Pazifismus in Zeiten von Kobanê

Wie verteidigt man Demokratie und emanzipatorische Werte gegen einen Gegner, der zu jeder Brutalität bereit ist? Die alte Frage erhält durch den syrischen Bürgerkrieg neue Aktualität. Der Versuch einer Antwort.

Im Schatten des Krieges gegen Baschar al-Assad rief Anfangs 2014 die kurdische Partei PYD in der Region Rojava drei autonome Kantone aus. Ihr Ziel: Eine selbstverwaltete und ökologische Wirtschaft sowie Gleichberechtigung der Geschlechter, Nationalitäten und Religionen. Die fundamentalistische Organisation «Islamischer Staat» (IS) eroberte im Laufe des Jahres 2014 grosse Teile Syriens und des Iraks und versuchte unter anderem, einen Genozid an der jesidischen Minderheit zu verüben. Im September griffen der IS auch die autonome Region Rojava an. Die Kämpfe gipfelten in der noch immer anhaltenden Belagerung der Stadt Kobanê. Die Greueltaten und die krude Ideologie des IS bewegen die Menschen auch in der Schweiz. Es ist völlig klar, auf welcher Seite unsere Sympathien stehen. Dass die Gewaltorgie des IS gestoppt werden muss, steht ausser Frage, und natürlich hoffen wir auf den Erfolg des emanzipatorischen Projekts der Menschen in Rojava. Die Frage ist jedoch: Auf welchem Weg ist das zu erreichen?
Militärische Unterstützung?
Die Antwort der westlichen Medien, Regierungen und auch der Öffentlichkeit kam schnell, war eindeutig und ging quer durch alle politischen Lager: Es braucht ein militärisches Eingreifen. Die USA und weitere Verbündete begannen Luftschläge gegen den IS. Insbesondere Deutschland bewaffnet die kurdischen Peschmerga im Irak und bildet sie an modernen Waffen aus. Es gibt viele Gründe, das direkte und indirekte militärische Eingreifen zu kritisieren. Erstens: Die heute gelieferten Waffen werden mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit irgendwann in den Händen von Terroristen landen, sei es weil sie auf dem Schwarzmarkt verkauft oder im Kampf erbeutet werden. Zweitens: Bomben werden nicht zielgenauer, wenn sie mit guter Absicht töten. Die zivilen Opfer der alliierten Drohnen und Kampfjets dienen dem IS zur Rekrutierung neuer Kämpfer. Drittens: Spätestens nach dem dritten Irakkrieg, der Hunderttausende von Toten forderte, ist der Westen kein glaubwürdiger Akteur in dieser Region mehr. Der Erfolg der radikalen Gruppierung ist eine unmittelbare Folge des Kriegs der Regierung Bush – genau wie die Friedensbewegung gewarnt hatte. Viertens: Der Westen hat sich nur wenig für den IS interessiert, solange sich seine Gewalt vor allem gegen andere MuslimInnen richtete. Auch in Saudi-Arabien werden Menschen geköpft und Mädchen versklavt – ohne dass sich die Weltöffentlichkeit darum kümmert. Diese selektive Wahrnehmung von Konflikten schürt das Gefühl, dass der Westen einen Krieg gegen den Islam führe, und gibt dem IS die Möglichkeit, sich als einzigen schlagkräftigen Verteidiger des Glaubens aufzuspielen.
Politische Handlungsfelder
Auch ohne militärisches Eingreifen gäbe es für den Westen genug zu tun. Am dringendsten braucht es humanitäre Hilfe für die Flüchtlinge in der Region. Aber auch politisch gibt es viele Handlungsfelder: Die schnellen Erfolge des IS lassen sich nicht mit seiner militärischen Stärke erklären. Sondern nur dadurch, dass ein signifikanter Anteil der Menschen in Syrien und dem Irak die Herrschaft des IS der bisherigen Regierung vorzieht. Die Regierung Maliki schikanierte im Irak die sunnitische Minderheit systematisch und war nie in der Lage, die Sicherheit und die Grundversorgung mit den wichtigsten Gütern des täglichen Lebens zu gewährleisten. Wenn man dem IS die Unterstützung oder die Duldung durch die lokale Bevölkerung entziehen will, braucht es eine Regierung, welche alle Menschen im Irak vertritt. Dass die USA und der Iran ihren Einfluss nutzen, um auf eine bessere Einbindung aller Menschen im Irak zu drängen, ist ein Fortschritt – auch wenn sie den Prozess viel zu spät in Gang gesetzt haben. Der IS verfügt über beträchtliche finanzielle Ressourcen. Das Geld stammt teilweise von Spenden aus Saudi-Arabien und den Golfstaaten, teilweise aus dem Verkauf von Rohöl. Diese Finanzquellen müssen stillgelegt werden. Genauso muss die stillschweigende Unterstützung des IS durch die Türkei und andere Staaten in der Region aufhören. Stattdessen sollen sie ihr Gewicht nutzen, um die sunnitischen Stämme im Irak von ihrer Kooperation mit dem IS abzubringen. Diese Ansätze helfen jedoch nur langfristig. Die brennende Frage ist jedoch: Was kann man in der jetzigen Situation konkret tun, um Rojava zu beschützen? Würden wir nicht zu den Waffen greifen, wenn wir im kurdischen Teil Syriens wohnten? Auf den T-Shirts der GSoA steht: «If war is the answer, the question must be fucking stupid». Gilt das auch, wenn es um die Verteidigung Kobanês geht?

