uno-Blauhelmeinsätzen zu engagieren. Die im Bericht vorgeschlagene Abschaffung des Uno-Generalstabsausschusses zeigt aber, dass die Expertenkommission in der Frage, ob die Uno einmal eigene ständige Truppen erhalten soll, resigniert hat.

Dass die Kommission in dieser Frage die einzige (nennenswerte) Änderung der Uno-Charta vorschlägt, macht klar, dass die Charta noch immer als eine tragfähige Grundlage kollektiver Sicherheit betrachtet wird. Doch schon immer hing ihre Durchsetzung letzten Endes vom Willen und den Interessen der Mitgliedsstaaten ab.