Das volle Boot

In der Diskussion um die Flüchtlingspolitik ist die Armee bislang relativ ungeschoren davon gekommen, obwohl sie eine härtere Praxis befolgte als die Polizei.

«Ich kam mir vor, als würde ich den gelben Stern tragen.» Das war die Empfindung des jüdischen Hauptmanns und Arztes Hermann Guggenheim in der Festungs-Artillerie in den 30er und 40er Jahren. «Von unseren ungefähr 35 Offizieren waren sicher dreiviertel nazistisch angehaucht, und ich wurde richtig geschnitten.» Besonders benachteiligt wurde er von seinem Obersten und vom Feldgeistlichen. Dieser sagte zum jüdischen Offizier: «Hören Sie, Ihr habt halt schon viele Fehler, und es ist jetzt eben der Zeitgeist.»

Einem frontistischen Nichtjuden fiel es leichter, in der Armee Karriere zu machen als einem jüdischen Liberalen oder gar Linken. Am 12. Mai 1933 schrieb das deutsche Generalkonsulat in Zürich in einem Bericht an die deutsche Gesandtschaft in Bern: «Bei den militärischen Formationen meines Amtsbezirks gibt es bei den Bestimmungen über die Ergänzungen von Offizierskorps zwar keinen geschriebenen Numerus clausus, jedoch werden der Übung nach möglichst keine Juden gewählt.»

Guisan: «Allein Härte tut not»

Henri Guisan passte bestens in diese stark judenfeindliche geprägte Hierarchie. Als Bundesrat Minger an der Sitzung der Landesverteidigungskommission vom 28. Januar 1939 auf die Möglichkeit eines Krieges im Frühjahr hinwies, bemerkte Korpskommandant Guisan: «Es scheint, dass in ganz Europa eine erhöhte Aktivität der Juden eingesetzt hat.» Der wohlwollende Guisan-Biograph Willi Gautschi schreibt dazu: «… doch es dürfte nicht abwegig sein, daraus zu schliessen, dass Guisan damit seiner Auffassung Ausdruck gab, der verstärkte Widerstand, der nach dem Münchener Abkommen sich im Westen gegen die aggressive Politik des Dritten Reiches zu organisieren begann, sei der Aktivität des internationalen Judentums zuzuschreiben. Es ist bekannt, dass die nationalsozialistische Propaganda sich bemühte – und damit in Europa zum Teil auch Erfolg hatte – die Juden als Kriegstreiber darzustellen.»

Ein gutes Jahr später machte General Guisan den EMD-Chef Minger auf drohende innenpolitische Gefahren aufmerksam, die aus den deutschen Erfolgen resultieren könnten. Dabei wies er besonders auf die Juden hin: Verschiedenen Berichten sei «zu entnehmen, dass sich in grossem Masse jüdische Emigranten, denen das Asylrecht eingeräumt wurde, als eine nicht unbedeutende Gefahrenquelle entwickeln. Es kann diese Kategorie von Ausländern, gestützt auf die Erfahrungen in Skandinavien, England und Holland, nicht ausser Acht gelassen werden. Mitleid und Nachsicht sind bei der heutigen Lage der Schweiz nicht mehr am Platz, allein Härte tut not.»

«Die Armee: härter als die Polizei»

Die beiden Zweit-Weltkriegs-Spezialisten Jean-Claude Favez und Ladislas Mysyrowicz fassten Guisans Haltung zur Asylpolitik so zusammen: «Darüberhinaus war General Guisan als Chefkommandant der Armee härter, restriktiver auf diesen Fragen als der Chef der Polizeiabteilung.» Damit ist der berühmt-berüchtigte Heinrich Rothmund gemeint. Der Titel über dieser Aussage im Journal de Genève lautete: «L´armée: plus dure que la police». Anfangs 1941 erkundigte sich Guisan brieflich, ob tatsächlich ein aus Deutschland stammender eingebürgerter Jude und zwei andere Juden beim Armeefilmdienst mitarbeiteten. Weiter wollte er wissen, ob noch andere Israeliten oder eingebürgerte Ausländer dort engagiert seien. Sollte dies zutreffen, sei ihm mitzuteilen, wie man deren Mitarbeit begründe. Aufschlussreich ist, dass Guisan von «ausländischen Persönlichkeiten und Organisationen» schrieb, damit aber die neue eingebürgerten Juden und den ‹Juden an sich› meinte.

Von Salis über den General

Noch im Sommer 1944 sprach sich Guisan gegenüber dem Bundesrat für eine harte Haltung aus: «Wird jedermann, der nicht über einen gültigen Pass oder ein Visum verfügt, zurückgewiesen und werden sogleich die ohne Kontrolle über die Grenze gelangten Personen wieder ausgeschafft, dürfte diese zur Folge haben, dass der Zustrom gegen die Grenze bald abnimmt und auf ein Normalmass sinkt.»

