Fahnenflüchtige und Kriegsdienstverweigerer – Ganz normale Soldaten?

Wie in der letzten Ausgabe («Deserteure sind Helden» GSoA-Zitig Nr. 159) angekündigt, soll der vorliegende Artikel den Fällen der Kriegsdienstverweigerung von 1914-1918 nachgehen.

Die Schweizer Militärjustiz urteilte während des Ersten Weltkriegs in etwa 21‘000 Fällen. Eine kurze Recherche im Bundesarchiv ergab, dass dabei etwa 2‘600 Soldaten wegen Ausreisen, Dienstverweigerung oder Nichteinrücken angeklagt wurden.

Das Militärstrafgesetz, welches während des Ersten Weltkriegs zur Anwendung kam, stammte aus dem Jahre 1851. Das Gesetz wurde erst nach dem Krieg revidiert. Nötig wurde die Revision, weil selbst der Bundesrat in der Botschaft 1918 zum Gesetzesentwurf festhielt, dass vor allem die «ungeheuerlich hohen Strafminima […]eine gerechte und vernünftige Rechtsprechung» verhinderten. Das Militärstrafgesetz von 1851 machte keine Unterscheidung zwischen Deserteuren oder Fahnenflüchtigen und Dienstverweigerern. Das Bundesgesetz hält im fünften Teil «Von dem Ausreissen und Falschwerben » unter Art. 97 fest, dass der Militärdienstpflichtige, der sich seinem Dienst nicht stelle, «gleich einem Ausreisser» nach Art. 93 bestraft werde.

Wer waren die Deserteure?
Obwohl ich nur stichprobenartig Akten der Militärjustiz sichten konnte, zeigt sich, dass die Motive der Kriegsdienstverweigerer und Fahnenflüchtigen sehr breit gefächert waren und nicht immer eindeutig aus den Akten ersichtlich werden. Vorläufig würde ich die Verurteilten in drei Kategorien einteilen. Erstens in die der «Auslandschweizer», zweitens in jene der persönlich oder wirtschaftlich Verhinderten und als drittes in jene, die aus Überzeugung, also aus politischen oder religiösen Gründen verweigerten.
Berlin, Paris oder London
Zur ersten Kategorie gehören für mich die über 12‘000 Soldaten, die sich im August 1914 im Ausland aufhielten. Diese wurden in Abwesenheit verurteilt. Viele von ihnen waren schon sehr früh aus der Schweiz ausgewandert, aber von der Militärverwaltung nicht ausgemustert worden. Es gibt sogar jenen absurden Fall des Schmid Clemens, der wegen Dienstverweigerung zu 6 Monaten Haft und zwei Jahren Einstellung des aktiven Bürgerrechts verurteilt worden war. Dies wegen Nichtbefolgen des Mobilmachungsbefehls, obwohl er bereits vor 1914 vier Wiederholungskurse (1900, 02, 04 und 10) versäumt hatte, sowie Schiessübungen, Inspektionen und Organisationsmusterungen verpasst hatte. Dies fiel dem Militärdepartement erst bei der Untersuchung auf, Schmid konnte wegen der Verjährung aber nicht straf- rechtlich verfolgt werden. Die Verurteilungen «in contumaciam» reichen von München, Berlin über Paris bis nach London.

«In der Schweiz nehme man es nicht so streng»
Unter der zweiten Kategorie würde ich jene Soldaten zusammenfassen, die sich aus persönlichen und wirtschaftlichen Gründen vom Dienst entfernten oder ihn gar nicht erst antraten. Dazu zählt etwa Aloys Camenzind, dessen Akte in der letzten GSoA-Zeitung abgedruckt war. Er wurde als Dienstverweigerer verurteilt, weil er 14 Tage zu spät einrückte. Im Verhörprotokoll gibt er an, von der Mobilmachung erst so spät erfahren zu haben, weil er zusammen mit seinem Vater abseits der Zivilisation auf dem Feld gearbeitet hatte. Aus den Akten ist nicht er- sichtlich, ob dies stimmt oder ob ihm das Heu wichtiger war als die Landesverteidigung. Zu dieser Kategorie gehören für mich auch die Soldaten Reusser und Moser, die eine Anstellung bei der Spandauer Strassenbahn in Deutschland fanden und von ihrem bewilligten Auslandurlaub nicht wieder zurückkehrten.

Du sollst nicht Töten!
Zur dritten Kategorie würde ich all jene Soldaten zählen, die offensichtlich aus politischen oder religiösen Gründen den Dienst verweigerten. Allen voran jene Soldaten, die der «Religiös- sozialen Bewegung» nahestanden oder mit ihr sympathisierten. Über diese «Überzeugungstäter» wird in der nächsten Ausgabe mehr zu erfahren sein.

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