Von Bedrohungslagen und Militärstrategien

Ein kürzlich veröffentlichtes Diskussionspapier der neoliberalen Stiftung Avenir Suisse beleuchtet die sicherheitspolitische Debatte in der Schweiz. Die Quintessenz: Im Prinzip wäre es höchste Zeit, über die reale geopolitische Bedrohungssituation zu diskutieren. Aber niemand traut sich wirklich

Avenir Suisse hatte zwei bürgerliche Meinungsführer um Essays zum aktuellen Stand der Schweizer Sicherheitspolitik gebeten. Die beiden Texte stehen stellvertretend für unterschiedliche Niveaus der Debatte. Auf der einen Seite steht Daniel Heller. Der Aargauer FDP-Kantonsrat verdient seinen Lebensunterhalt als Atom- und Rüstungslobbyist bei der PR-Agentur Farner. (Diese Firma versuchte vor zwei Jahren im Abstimmungskampf um die Waffenexportinitiative, mittels eines Spitzels die GSoA auszuspionieren, flog dabei jedoch auf.) Seinem Essay merkt man an, dass Heller normalerweise oberflächliche Powerpoint-Präsentationen für seine Kundschaft entwirft. Inhaltlich leistet er sich einige Fantastereien. Als Antwort auf die Proliferation von Massenvernichtungswaffen sieht er beispielsweise die Beibehaltung der Schutzraumpflicht für alle Schweizer Wohnbauten.

Sehr viel spannender liest sich der Beitrag von Bruno Lezzi, dem ehemaligen Militärkorrespondenten der Neuen Zürcher Zeitung. Sein Rückblick auf die Zeit des Kalten Krieges ist sehr kritisch. Lezzi ortet im Denken jener Zeit einen guten Teil der Ursache für die derzeitige sicherheitspolitische Stagnation. Er beschreibt, wie das «Räderwerk der Gesamtverteidigung» zwar immer weiter verfeinert wurde, dass man «das politische und militärische Umfeld dennoch unter einem stark verengten und fast ausschliesslich auf die eigenen waffentechnischen Möglichkeiten eingestellten Blickwinkel» wahrnahm. Mit anderen Worten: Die Schweiz bereitete sich minutiös auf die Abwehr einer feindlichen Panzerarmee aus dem Osten vor. Dabei übersah man jedoch, dass diese Fähigkeit angesichts der politisch-strategischen Bedrohung durch interkontinentale und taktische Nuklearwaffen und den Luftkriegskapazitäten eines potentiellen Feindes nur von sehr beschränkter Relevanz war.

Irrelevante Armee

Damit wir nicht wieder einer solchen strategischen Fehlkonzeption aufsitzen, fordert Lezzi, dass die geänderte Bedrohungslage seit dem Ende des Kalten Krieges zu einem Neudenken in der Sicherheitspolitik führen müsse. Die Aufgaben der Armee müssten ihre Strukturen bestimmen, nicht umgekehrt. Lezzi listet verschiedene mögliche Bedrohungen auf: Einen konventionellen Verteidigungsfall schliesst er in den kommenden Jahrzehnten aus. Zwar geht Lezzi im Detail auf die geänderten taktischen und operativen Herausforderungen für Armeen ein, die in Ländern wie Afghanistan oder Irak gegen einen unfassbaren, aber hoch motivierten Gegner kämpfen, der sich unter die Zivilbevölkerung mischt. Zu Recht merkt Lezzi dann jedoch an, dass dieses Szenario für die Schweizer Armee keine reale Bedeutung hat. Er stellt auch fest, dass die Polizei gegen terroristische Bedrohungen besser geeignet als die Armee ist. Dass auf absehbare Zeit Auslandeinsätze in der Schweizer Sicherheitspolitik nur einen untergeordneten Stellenwert haben werden, ist dem ehemaligen NZZ-Journalisten ebenfalls klar. Für Lezzi ist es denkbar, dass durch den Aufbau zusätzlicher Polizeireserven die heutigen subsidiären Leistungen der Armee im Innern nicht mehr benötigt würden. Ähnliches gilt für den Katastrophenschutz, falls neue regionale Stützpunkte eines professionalisierten Zivilschutzes geschaffen würden.

Lezzi bemerkt, dass in einem solchen Fall die Bedrohungslage die Kosten der Armee nicht mehr rechtfertigen würden, dass die Armee mithin irrelevant würde. Diese Erkenntnis ist in der GSoA schon seit Jahren gereift. Während für uns zumindest das Ende der übertriebenen Armeebestände und damit der Wehrpflicht nur eine logische Konsequenz dieser Analyse sind, ist es Lezzi – immerhin früherer Generalstabsoberst – bei dieser Vorstellung noch zu mulmig. Er plädiert deshalb dafür, der Armee zusätzliche Aufgaben im Innern zuzuweisen, sowie die Zusammenarbeit mit Nato und EU-Armee auszuweiten. Für die GSoA jedoch ist klar: Es kann nicht das Ziel der Sicherheitspolitik sein, die Legitimation der Armee unter allen Umständen zu bewahren. Stattdessen gilt es, sich für die realistischen Bedrohungen der Zukunft zu wappnen, und das sind Klimakatastrophe, soziale Ungerechtigkeit und Ressourcenknappheit – und diese Gefahren kann keine Armee bekämpfen.