Die Wehrpflicht im ethnologischen Vergleich

«Im Militär wird man zum Mann.» «Im Militär lernt man Wichtiges fürs Leben.» Es sind Argumente, die man als absurd bezeichnen und am liebsten ignorieren möchte. Vergleicht man aber die Wehrpflicht mit Übergangsriten anderer Volksgruppen, so wird die Bedeutung dieser Argumente klar.

Während der erstmals damit Konfrontierte noch mit sachlichen Argumenten gegen Sprüche wie «Im Militär wird man zum Mann» anzutreten versucht, bleibt dem Erfahrenen meist nur noch ein müdes Kopfschütteln übrig. Spätestens nach dem zehnten Mal möchte man dieses absurd erscheinende Argument nur noch ignorieren. In der Sendung «Club Extra» des SF vom 28.September 2011 wurde über die Wehrpflicht diskutiert. Es wurde deutlich, dass selbst die sachlicheren Wehrpflichtbefürworter diese Argumente nicht ernstnehmen. Es ist auch zu erwarten, dass diese Argumente im bevorstehenden Abstimmungskampf auf der beleuchteten Politbühne keine wichtige Rolle einnehmen werden. Fernab dieses offiziellen Schauplatzes jedoch wird sich ein völlig anderer Diskurs abspielen, und dort werden diese Argumente tragend sein. Denn betrachtet man die Wehrpflicht aus ethnologischer Perspektive, so wird klar, weshalb die Wehrpflicht so tief in unserer Gesellschaft verwurzelt ist. Versteht man die Wehrpflicht als Übergangsritual, von dem Anthropologen J.S. La Fontaine als «Maturity Rite» bezeichnet – also als ein Ritual, das den Übertritt ins Erwachsenenleben kennzeichnet – dann erhalten diese Sprüche einen anderen Kontext. Ein Vergleich mit den Bewohnern der Wogeo-Insel an der nördlichen Küste Neuguineas ist beispielhaft:
Bei den Wogeo werden junge Männer in einen geheimen Bund initiiert, in dem sie das Flötenspiel erlernen. Die Aufnahme in den Geheimbund und das Erlernen des Flötenpiels ist obligatorisch und nur für junge Männer vorgesehen. So sagen die Wogeo: «Die Männer spielen Flöte, die Frauen gebären Kinder.» Analog dazu hörte man auf der Strasse beim Sammeln für die Aufhebung der Wehrpflicht immer wieder den Satz: «Die Männer gehen ins Militär, Frauen gebären schliesslich Kinder.» Laut J.S. La Fontaine geht es darum, eine klare Aufteilung gesellschaftlicher Sphären zu gewährleisten: Die Frauen sind zuständig für das Gebären von Kindern und die Männer für die Stabilisierung sozialer Ordnung – bei den Wogeo durch das Vertreiben von Geistern mittels Flötenspiel, in der Schweiz durch das Vertreiben von Geistern mittels militärischer Ausbildung.

Trennung als Teil des Übergangsrituals
In beiden Fällen, sowohl in der Rekrutenschule wie auch bei den Wogeo, durchlaufen die jungen Männer – die Novizen – ein über längere Zeit andauerndes Stadium, das als Übergangsritual fungiert und den Übertritt ins Erwachsenenleben kennzeichnet. Ein generelles und wichtiges Merkmal solcher Übergangsritual-Stadien ist gemäss dem Ethnologen Arnold Van Gennep die Trennung: «Der erste Akt besteht in der Trennung des Novizen von seiner früheren, gewohnten Umgebung, der Welt der Frauen und Kinder. […] Seine Beziehung zur Mutter wird abrupt abgebrochen, und von da an gehört er zur Gruppe der Männer.»
Das ist bei den Wogeo klar der Fall, wie J.S. La Fontaine zeigt. Denn sie glauben, dass Jungen nur zu Männern werden, wenn sie vom kontaminierenden Einfluss ihrer Mütter getrennt werden. Die Trennung ist ganz klar auch ein Teil der Rekrutenschule. Dass die jungen Schweizer aus ihrem Umfeld gerissen werden, was im Bezug auf die Wehrpflicht manchmal kritisiert wird, ist ebenfalls ein Bestandteil des Übergangsrituals.
In einem länger andauernden Stadium durchlaufen die jungen Wogeo schliesslich verschiedene Zeremonien, bei denen sie unter anderem das Flötenspiel erlernen und in den Geheimbund aufgenommen werden. Das Ziel dieser Zeremonien, und des Rituals ganz allgemein, ist sicherzustellen, dass die jungen Wogeo zu Männern werden. Dabei wird, wie La Fontaine beschreibt, das natürliche Wachstum als zu schwach betrachtet, d.h. die Wogeo glauben, ohne die Zeremonien und das Ritual würde das Wachstum fehlschlagen und die Jungen würden nicht zu richtigen Männern. Analog dazu durchlaufen die jungen Schweizer die Rekrutenschule, ohne die sie – so hörte man es auf der Strasse beim Sammeln immer wieder – nicht zu richtigen Männern würden. Und wie die jungen Wogeo das Flötenspiel, erlernen auch die jungen Schweizer in der RS – auch dies wurde einem beim Sammeln immer wieder versichert – ähnlich wichtige Fähigkeiten, die für das Bestehen in unserer Gesellschaft notwendig sind.

