«Totale Verunsicherung»

Befindet sich der Militarismus in einem Erosionsprozess, erlebt er einen konjunkturellen Aufschwung oder formiert er sich neu? Andi Gross erläutert seine friedenspolitischen Perspektiven, seine Einschätzung des Nato-Angebots «Partnerschaft für den Frieden» und seine Teilnahme an der «Studienkommission für strategische Fragen». Die Fragen für die GSoA-Zitig stellten Renate Schoch und Hans Hartmann.

GSoA-Zitig: Im Frühling hast du die These aufgestellt, dass der Militarismus in der Schweiz erodiere. Inzwischen hat der Bundesrat drei Verordnungen in die Vernehmlassung geschickt, mit denen die Armee neue Kompetenzen bei verschiedenen Formen innerer Einsätze erhalten soll. Wie schätzt du diese Entwicklung ein?

Andi Gross: Mit der These einer Erosion des Militärischen habe ich mich auf die Wirkung unserer Volksinitiative von 1989 bezogen. Zusammen mit den welthistorischen Vorgängen hat sie eine grosse Verunsicherung des Militärischen auch in der Schweiz ausgelöst. Das kann man als Erosionsprozess bezeichnen. Damit habe ich nicht sagen wollen, dass der Militarismus in der Schweiz von einem Jahr auf das andere wegerodiert, sondern dass wir diese Entwicklung mit einer neuen Initiative nicht verstärken können.
Merkmal der Verunsicherung ist ein hin und her von Fort- und Rückschritten. Einmal haben die Modernisierer Oberwasser, dann wieder die Konservativen. Der Ordnungsdienst, der die Leute jetzt so beschäftigt, beruht auf dem Militärgesetz, das 1994/95 im Parlament verabschiedet wurde. Dieses Gesetz stammt also aus einer früheren Phase im Erosionsprozess. Die heutige Verordnung ist kein Rückschritt ins Militärische, sondern Folge davon, dass sich Linke und Grüne 1993/94 im Parlament nicht durchsetzen konnten.

Wollen denn die «Modernisierer» eine Eindämmung des Militärischen oder geht es ihnen um die Erneuerung des militärischen Sicherheitsdenkens?

Das wissen sie selber nicht. Darüber ist eine grosse Auseinandersetzung im Gang. Nur selten geben die daran beteiligten Leute ihre totale Verunsicherung auch zu. Das Argument der Erosion habe ich vor allem im Zusammenhang der Evaluation einer neuen Initiative gebraucht. Wenn wir wieder mit der klaren Forderung der Abschaffung kommen, dann schliesst sich der verunsicherte Haufen zu einem Block gegen uns zusammen. Die Frage ist also legitim, ob wir mit einer Initiative ein Auseinanderfallen dieses Blockes verhindern.

Kann man darauf bauen, dass der militärische Block von alleine auseinanderfällt? Verunsicherung heisst ja auch: Man stellt sich Fragen neu, es werden Konzepte entwickelt, und irgendwann findet man vielleicht befriedigende Antworten. So gesehen gibt es gerade jetzt aus friedenspolitischer Sicht einen grossen Interventionsbedarf.

Hier kann man verschiedener Meinung sein. Ich denke, wir sollten Dinge tun, die die Militaristen daran hindern, immer wieder ihre alte, knallharte Position zu festigen. Sicher ist die Festigkeit des militärischen Blocks gigantisch. In diesem Militärgesetz steckt faktisch noch nicht viel Erosion. Es ist immer noch ein Überrest aus der Vergangenheit.

Man kann es auch als Element einer militaristischen Neuorientierung sehen. Seit fünf Jahren ist man der Auffassung, die Armee habe neue, «existenzsichernde» Aufgaben zu übernehmen, ein einigender Faktor in der militärpolitischen Diskussion.

Das Armeegesetz ist der Versuch, die Kontinuität zu betonen, nicht die Brüche. Es ist die Frucht des Armeeleitbildes Armee 95 und des Sicherheitspolitischen Berichts von 1990, der 1988/89 geschrieben wurde. Meine Beurteilung nährt sich aus Gesprächen, die noch keine Verordnungen sind. Ein Gesetz kodifiziert ja immer eine vergangene Wirklichkeit. Einige Vertreter der militärischen Klasse geben heute ohne weiteres zu, dass es kaum mehr eine Bedrohung gibt, auf die die Armee eine adäquate Antwort wäre. Das schlägt sich aber noch nicht in konkreten Handlungen nieder.

Die Ifor-Truppen in Bosnien haben gegenüber dem offensichtlichen Misserfolg der Uno-Blauhelme ein sehr gutes Image. Die Uno ist diskreditiert und zivile multilaterale Organisationen wie die OSZE werden heftig kritisiert. Profitiert davon der Militarismus in der Schweiz?

