Der kleine Bruder der Wehrpflicht?

Erst seit 1996 gibt es in der Schweiz einen zivilen Ersatzdienst für Personen, die keinen Militärdienst leisten wollen. Dieser wurde über Jahrzehnte mühsam erstritten. Seit der Abschaffung der Gewissensprüfung im vergangenen Jahr fordern die Bürgerlichen wieder einen verschärften Zugang. Die einzige angemessene Reaktion auf diese Attacke gegen den Zivildienst ist die Aufhebung der Wehrpflicht.

Erst mit der Verfassungsrevision 1874 wurde eine unmittelbare Militärdienstpflicht geschaffen. Dass es vermehrt zu offenen Konflikten zwischen Staat und Bürger in dieser Frage kommen würde, war damit vorprogrammiert. In der Folge des Genfer Generalstreikes und einer steigenden Anzahl von Verweigerungen wurde 1903 beim Bundesrat eine erste Petition mit der Forderung nach einem Ersatzdienst für Militärdienstverweigerer aus Gewissensgründen eingereicht.

Dienstverweigerung als Tatbestand

Am Ende der 1910er und zu Beginn der 20er Jahre folgte eine ganze Reihe unkoordinierter Vorstösse für einen Zivildienst, von denen jedoch keiner zu Verbesserungen führte. Im Gegenteil: 1927 wurde im Militärstrafgesetz eine selbständige Bestimmung über Dienstverweigerung verankert. Die Regel war, dass Dienstverweigerer für jedes nicht befolgte Aufgebot mit Gefängnis von maximal sechs Monaten bestraft wurden und zudem ihr Stimm- und ihr passives Wahlrecht verloren. Aus einem Vorstoss für einen Zivildienst resultierte 1950 eine mildere Bestrafung für Verweigerer aus religiösen Gründen. Das politische Los der Militärdienstverweigerer hing in dieser Zeit eng mit dem Beginn des Kalten Krieges zusammen, der den Nationalmythos der wehrhaften Volksgemeinschaft einmal mehr aktualisierte.

Ende der 50er Jahre formierte sich der Widerstand gegen die atomare Bewaffnung der Schweiz, der sich auch in der Bedeutung der Militärdienstverweigerung niederschlug. 1963 gründete sich die Schweizerische Sektion der Internationale der Kriegsdienstgegner, 1966 die erste Beratungsstelle für Militärdienstverweigerer. Diverse Vorstösse erreichten 1967, dass Militärdienstverweigerer aus «ethischen» Gründen jenen mit «religiösen» Gründen gleichgestellt wurden. Weitergehende Forderungen wurden mit der Begründung zurückgewiesen, dass diese einer Verfassungsänderung bedürften.

Politisierung der Militärdienstverweigerung

Durch die 68er-Bewegung erlebte die Verweigererfrage eine immense Politisierung. Auch innerhalb der Armee bildete sich mit den Soldatenkomitees eine Gegnerschaft. In dieser Zeit entstand rund um das Gymnasium Münchenstein die Idee einer Verfassungsinitiative für einen Zivildienst. Die sogenannte «Münchensteiner Initiative» wurde 1970 in Form einer allgemeinen Anregung lanciert und 1972 eingereicht. Der Vorschlag des Bundesrates lautete, dass wer aus religiösen oder ethischen Gründen den Militärdienst nicht mit seinem Gewissen vereinbaren könne, einen zivilen Ersatzdienst leisten dürfe. Dieser Vorschlag vermochte vor allem wegen der vorgesehenen Gewissensprüfung auch weite Teile der ZivildienstbefürworterInnen nicht zu befriedigen und wurde in der Volksabstimmung 1977 mit über 60 Prozent abgelehnt. Noch vor der Abstimmung wurde eine neue Initiative «Für einen echten Zivildienst auf der Grundlage des Tatbeweises» lanciert und 1979 eingereicht.

Die in den 80er Jahren erstarkte Friedensbewegung machte Mut und Hoffnung auf einen positiven Abstimmungsausgang. Die Initiative wurde aber mit 64 Prozent abgelehnt. Von den zahlreichen Vorstössen, die beim Bundesrat in der Folge eingingen, wurden diejenigen vor angetrieben, die eine Revision des Militärstrafgesetzes mit sich brachten. So die «Barras-Reform», benannt nach dem Leiter der Studienkommission, die für einen Teil der Verweigerer eine Arbeitsdienstleistung anstelle einer Gefängnisstrafe vorsah.

Einführung eines zivilen Ersatzdienstes

Kurz nach der Armeeabschaffungsinitiative – 1989 stimmten 35.6 Prozent für die GSoA-Initiative – wurde im Parlament ein neuer Vorstoss für einen Zivildienst eingereicht. Daraus resultierte der Vorschlag «Jeder Schweizer ist wehrpflichtig. Das Gesetz sieht einen zivilen Ersatzdienst vor», der 1992 mit 82.5 Prozent angenommen und 1996 in Kraft trat. Zwei Hürden für Zivildienstwillige wurden festgehalten: Die Darlegung eines Gewissenskonfliktes und eine längere Dauer gegenüber dem Militärdienst. Die Abschaffung der ersten Hürde, die Gewissensprüfung, konnte erst im April 2009 durchgesetzt werden. Seither haben die Zivildienstgesuche von knapp zweitausend Gesuchen im Jahr 2008 auf 7200 im Jahr 2009 zugenommen. Aus Angst vor Unterbeständen der Armee möchten bürgerliche Politiker den Zugang zum Zivildienst bereits wieder erschweren. Die einzige angemessene Reaktion auf die Attacke gegen den Zivildienst ist die Aufhebung der Wehrpflicht. Nicht der Zivildienst ist das Problem, sondern die tiefe Krise der militärischen Wehrpflicht und der Armee überhaupt.