Ehrenkleid, Kultgegenstände, Leidensfähigkeit: Zeichen der Mannwerdung
In der Schlussphase des Übergangsrituals erhalten die zu Männern gewordenen Wogeo die Erlaubnis, den traditionellen Kopfschmuck zu tragen, als Zeichen, dass sie ins Erwachsenenleben übergetreten sind. Gleichermassen erhalten auch die zu richtigen Männern gewordenen Schweizer Uniformen, die das Eintreten ins Erwachsenenleben markieren. Noch bemerkenswerter ist eine Parallele zwischen den jungen Schweizern und den Novizen von Totemgruppen: Erfahren die Jungen dort bei Aufnahme in die Gruppe das Privileg, mit gewissen Kultgegenständen in Kontakt zu kommen, so erhalten die jungen Schweizer in der RS das Privileg des Umgangs mit dem Sturmgewehr. Dieses wird zu ihrem persönlichen (Kult-) Gegenstand und zeichnet sie als ganze und erwachsene Mitglieder der Gesellschaft aus.
Dass die Wehrpflicht beziehungsweise die RS für jeden jungen Schweizer unangenehm ist, ist letztendlich eine wichtige Eigenschaft der RS als Übergangsritual. La Fontaine weist darauf hin, dass dem Leiden, das die jungen Wogeo-Novizen durchlaufen, zwar mit Sympathie begegnet wird, dass es jedoch als wichtiger und notwendiger Bestandteil des Rituals gilt. Das Leiden diene dazu Schlimmeres zu vermeiden. Ganz ähnlich hörte man auch beim Unterschriftensammeln immer wieder, dass es den Jungen gut tue, sich auch mal durch etwas Unangenehmes durchbeissen zu müssen. So ist das Aushalten der Strapazen der RS ein fester Teil dieses Rituals, ohne welchen die Jungen in der Gesellschaft – so die weit verbreitete Meinung – nicht bestehen könnten. Ohne diese Strapazen, so die Folgerung dieser Überlegung, kann ein Schweizer Junge nicht ins Erwachsenenleben übertreten. Wie es J.S. La Fontaine für die Wogeo so prägnant formulierte: « […] for without learning the flutes no Wogeo boy could hope to be a man.»

Tradition, Identität, Emotionen
Von dieser Warte aus betrachtet ist ganz klar, dass die Diskussion über die Initiative «Ja zur Aufhebung der Wehrpflicht» weit mehr ist als eine sicherheitspolitische: Es ist eine durch und durch gesellschaftliche. So ist auch verständlich, warum die Debatte so emotional wird und warum wir die oben genannten Argumente ernstnehmen müssen. Schliesslich würden es die Wogeo kaum akzeptieren, wenn die GSoA das Erlernen des Flötenpiels als freiwillig erklären würde, denn dieses ist ihre Tradition und Teil ihrer Identität. Gleichermassen ist für viele die RS als Übergangsritual Tradition und Teil hiesiger Identität.
Das bedeutet keinesfalls, dass die Wehrpflicht nicht in Frage gestellt werden darf und sollte. In einer schnelllebigen, industrialisierten Gesellschaft, besonders in einer, die sich gerne brüstet, Musterdemokratie zu sein, muss das Infragestellen gegebener Umstände immer möglich sein. Betrachtet man die Wehrpflicht aber aus ethnologischer Perspektive, so sollte klar geworden sein, dass eine Beschränkung auf eine sachliche sicherheitspolitische Diskussion im kommenden Abstimmungskampf nicht möglich sein wird und dass auf die absurd erscheinenden Argumente nun intelligente Antworten gefunden werden müssen. Sonst lässt sich dieser Abstimmungskampf nicht gewinnen.