Das militärische Denken hat nicht generell an Akzeptanz gewonnen, aber es erfährt einen kleinen konjunkturellen Aufschwung. Viele Leute – auch solche die 1989 für die Armeeabschaffung gestimmt haben – sind verunsichert. Sie meinen, aus dem Krieg auf dem Balkan gelernt zu haben, dass es ohne Militär eben doch nicht geht. Innerlich sind sie davon aber nicht überzeugt, sondern sie stehen unter dem Schock der Fernsehbilder.
Pazifistische Ansätze brauchen dagegen Zeit, um wirksam zu werden. Es ist schwierig, die Ohnmacht im Moment der gewaltsamen Auseinandersetzung auszuhalten. Die Machtlosigkeit ist das Resultat von einigen Jahrzehnten falschem Machtgebrauch – Macht im Sinn von kollektivem Handlungsvermögen. Das Militär ist attraktiv, weil es scheinbar unmittelbar wirkt. Wer genauer hinschaut, sieht sofort, dass Armeen zwar unmittelbar, aber natürlich nur destruktiv wirksam sind.
Man verarbeitet diese Problematik nicht, indem man nun der Uno die Schuld gibt. Die Uno ist auch unzulänglich, weil sie vor fünfzig Jahren für ganz andere Konstellationen geschaffen wurde. Aus diesem Defizit, aus dieser welthistorisch schwierigen Lage heraus hat die Armee eine scheinbare Legitimation gezogen.

Warum hat die Diskussion um das Nato-Angebot Partnership for Peace in der Schweiz soviel Staub aufwirbelt?

Wer glaubt, es gäbe keine Alternative zum Militärischen in der Sicherheitspolitik, lehnt sich an die Nato an. Für diese Leute geht es um die Einsicht, dass die Schweizer Armee alleine nicht mehr viel machen kann. Daher erhielt die Nato-Partnerschaft in der Schweiz eine symbolische Dimension.
In der SP-Fraktion hat das Nato-Angebot noch aus einem zweiten Grund eine Mehrheit gefunden. Viele Politiker scheuen sich, ein schwieriges Problem in der Öffentlichkeit differenziert zu vertreten. Man versucht es gar nicht mehr und sagt: Wenn wir dazu Nein sagen, gehören wir auch zu den National-Konservativen. Aber so wie es falsch ist, alles Schweizerische blind zu unterschreiben, genauso falsch ist es, einfach alles gut zu finden, was nicht Schweizerisch ist.

Sollen die osteuropäischen Ländern über das Partnerschaftsangebot mit Nato-kompatiblem Material aufgerüstet werden?

Wenn die Polen, die Tschechen und die Ungarn in die Nato gehen, und sie werden gehen, dann werden sie in den nächsten fünfzehn Jahren 120 Milliarden Dollar für neue Flugzeuge und Panzer u.ä. ausgeben müssen. Die amerikanische und andere Rüstungsindustrienbenötigen diese Nachfrage dringend. Dieses Geld fehlt für die ökologische, ökonomische und soziale Entwicklung von Ost- und Mitteleuropa. Der Mangel an Entwicklung ist dann wiederum die Ursache für nationalistische Tendenzen, die ihrerseits die Ursache für die weitere Militarisierung ist.
Ich habe versucht, diese grundsätzlich wichtige Diskussion auch anhand dieser für die Schweiz an sich unbedeutenden Vorlage zu führen. Das war zwar nicht schlecht, doch zeigte diese Diskussion auch, welchen Stellenwert die Nato und damit das Militärische in der Diskussion um die kommende europäischen Sicherheitspolitik hat. Die Hegemonie der Nato in der europäischen Sicherheitstruktur ist tatsächlich gestärkt worden – leider. Die Schweizer Armee hat sich dadurch aber nicht grundsätzlich neu legitimiert.
Wir Pazifisten und Pazifistinnen sind uns einig, dass die Nato das Übergewicht des Militärischen in der europäischen Sicherheitspolitik symbolisiert. Doch wir können keine Alternativen zur Nato-Fixierung anbieten.
In Bezug auf die Zukunft europäischer Sicherheitspolitik gibt es ein konzeptionelles Defizit auf unserer Seite. Der europäischen Linken und der Friedensbewegung fehlen Konzepte für die europäische Friedenspolitik in den ersten zwei Jahrzehnten des 21. Jahrhunderts. Wir haben nie gesagt, ganz Europa könne oder solle sofort die Armee abschaffen. Wir finden, die Uno brauche wahrscheinlich noch militärische Truppen. Aber bisher sind nur ein paar Spezialisten genauer an diese Sache herangegangen. Und solange wir keine gefestigteren Vorstellung über das internationale Umfeld haben, können wir auch nicht sagen, welchen Beitrag die Schweiz in dieser Struktur leisten soll.

