Experimentelle Phase

Seit einigen Jahren überschwemmt der Bundesrat die sicherheitspolitische Diskussion mit neuen Sicherheitsberichten, Armeeleitbildern, Reformprojekten, Verordnungsentwürfen und Gesetzesinitiativen. Das reine Chaos? Nein, es geht um mehr, und es lohnt sich, die Übersicht zu behalten.

Quizfrage: Was haben der Flüchtlingexodus aus Albanien im Sommer 1991, die Riots in Los Angeles vom April 1992, eine fiktive Grosskatastrophe in einem tschechischen Atomkraftwerk vom November 1993, das Treffen von Clinton und Assad vom Januar 1994 in Genf, die Caribinieri-Operation gegen die kalabrische Mafia im darauffolgenden Monat, die vom Blick ausgerufene «Dealerherrschaft» in Zürich im Herbst 1994, ein neu eingerichtetes «Notgefängnis» sowie türkische und französische Reisebüros ebenda, demonstrierende Waadtländer Arbeitslose im Juni 1996 sowie hypothetische Tessiner Sympathisanten der «padanischen Bewegung» im Tessin im vergangenen Oktober miteinander zu tun? Die Antwort ist einfach: All diese Vorkommnisse, Objekte und Bedrohungsbilder haben das EMD und Offiziere der Schweizer Armee zu Planspielen, Truppenübungen oder Einsätzen veranlasst.

Ein neues Übungsfeld

Auch Berufsmilitärs müssen unter Vorurteilen leiden. Phantasielos seien sie, heisst es, unfähig zu Innovationen, bloss sture Befehlsempfänger. Dieses Bild wird dem Umbruch in der Schweizer Armee nicht gerecht. Denn Militaristen sind auch hierzulande bereit, sich den veränderten politischen Rahmenbedingungen anzupassen. Seit bald einem Jahrzehnt experimentieren sie mehr oder weniger erfindungsreich auf einem neuen Übungsfeld – zuerst mit neuen Begriffen, Bildern und Szenarien, dann mit neuen Truppenkörpern, Einsatzplänen, Übungsanlagen, Aufträgen, Reglementen und Waffen und schliesslich mit neuen Gesetzen und Verordnungen. Dieses Übungsfeld heisst gegenwärtig: «Subsidiäre Einsätze der Armee zur Existenzsicherung und Friedensförderung».
Ein Feind, ein Volk, eine Armee – bis Mitte der 80er Jahre gab es über den Auftrag der Armee scheinbar nicht viel zu spekulieren. Das hat sich geändert: viele Bedrohungen, viele Lösungsvorschläge, viele denkbare militärische Beiträge, heisst die Parole heute. Was aber meinen Militärs, wenn sie von Armee-Einsätzen «unterhalb der Kriegsschwelle» reden? Drei thematische Bereiche lassen sich aus der Diskussion herauskristallisieren.
Erstens geht es um Einsatzszenarien, die konzeptionell aus dem klassischen Verteidigungsauftrag herausgelöst und sprachlich «unter die Kriegsschwelle» verlagert wurden. Diese sogenannten «Operativen Sicherungseinsätze», für die es eine Teilmobilmachung braucht, wurden 1994/95 in zwei Reglementen der Schweizer Armee begrifflich zusammengefasst. Im einzelnen geht es um die «Verhinderung von Gewaltausbreitung» in die Schweiz bei internationalen Krisenlagen, um den «Schutz der Alpentransversalen», um die Verhinderung einer sogenannten «operativen Lücke Schweiz» in Zusammenarbeit mit benachbarten Staaten (etwa bei der Luftraumüberwachung), und um den Neutralitätsschutz. Diese Szenarien sind ein Bindeglied zwischen konventioneller Hochrüstung und operativer Neuausrichtung der Schweizer Armee.

«Friedensförderung» und …

Zweitens sind die Bemühungen im Bereich «Friedensfördernde Einsätze» erwähnenswert. Damit sind vor allem die Ausbildung und Entsendung von Militärbeobachtern sowie unterstützender Blau- oder Gelbmützenverbände gemeint. Die ersten Schweizer UNO-Militärbeobachter wurden im Mai 1989 in Finnland ausgebildet. Inzwischen wurden in der Schweiz fünf entsprechende Kurse durchgeführt. Ausbildung und Einsätze der bisher etwa 100 ausgebildeten Beobachter finden in den Schweizer Militärzeitschriften grosse Beachtung.
Auch «friedensfördernde» Einsätze könnten die Neuorientierung der Armee und militärischen High-Tech medienwirksam verquicken – allerdings nur im internationalen Verband und damit quer zum traditionellen Verteidigungsauftrag. In dieser Hinsicht verhielten sich EMD und Armeespitze aus Rücksicht auf nationalkonservative Widerstände bisher zurückhaltend, vor allem seit der Niederlage bei der Uno-Blauhelm-Abstimmung. Die bisher durchgeführten logistischen Unterstützungsmissionen für Uno und OSZE hatten einen rein zivilen Charakter. «Militärisch» waren sie nur insofern, als sich das EMD an der Organisation der Missionen und uniformierte Milizoffiziere an der Ausführung der Arbeiten beteiligten.

