Zwischen Sozialromantik und real existierendem Kapitalismus

Die GSoA-Initiative «Ja zur Aufhebung der Wehrpflicht!» löst eine Vielzahl von Diskussionen aus. Nicht nur Sinn und Ausgestaltung der Armee sind Gegenstand dieser Debatten, sondern auch generelle Fragen rund um Bürger(innen)pflichten oder einen Dienst an der Gemeinschaft. Sowohl bei BefürworterInnen als auch GegnerInnen unserer Initiative scheint die Idee der allgemeinen Dienstpflicht Zustimmung zu finden.

Unter der allgemeinen Dienstpflicht verstehen ihre PromotorInnen entweder die Verpflichtung aller Bürger(innen), Militär- oder Zivildienst zu leisten, oder auch ausschliesslich die Verpflichtung zum Dienst an der Gemeinschaft im Rahmen von sozialer Arbeit. Die möglichen Modelle sind vielfältig und unterscheiden sich beispielsweise in der Auswahl der Dienstpflichtigen: Von einer Dienstpflicht für die gesamte Bevölkerung, also Frauen, Männer und AusländerInnen (die Idee von FDP-Unternehmer Peter Weigelt) bis zum Zwang nur für Männer scheint alles denkbar.

Sympathische Idee?

Die Beweggründe für die allgemeine Dienstpflicht wir ken sympathisch: In Zeiten der zunehmenden Individualisierung müsse die Verantwortung jedes Einzelnen für das Gemeinwohl gefördert werden, Solidarität und Zusammenhalt sind vielgehörte Stichworte. Klingt schön. Doch geht es hier wirklich um eine gesellschaftspolitische Perspektive? Ist Zwang zur Solidarität noch Solidarität?

Es mag eine Tatsache sein, dass es in unserer Gesellschaft an Solidarität und Verantwortung für die Gemeinschaft mangelt. Doch diese Probleme haben nichts mit der Wehrpflicht zu tun: Die zunehmende Prekarisierung der Arbeitsbedingungen, das gezielte Schüren von Fremdenfeindlichkeit, die wiederholten Angriffe auf unsere Sozialwerke und die neoliberale Ausgestaltung der Wirtschaft sind Gründe für das Auseinanderdriften der Gesellschaft. Gerade diejenigen, die für die allgemeine Wehrpflicht einstehen, vertreten eine solche solidaritätsfeindliche Politik – vor allem PolitikerInnen aus CVP oder FDP, die den kürzlichen Angriff auf die Arbeitslosenversicherung oder Asylgesetzverschärfungen mittragen.

Unmotivierte Zwangsdienstleistende

Die allgemeine Dienstpflicht würde dazu führen, dass zehntausende von jungen Menschen jedes Jahr in einem Arbeitsbereich ihren Dienst verrichten müssten, für den sie nicht qualifiziert sind. Tausende von teils unmotivierten Zwangsdienstleistenden würden so in Alters- und Pflegeheime, Sonderschulheime oder Spitäler integriert werden müssen. Einerseits führt dies zur Verdrängung von ausgebildetem Personal durch billigere Zwangsdienstleistende. Lohndumping, Arbeitslosigkeit und mangelnde Qualität wären die Folgen. Dies kann als volkswirtschaftlicher Blödsinn bezeichnet werden.

Aber anderseits wäre es auch ein gesellschaftspolitischer Rückschritt: Nach jahrelangen Kämpfen für die Anerkennung von sozialer oder pflegerischer Arbeit würde mit dem Einsatz von Zwangsdienstlern im Sozialbereich wieder davon ausgegangen, dass ja jeder «ein bisschen mit Behinderten spielen» oder «mit den alten Grosis reden» könne. Das bringt kaum mehr Solidarität – im Gegenteil.

Verstoss gegen die Menschenrechte

Hinzu kommt die rechtliche Situation: Artikel 4 der Europäischen Menschenrechtskonvention EMRK sowie Artikel 8 des Uno-Pakts II zu den bürgerlichen und politischen Rechten verbieten Zwangsarbeit. Ausgenommen sind einzig der Militärdienst sowie Dienst bei Notstand und Katastrophen. Eine allgemeine Dienstpflicht im Sozialbereich ist nicht vereinbar mit den Menschenrechten.

Zusammenfassend muss, wer sich etwas vertiefter mit den Auswirkungen einer allgemeinen Dienstpflicht auseinandersetzt, zum Schluss kommen, dass die sympathische Idee sehr unsympathische Folgen hat – und dass sich Zwang und Solidarität nicht vereinen lassen. Denn Solidarität kann nicht erzwungen werden. Deshalb: Schaffen wir die Wehrpflicht ab und setzen wir die frei werdenden Ressourcen für eine wahre Politik der Solidarität ein: Zivile Friedensförderung, Entwicklungszusammenarbeit und ein starkes Sozialwesen.