Wie sich die Schweiz (ent-)militarisiert

Die gesellschaftliche Bedeutung der Armee ist seit dem Ende des Kalten Krieges am Sinken. Bis in die Achtziger Jahre sprach man noch von «Totaler Landesverteidigung», heute beklagt sich selbst die Wirtschaft über die Wehrpflicht.

Vor vier Jahren hielten in der Schweiz noch 61 Prozent der Befragten die Schweizer Armee für notwendig. Das geht aus dem Sicherheitsbericht 2007 der ETH Zürich hervor. Die Armee stehe nicht mehr im Zentrum der Gesellschaft, folgerte Autor Karl Haltiner. Anders äusserte sich der Bundesrat noch im Frühling 1988. Er erinnerte in seiner Botschaft gegen die Initiative zur Abschaffung der Armee daran, wie der Ausspruch «die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine Armee» im Ausland immer wieder Bewunderung auslöse und die Verbundenheit von Volk und Armee dokumentiere. Um die militärische Denkweise zu stärken, entstand schon in den Sechzigerjahren die «Konzeption der Gesamtverteidigung». Diese blieb laut Historiker Bernhard Degen tief im Denken des Zweiten Weltkrieges verhaftet. Wir seien alle im totalen Krieg, berichtete ETH-Professor Karl Schmid anno 1960. Der Umstand, dass der Krieg nur an kleinen Fronten aufflackere, sei kein Indiz für Friede. Denn der Osten wolle uns nur im Glauben trügerischer Sicherheit einlullen. Der verdeckte Krieg verlange jedoch ein totales militärisches Denken, das auch die wirtschaftliche und psychologische Front einbeziehe. Dem totalen Krieg sei die totale Landesverteidigung entgegen zu halten.

Die totale Landesverteidigung

Ende 1964 liess der Bundesrat den abtretenden Generalstabchef Jakob Annasohn prüfen, wie sich die totale Landesverteidigung herbeiführen und koordinieren lasse. Annasohn verwies in seinem Bericht auf das Potenzial der Massenvernichtungswaffen und regte an, mehr auf die politische, wirtschaftliche, psychologische, elektronische und subversive Ebene auszuweichen. Der totale Krieg müsse die Zivilbevölkerung und das ganze Land einbeziehen. Wichtig seien der Staatsschutz, die psychologische Landesverteidigung, das Informationswesen, die soziale Sicherung sowie zentrale Verwaltungsaufgaben.

Bernard Degen führt als Beispiel der Hysterie das Zivilverteidigungsbuch an, das Oberst Albert Bachmann und Georges Grosjean, von Professoren unterstützt, verfassten. Im Impressum des Handbuches finden sich ebenfalls pro mi nente Sozialdemokraten sowie die Präsidenten des Schweizerischen Schriftsteller-Verbandes und des Schweizerischen Gewerkschaftsbundes.

Sämtliche Haushalte erhielten das Buch, das darstellt, wie der Friede den Krieg tarne. Wachsam gelte es Intellektuelle und all jene ins Visier zu nehmen, welche die Wehrkraft schwächen. Die Fichierung bestimmter Personen wurde massiv ausgebaut. Die Initiative «Für eine Schweiz ohne Armee» setzte sich in diesem Klima dem Vorwurf des Landesverrats aus.

Die Entmilitarisierung beginnt

Nachhaltig wirkte laut Bernard Degen für das Entmilitarisieren das Aufarbeiten der schweizerischen Neutralitätspolitik während dem Zweiten Weltkrieg und die Internationalisierung der Wirtschaft. Sie schuf Distanz zur militärischen Elite. Im Zivilleben überlagerten Werte wie individuelle Entfaltung, Autonomie und Mitbestimmung die militärische Disziplin. Unternehmen monierten das Verschwenden menschlicher Ressourcen in der Armee und im bürokratisierten Zivilschutz. 1998 hob der Bundesrat die Zentralstelle für Gesamtverteidigung auf. Am Ende des Kalten Krieges zählte die Armee noch 800‘000 Soldaten, heute 200‘000. Die Schweiz soll nun mehr für die soziale Sicherheit und den Frieden tun. Ein wirksamer Ansatz besteht darin, soziale Gegen sätze bei den Löhnen und Vermögen abzubauen, die viele Menschen verunsichern und dazu veranlassen, Halt in autoritären und populistischen Strömungen zu suchen.

Ueli Mäder ist Professor für Soziologie an der Universität Basel und der Hochschule für Soziale Arbeit. Er leitet das Institut für Soziologie und das Nachdiplomstudium in Konfliktanalysen und Konfliktbewältigung.