… «Existenzsicherung»

Eine dritte Gruppe von Einsatzplanungen betrifft militärische Aktionen in sogenannt ausserordentlichen Lagen. Im bundesrätlichen Sicherheitsbericht 90 figurieren sie unter dem Stichwort «allgemeine Existenzsicherung». «Ausserordentlich» wird eine Lage, wenn sie von den zivilen Behörden nicht mehr befriedigend bewältigt werden kann. Dann soll die Armee unterstützend – eben «subsidiär» – eingreifen.
Als existenzsichernd gelten generell Hilfseinsätze zur Erfüllung von Aufgaben nationaler Bedeutung. Wann eine Lage «ausserordentlich» wird und welche Aufgaben «nationale Bedeutung» haben, entscheidet der Bundesrat. Schon erprobt oder durchgeführt wurden bisher: die militärische Katastrophenhilfe, der militärische Grenzpolizeidienst zur Flüchtlingsabwehr, der Truppeneinsatz zur Betreuung im Asylbereich, der Schutz internationaler Konferenzen und die Bewachung wichtiger Objekte und Personen. Vor allem dieser letzte Punkt berührt Aspekte des bisher in einer Verordnung aus dem Jahre 1979 geregelten «Ordnungsdienstes».
Die neue Konzeption spaltet den «inneren Einsatz» also in zwei Bereiche: in vorgeblich politisch unbedenkliche «subsidiäre Sicherungseinsätze», beispielsweise gegen «terroristische Erpresser», und in den historisch vorbelasteten Ordnungsdienst. Erstere gehören inzwischen zum normalen Übungsprogramm in den WKs der Territorialtruppen. Beim Ordnungsdienst im Sinne eines Militäreinsatzes gegen politisch mobilisierte Bevölkerungsteile gibt sich dagegen selbst das EMD sensibel. Er soll wie bisher nur im Aktivdienst geleistet werden können.

Das neue Militärgesetz

Im September 1993 veröffentlichte der Bundesrat seine Botschaft zum neuen Militärgesetz (MG), das nun Anfang 1996 in Kraft getreten ist. Wie ist dieses Gesetz einzuschätzen?
Häufige dienen Gesetze dazu, gesellschaftliches Handeln oder die politische Praxis des Staates und seiner Institutionen in eine rechtsstaatliche Form zu bringen. Im Militärwesen betrifft dies vor allem die Praxis von EMD und Armee. Das neue MG ist so gesehen Ausdruck einer schon vollzogenen Verhaltensänderung dieser Institutionen. Dazu zwei Beispiele: Im Februar 1989, nur wenige Monate bevor er Sanitätseinheiten nach Namibia schickte, verabschiedete der Bundesrat eine Verordnung «über den Einsatz von Personal bei friedenserhaltenden Aktionen und guten Diensten.» 1990 fand der Armeeauftrag «Friedensförderung» Eingang in den bundesrätlichen Strategiebericht. Das nächste Jahr brachte eine neue Mission in die Westsahara und Anfang 1992 wurde der Auftrag mit dem Armeeleitbild 95 in die Reorganisation der Armee eingebaut. Erst im Juni des folgenden Jahres sorgte das Bundesgesetz «über schweizerische Truppen für friedenserhaltende Operationen» für eine erste gesetzliche Regelung in diesem Bereich. Und heute ist der eigentliche «Friedensförderungdienst» mit dem MG erstmals gesetzlich verankert – Blauhelmabstimmung hin oder her.
Zweites Beispiel: Die gute Presse, welche die Ausland-Katastrophenhilfe des Schweizerischen Katastrophenhilfekorps (SKH) erhielt, bewog den Bundesrat im Dezember 1985 zum Erlass einer Verordnung, die den Einsatz von Luftschutztruppen und anderer Truppengattungen im Ausland regelte. Im Inland wurde die Armee erstmals 1987 in grossem Stil zur Katastrophenhilfe aufgeboten. Wiederum integrierte erst der Sicherheitsbericht 90 diese Aktivitäten in eine umfassenden politisches Konzept. Im folgenden Jahr richtete der Stab für Gesamtverteidigung einen Ausschuss für die «Koordination der Vorbereitung der Katastrophenhilfe» ein. Mit dem Armeeleitbild 95 erreichte die Katastrophenhilfe 1992 die Ebene der Armeeorganisation. 1993 tat sich die Armee im unwettergeschädigten Brig hervor.
Seither wurden die Luftschutzeinheiten in «Rettungstruppen» umbenannt und zusätzlich ein als Alarmformation konzipiertes «Katastrophenhilferegiment» aufgestellt. 1994/95 wurden diese Einheiten mit modernstem Gerät ausgerüstet – auch mit Wärmebildkameras bestückte Aufklärungsdrohnen durften nicht fehlen. Diese Geräte werden seither eifrig beübt. Im vergangenen Jahr fand am Rhein bei Zurzach sogar eine Katastrophenübung zusammen mit der Bundeswehr statt.