Ziviler Widerstand

Vielleicht gibt es Situationen, in denen es keine Alternative zu bewaffneter Verteidigung gibt. Bedenklich ist jedoch, wie wenig verbreitet das Wissen über zivile Formen des Widerstands ist, die sich historisch als effektiv erwiesen haben. Es gibt ein breites Arsenal von Aktionsformen der Intervention, der Nicht-Kooperation und der Persuasion, die sich auch im Angesicht von brutaler Gewalt als erfolgreich erwiesen haben. Strategen wie Mahatma Gandhi oder Gene Sharp beschäftigten sich während Jahrzehnten mit der Frage, wie gewaltfreier Widerstand funktionieren kann. Auch wenn diese Ansätze von vielen belächelt werden, lohnt sich die Auseinandersetzung mit ihnen. Immerhin hat Gandhi das britische Empire in die Knie gezwungen und Sharp kann sich rühmen, die methodischen Grundlagen unter anderem für den Sturz von Slobodan Milošević in Serbien und die Wende in der DDR geliefert zu haben. Die Grundidee des zivilen Widerstands ist die Erkenntnis, dass die Macht nicht aus den Gewehrläufen kommt. Die Macht speist sich in erster Linie aus dem Gehorsam und der Kooperation der Beherrschten gegenüber den Machthabern. Das gilt nicht nur für Nationalstaaten, sondern auch für den IS. Wenn man einen Gegner gewaltfrei besiegen will, soll man seine Schwachstellen finden und ihn dort angreifen. Wenn man sich gegen eine Diktatur oder eine Terrorregime auflehnt, ist die militärische Auseinandersetzung hingegen immer die Ebene, auf welcher der Gegner am stärksten ist. Die Liste erfolgreicher Beispiele von Aktionen des zivilen Widerstands ist lang: Offensichtliche Beispiele sind die Aktionen von Solidarność in Polen, die samtene Revolution in der Tschechoslowakei oder die singenden Revolutionen im Baltikum, die das Ende des Sowjet-Kommunismus einläuteten. Was man sich kaum bewusst ist: Selbst Nazi-Deutschland musste immer wieder vor Akten des gewaltfreien Ungehorsams kapitulieren.
Wie stoppt man den IS?
Was heisst das konkret bezüglich dem IS? Was klar ist: Den IS wird man erst dann besiegen, wenn die SunnitInnen im Irak ihn nicht mehr als das kleinere Übel als die Regierung sehen. Darüber hinaus ist es schwierig, aus der Ferne Analysen zu machen, und es ist anmassend, Ratschläge erteilen zu wollen. Dennoch lohnt sich ein Blick auf gewaltfreie Taktiken, mit denen AktivistInnen in der Vergangenheit gegen extrem repressive Regimes ankämpften: Ein zentrales Konzept von Gene Sharp ist das «politische Jiu-Jitsu». Analog der japanischen Kampfkunst soll die Gewalt des Angreifers gegen ihn selbst verwendet werden. Der IS begeht nicht nur brutale Kriegsverbrechen, er inszeniert sie sogar noch medial. Diese menschenverachtende Propaganda hat dem IS zwar auf dem Schlachtfeld geholfen, weil gegnerische Truppen aus Angst flohen. Gleichzeitig lassen sich die Greueltaten jedoch nutzen, um den moralischen Anspruch des IS zu untergraben, ein Staat zu sein, der für die Menschen in seinem Territorium sorgt.
Als weitere gewaltfreie Aktionsformen gegen repressive Regimes nennt Sharp beispielsweise: Das Überladen des Justiz- und Gefängnissystems durch massenhafte (Selbst-)Anzeigen. Das absichtliche Überbeanspruchen der vom Staat zur Verfügung gestellten Dienstleistung. Enthüllen der Identität besonders brutaler Kollaborateure. Verschiedenartige Streiks und andere Arten der wirtschaftlichen Nicht-Kooperation. Massenhafte Emigration. Waffengewalt korrumpiert immer und die Folge von Krieg ist selten Freiheit und Demokratie, aber oft eine Gesellschaft, die auf allen Ebenen von Gewalt geprägt ist. Es lohnt sich deshalb, alle Alternativen zu erwägen.
Ein Beispiel für erfolgreichen zivilen Widerstand gegen Nazi-Deutschland:
Die norwegischen Schulen verweigerten kollektiv, den Lehrplan nach den Wünschen der Nazis anzupassen. Als sich der geschlossene Widerstand der Lehrerschaft und der Bevölkerung auch nicht brechen liess, indem hunderte Lehrer ins KZ geschickt wurden, gaben die Nazis nach.

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