Du bist Mitglied der von EMD-Chef Ogi einberufenen «Studienkommission für strategische Fragen». Wie siehst du deine Rolle darin?

Als mich der Komissionspräsident Edouard Brunner für eine Teilnahme anfragte, habe ich zuerst gedacht, ich würde ablehnen. Aber von Brunner, der unter Aubert Staatssekretär war, kann man natürlich viel lernen, und ich arbeite gern mit Leuten zusammen, von denen man etwas lernen kann. Zudem hätten wir es kritisiert, wenn niemand von pazifistischer und linker Seite dabeigewesen wäre. Konsequenterweise durfte ich also zusagen.

Mit deiner Teilnahme an der Studienkommission fliesst deine politische Kreativität in ein Diskussionsgefäss, das mit Basisbewegungen nichts zu tun hat mit. Was haben durchschnittliche GSoAtInnen davon?

Ich glaube, die GSoA hat in meinem Fall immer davon profitieren können, obwohl das einige ungern zugeben. Diese Frage betrifft linkes Mitwirken in allen ofiziellen, somit nicht-linken Gremien. Die GSoA wird anders behandelt, weil ich häufig das Eis breche.
Je mehr die anderen von uns wissen, desto besser können wir miteinander reden. Ich habe den Eindruck, wir müssten viel weniger defensiv auf solche Angebote zugehen. Ich bin überzeugt, das kostet uns nichts. Die Zeit spricht für uns. Die Welt, wie sie sich verändert und entwickelt, gibt unseren Anliegen recht.
Befürchtest du nicht, als Feigenblatt zu dienen?
Diese Befürchtung ist immer berechtigt. Aber meine Erfahrung zeigt, dass es nicht in erster Linie darum geht.
Die Verunsicherung in diesen Kreisen ist echt. Zudem wird es erlaubt, ja erwünscht sein, Minderheitsmeinungen zu vertreten. Auch Ogi hat in seiner Eröffnungsrede vor der Kommission gesagt, es sei besser, die Unterschiede darzustellen, statt einen faulen Kompromiss zu suchen. Das ist ein Fortschritt in der Schweiz. Schliesslich soll sich die Kommission nicht primär mit der Zukunft des Militärs beschäftigen. Es geht vielmehr darum, zukünftige Bedrohungen und Gefahren zu skizzieren und Vorschläge zu machen, wie man damit umgehen soll. Fünfzehn Jahre lang haben wir versucht, uns mit dieser Fragestellung Gehör zu verschaffen, und jetzt sind sie bereit, einem mindestens ab und zu zuzuhören.

Was wird das EMD aus dieser Fragestellung machen? Im Auftrag der Studienkommission heisst es ja auch: «Die operative Umsetzung in einen militärischen Auftrag bzw. militärische Strukturen ist anschliessend Aufgabe des EMD.»

Es stimmt, das EMD kann diese Grundlagen-Arbeit frei interpretieren. Aber das kann doch nicht heissen, dass ich mich nicht für diese Grundlagendiskussion interessiere.

In der GSoA-Zitig hast du dieses Jahr mal geschrieben, dass es im Militärbereich wenig Diskussionspotential gebe. Jetzt beteiligst Du Dich an dieser Komission, die, so steht es im Auftrag, auch das Milizsystems, die allgemeine Wehrpflicht und die Funktion von militärischen Komponenten in der Gesamtverteidigung beurteilen soll – also sehr wohl militärpolitische Themen?

Der Auftrag der Kommission ist sehr widersprüchlich. Bundesrat Ogi hat mündlich jedenfalls andere Aspekte in den Vordergrund gestellt. Ich glaube, dass die Diskussion über das Militär im engeren Sinn einen viel geringeren Stellenwert hat als vor zehn Jahren. Man kann friedenspolitisch einen höheren Fortschritt erreichen, wenn man in den nächsten vier, fünf Jahren die Diskussion um Europa, um die Arbeitslosigkeit und Sozialpolitik gut führt. Aber gerade wenn die Bereitschaft der Leute, über die Armee zu diskutieren, gesunken ist, ist es umso notwendiger, an kleinen Orten das Thema weiterzuführen. Diese Kommission ist ein solcher Ort, aber sicher nicht der wichtigste davon.

Und deswegen diskutieren wir neue Initiativen. Andi, wir danken Dir für dieses Gespräch.

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