Bankrotterklärung des humanitären Interventionismus

Die NATO-Intervention im Kosovo galt als epochenbildendes Ereignis – als Durchbruch des Prinzips der humanitären Interventionen. Keine 10 Jahre später zeigen die Diskussionen um eine Unabhängigkeit Kosovos, was für ein Scherbenhaufen angerichtet wurde.

Die Unabhängigkeitserklärung des Kosovo wurde nur vorläufig aufgeschoben. Die Verhandlungen innerhalb der Kosovo-Kontaktgruppe (USA, Russland, Deutschland, Italien, Frankreich, Grossbritannien) bestehen momentan vor allem aus weiteren Überzeugungs- und Druckversuchen auf Russland, die Loslösung Kosovos anzuerkennen. Zudem sollten offensichtlich die serbischen Präsidentschaftswahlen (Stichwahl am 3. Februar) abgewartet werden. Eine vorherige Unabhängigkeitserklärung Kosovos hätte dem Ultranationalisten Tomislav Nikolic noch weiteren Zulauf verschafft und damit zur weiteren Polarisierung beigetragen. Dennoch: Aufgeschoben ist nicht aufgehoben. NATO und EU haben sich längst für einen unabhängigen Kosovo entschieden.

Der Weg zur Unabhängigkeit

Nachdem sich die serbischen Armee und Polizeikräfte 1999 aus dem Kosovo zurückgezogen hatten, wurde das Gebiet faktisch zu einem UN-Protektorat. Die unter NATO-Führung stehende KFOR sollte für Sicherheit und Ordnung, die von der UNO eingesetzte UNMIK für eine funktionierende Zivilverwaltung sorgen. Jahrelang galt dabei die Formel «Standards vor Status», mit der signalisiert werden sollte, dass über eine allfällige Unabhängigkeit des Kosovo erst verhandelt werden würde, wenn sich die Lage stabilisiert und grundlegende Bedingungen für ein friedliches Zusammenleben zwischen Serben und Kosovaren erfüllt sind. Nach Gewaltausbrüchen im März 2004 verabschiedete sich die UNO jedoch von dieser Vorgehensweise. Der damalige UN-Generalsekretär Kofi Annan beauftragte Martti Ahtisaari mit Belgrad und Pristina Verhandlungen über den künftigen Status Kosovos zu führen. Sei keine Einigung zu erreichen, solle er dem UN-Sicherheitsrat einen eigenen Lösungsvorschlag präsentieren. Wenig überraschend gelang es Ahtisaari nicht, die zwei diametral entgegengesetzten Positionen zu vereinbaren. Während die albanische Seite auf ihre Unabhängigkeit bestand, beharrte die serbische Seite darauf, dass der Kosovo eine Provinz Serbiens bleibt.

Im März 2007 legte Martti Ahtisaari deshalb dem UN-Sicherheitsrat seinen Vorschlag vor. Dieser schloss aus, dass Kosovo wieder als Teilprovinz in den serbischen Staat integriert werden könnte. Stattdessen wurde für den Kosovo eine Unabhängigkeit mit Auflagen vorgeschlagen. Die Auflagen betreffen insbesondere den Schutz der serbischen Minderheit im Kosovo, sowie die internationale Überwachung des neuen Staates. Kosovo solle jedoch eine eigene Verfassung, Armee, Fahne und Hymne erhalten, also alle Attribute eines unabhängigen Staates. Auch ein späterer UN-Beitritt wurde dem Kosovo in Aussicht gestellt. Die Unterstützung des Ahtisaari-Planes durch den Sicherheitsrat scheiterte dann allerdings am Veto Russlands, das sich einmal mehr hinter seinen Verbündeten Serbien stellte. So betraute der UN-Sicherheitsrat wiederum die Kontaktgruppe mit weiteren Verhandlungen über den künftigen Status des Kosovo. Das Verhandlungsmandat lief am 10. Dezember 2007 ohne zählbares Resultat aus. Seither wird nach Wegen und Mitteln gesucht, die Unabhängigkeit Kosovos gegen den Willen Serbiens und Russlands durchzudrücken. Die Unabhängigkeitserklärung (und ihre Anerkennung durch die EU und weitere Staaten) scheint bloss noch eine Frage der Zeit.

Die völkerrechtliche Bedeutung

Eine Unabhängigkeit Kosovos muss unweigerlich auch zu einer Neubeurteilung der Völkerrechtsmässigkeit der NATO-Intervention von 1999 führen. Es lassen sich zwei Varianten rekonstruieren, anhand derer damals versucht wurde, die NATO-Intervention als völkerrechtskonform erscheinen zu lassen. Beide werden durch die Unabhängigkeit Kosovos endgültig delegitimiert.

Einige namhafte, insbesondere amerikanische, Völkerrechtler bauten ihre Argumentation auf einer besonders spitzfindigen Auslegung des Gewaltverbotes in der UN-Charta auf. Dort heisst es in Artikel 2(4): «Alle Mitglieder unterlassen in ihren internationalen Beziehungen jede gegen die territoriale Unversehrtheit oder die politische Unabhängigkeit eines Staates gerichtete oder sonst mit den Zielen der Vereinten Nationen unvereinbare Androhung oder Anwendung von Gewalt.» Hierzu wurde argumentiert, dass die NATO weder die politische Unabhängigkeit Serbiens angreife, noch einen Teil seines Territoriums abtrennen oder selber erobern werde. Die NATO-Intervention sei nur darauf ausgerichtet die Menschenrechtsverletzungen im Kosovo zu stoppen, falle also nicht unter das Gewaltverbot der UN-Charta. Mit der Unabhängigkeit Kosovos wäre definitiv: diese Argumentation ist nicht haltbar. Die NATO-Intervention hat offensichtlich die territoriale Integrität Serbiens nicht bewahrt und somit gegen die UN-Charta verstossen.