Trial and Error

Gesetzlich verankert hat die militärische Katastrophenhilfe erst das neue MG. Neben dem altbekannten Aktivdienst und zusätzlich zum Friedensförderungsdienst definiert dieser Gesetzestext eine weitere neue Einsatzart: den «Assistenzdienst». Unter diesen Titel – und damit im Normalfall in die Kompetenz von Bundesrat oder EMD – fallen seit Anfang 1996 alle Armeemobilisierungen zur «Existenzsicherung». Mobilisiert, gleichsam versuchsweise, hat der Bundesrat allerdings schon vorher.
All diese Bereiche, von der Flüchtlingsbetreuung bis zur Terrorbekämpfung, haben nach dem gleichen Muster Eingang ins Gesetz gefunden: Zuerst formulieren Militärs und Sicherheitspolitikern neue Bedrohungsbilder. Dann testet die Armee die Akzeptanz und Durchführbarkeit militärischer Antworten. In einem weiteren Schritt werden die dabei gemachten Erfahrungen in Verordnungen, Konzepte und Reformen der Armeeorganisation umgesetzt. Dies wiederum bildet die Grundlage für die rechtliche Systematisierung der neuen Praxis.
Um Missverständnissen vorzubeugen, schliesse ich mit zwei Präzisierungen. Erstens möchte ich keinesfalls den Eindruck erwecken, dass das neue Militärgesetz nicht wichtig wäre, weil es «nichts Neues» bringt. Dieses Gesetz erweitert den Handlungsspielraum der Militärs enorm. Weitere Experimente stehen uns bevor. Vorboten davon sind drei Verordnungsentwürfe, die sich gegenwärtig in der Vernehmlassung befinden: Die Totalrevision der Verordnung über den Truppeneinsatz für den Ordnungsdienst; die neue Verordnung zum militärischen Schutz von Personen und Sachen; sowie eine Verordnung über den Truppeneinsatz für den militärischen Grenzpolizeidienst.
Einen zweiten Punkt habe ich in diesem Artikel nicht berücksichtigt: Die skizzierte Neuausrichtung der Schweizer Armee ist auch unter den Militärs nicht unumstritten. Kritik an dieser Entwicklung kommt von Offizieren und Experten, die den eigentlichen «Kampfauftrag» auch zukünftig ins Zentrum stellen möchten – entweder wie bisher im bewaffneten Alleingang oder im westeuropäischen Verbund.
Doch die Rhetorik der «subsidiären Einsätze» zeigt Wirkung. Was der damalige Chefredaktor der Allgemeinen Schweizer Militärzeitschrift im Vorfeld der GSoA-Abstimmung für ausgemacht hielt, ist heute jedenfalls nicht mehr Konsens: «Primäre Aufgabe und zugleich Rechtfertigung der Armee ist die Kriegsverhinderung durch Verteidigungsbereitschaft. Hier (…) und nicht anderswo sind im Blick auf die kommende Abstimmung die Argumente zu sammeln …» (ASMZ 9/87). Stutz zitierte das Armeeleitbild 80 – «der Erfüllung der Kampfaufgaben kommt gegenüber der Hilfeleistung der Vorrang zu» – um gegen die ideologische Überbewertung der militärischen Katastrophenhilfe Front zu machen. Sein Fazit: «Man versuche doch nicht, mit einigen Kompanien oder Bataillonen, die sich bei der Schadenminderung bewährten, die Notwendigkeit einer zahlenmässig dreihundertmal stärkeren, für völlig andere Aufgaben bestimmten Armee zu belegen. Das wäre nun wirklich ein zu billiges Ausweichen auf den lokalen Goodwill, der jetzt in den Unwettergebieten geschaffen wird.» Inzwischen ist klar geworden: Doch, man versucht es.

Postmoderner Militarismus?

Die Sicherheitsstrategen im Bundeshaus sind drauf und dran, aus einem Schlagwort Realität zu machen. Vor zehn Jahren konnte sich unter einer «multifunktionalen» Schweizer Armee niemand etwas vorstellen – ja, nicht einmal dieser Begriff existierte. Unterdessen sind die Grenzen zwischen Krieg und Frieden, zwischen ziviler Gesellschaftspolitik und militärischer Sicherheitspolitik, zwischen Aktivdienst und WK-Trott in Bewegung geraten. Sogar der grösste «Trachtenverein» des Kontinents scheint aus der «Postmoderne» das Beste für sich herauszuholen.
Noch ist nicht entschieden, ob die Bevölkerung die Planspiele der Militärs akzeptieren wird. Absehbar ist aber, dass eine nächste Armeeabschaffungsdiskussion sich nicht mehr um die Abwehr kinderfressender Rotarmisten drehen wird. Die Fangfrage wird dann möglicherweise so lauten: «Wollen Sie, dass die Schweizer Armee Genfer Friedenskonferenzen sichert, verschüttete Bergdörfer aus dem Dreck zieht, und marodierende Asylantenbanden in die Schranken weist?»