Eine zweite Variante, um die NATO-Intervention völkerrechtlich unbedenklich zu erklären, war der Hinweis auf die UN-Sicherheitsrat-Resolution 1244. Dabei wurde eingestanden, dass die NATO-Intervention ohne Mandat des Sicherheitsrates zwar verfahrenstechnisch nicht ganz sauber war, allerdings hätte der UN-Sicherheitsrat mit der Resolution 1244 dem Einsatz nachträglich seinen Segen erteilt. Somit sei dieser nicht als Völkerrechtsbruch zu werten. Dieser Argumentationslinie schloss sich unter anderem die Schweiz an, um ihre Teilnahme an der KFOR als völkerrechtlich unbedenklich darzustellen. Der Haken dabei: in der Resolution 1244 steht ausdrücklich, dass die territoriale Unversehrtheit der Bundesrepublik Jugoslawien zu wahren sei. Die Unabhängigkeit Kosovos ist also ein klarer Bruch genau der Sicherheitsrats-Resolution, welche der Schweiz als Deckmäntelchen für die rechtliche Unbedenklichkeit ihres Einsatzes diente (siehe hier). Wenn die Resolution 1244 gebrochen wird, kann diese auch nicht mehr als Legitimation für die NATO-Intervention beigezogen werden.

Zusammenfassend lässt sich sagen: im Falle einer Unabhängigkeit Kosovos kann niemand mehr ernsten Willens behaupten, die NATO-Intervention sei völkerrechtskonform gewesen. Und mit der Anerkennung Kosovos als souveränem Staat würde gleich der nächste Völkerrechtsbruch begangen: die Verletzung der Resolution 1244.

Der politische Präzedenzfall

Richtete die völkerrechtliche Beurteilung ihren Blick hauptsächlich in die Vergangenheit, so muss die politische Beurteilung vor allem den Vorbildscharakter für die Zukunft ins Auge fassen. Die NATO-Intervention im Kosovo galt als epochen- und paradigmenbildend. Die Befürworter der NATO-Intervention sahen dadurch einem neuen Zeitalter zum Durchbruch verholfen: demjenigen der militärischen Durchsetzung der universellen Menschenrechte. Der Fall Kosovo ist auch paradigmenbildend hinsichtlich der wahrscheinlichen Unabhängigkeitserklärung und er zeigt exemplarisch das naive Scheitern der humanitären Interventionisten. Denn eine Unabhängigkeit Kosovos könnte sich verheerend auf die internationale Ordnung und die weitere Entwicklung des Völkerrechts auswirken.

Denn der Kosovo ist kein Einzelfall. Weltweit gibt es mehrere solcher festgefahrener Situationen, in denen sich eine Teilregion eines Staates für unabhängig erklärt hat, ihre Unabhängigkeit aufgrund einer ethnischen Besonderheit begründet und es immer wieder zu Gewaltausbrüchen kommt. Als Beispiel sei hier Südossetien genannt, das sich in ähnlicher Weise von Georgien lösen möchte, wie der Kosovo von Serbien.

Eine Anerkennung der Souveränität Kosovos würde das Signal aussenden, dass die internationale Gemeinschaft gewalttätige Sezessionsbemühungen unterstützt. Man könnte damit rechnen, dass in weiteren Weltregionen Unabhängigkeitsbewegungen ihren Kampf eskalieren lassen, um sich von einer unbeliebten Zentralregierung loslösen zu können. Statt einer gemeinsamen Suche nach Lösungen für eine gemeinsame Zukunft werden die Grenzen nach neuen, ethnischen Kriterien gezogen.

Natürlich ist nicht jede Unabhängigkeitsbewegung per se schlecht, allzu geläufig ist die Geschichte der Unterdrückung innerhalb von Staaten, deren Grenzen auf dem kolonialen Reissbrett gezogen wurden. Bedenklich ist allerdings das Signal, dass militarisierte Unabhängigkeitsbewegungen sich die Unterstützung der NATO erschleichen, Verhandlungen und Dialog mit der Gegenseite blockieren und letztlich ihr Ziel der Gebietsablösung durchsetzen können. Eine kleine Gruppe von Militarisierten und lokalen Mafiafürsten wird somit in die Lage versetzt über die politische Zukunft einer ganzen Region zu entscheiden.

Gerade in Staaten mit schwachen offiziellen Strukturen und grossen Entfernungen zwischen Hauptstadt und Provinzen ist der Einfluss mafiöser Organisationen auf regionaler Ebene immens. Das Beispiel Kosovo/UCK zeigt exemplarisch wie sich eine regionale Mafia unter dem Deckmantel einer Unabhängigkeitsbewegung militarisieren kann und ihren Kampf gegen die Zentralregierung dann unter nationalistischer Flagge führt. Dass heute die Unabhängigkeit Kosovos als einziger möglicher Ausweg aus der festgefahrenen Situation gilt, zeigt aber auch, dass die humanitären Interventionisten mit ihrer diffusen Motivlage alles andere als ein zukunftsprägender Akteur im weltpolitischen Gefüge sind.