In seinem Bericht an die Bundesversammlung über den Aktivdienst 1939-1945 aus dem Jahre 1946 schob Guisan Nichtwissen vor. Der Historiker Jean-Rudolf von Salis schrieb darüber 1978 in seinem «Lebensbericht»: «Unbegreiflich ist der nächste Absatz des Generalberichts: ‹Um die Sache richtig darzustellen, muss man sich auch daran erinnern, dass man damals nichts wusste von Konzentrationslagern, Grausamkeiten und sadistischen Greueln.› Nichts wusste? Aber die Konzentrationslager waren doch seit 1933 bekannt, auch die Grausamkeiten in Polen und anderswo; die Gestapo war für ihre Folter- und Mordmethoden berüchtigt; die Greuel an den Juden skandalisierten die ganze Welt. (….) Guisans Schlussbericht zeigt, dass er seine Augen vor den Realitäten des Hitler-Regimes verschloss. Unser militärisch-politischer Machtapparat, der auf Grund des Notrechts über weitgende Vollmachten verfügte, wollte von Naziverbrechen nicht reden hören.»

«Stimme der Armeespitze»

Ohne die Armee hätten im Sommer 1942 die Grenzen nicht dicht gemacht werden können. Guido Koller schreibt in seiner Studie über «die behördliche Praxis in der schweizerischen Flüchtlingspolitik während des Zweiten Weltkrieges» dazu: «Das Abwehrdispositiv bedingte den Erlass entsprechender Weisungen, den Ausbau des schweizerischen Grenzwachtkorps, seine Verstärkung durch Truppeneinheiten und den Einsatz militärischer Kommandostellen.» Nach Rothmund war das Einschalten militärischer Stellen deshalb geboten, weil die Kantone kaum aus eigenem Antrieb Flüchtlinge ausgeschafft und den Entscheid den Bundesbehörden überlassen hätten.

Das Militär spielte nicht nur beim Vollzug der Abweisung, sondern auch bei der Festlegung der Flüchtlingspolitik eine massgebliche Rolle. Rothmunds Adjunkt Robert Jezler, der gleichzeitig Hauptmann im militärischen Nachrichtendienst war, schrieb 1955 dem vom Bundesrat zur Verfassung des Flüchtlingsberichts beauftragten Carl Ludwig, die Zurückhaltung in der Aufnahme von Flüchtlingen sowie die Unterbringungsmöglichkeiten seien wesentlich duch die Armeeleitung beeinflusst worden oder auf deren ausdrückliches Verlangen erfolgt. Vor allem die Unterbringung der Flüchtlinge und die Bereitstellung von Auffanglagern sei durch das Sicherheitsdispositiv der Armee erschwert worden. Zwei Drittel des Landes seien als Sperrgebiet Flüchtlingen nicht zugänglich gewesen.

Die jüngste Arbeit zur Flüchtlingspolitik bestätigt die besondere Rolle der Armee: «Zu diesen fundamentalen Einschränkungen kam die warnende und auf Abwehr der Flüchtlinge drängende Stimme der Armeespitze, welche die Behörde noch mehr unter Druck setzte.»

«Humaner als Bern»

Jean-Claude Wacker, der eine Lizenziatsarbeit zum Thema «Schweizer und Basler Asylpraxis gegenüber den jüdischen Flüchtlingen von 1933 bis 1943 im Vergleich» geschrieben und unter dem Titel «Humaner als Bern» veröffentlicht hat, kommt zum Schluss: «Das vermehrte Engagement der Armee in der Flüchtlingspolitik führte zu einem Kompetenzverlust der Kantone. So entschieden im Krieg nicht mehr sie über Einlass und Zurückweisung der Flüchtlinge, sondern an ihre Stelle trat der Polizeioffizier des Territorialkommandos, resp. dessen Kommandant. In Zusammenarbeit mit der Polizeiabteilung traf er seine Entscheidungen über die vom Grenzwachtkorps angenommenen sowie über die im Innern des Landes aufgegriffenen illegal eingereisten Flüchtlinge.» Diese Machtverschiebung von der Polizei zur Armee, vom Kanton zum Bund, wirkte sich in Basel besonders verheerend aus, weil dessen Polizeidirektor Fritz Brechtbühl eine humanere Haltung vertrat.

Allgemein scheint die Polizei mehr Skrupel gehabt zu haben als das Militär. Guido Koller zitiert die Aussage eines Verantwortlichen zur Genfer Situation: «Während die Armeeorgane die Anordnungen der Polizeiabteilung strikte anwenden, zeigt sich die Gendarmerie, zweifellos unter dem Einfluss der Pressekampagne, sehr zögerlich. Sie tendiert dazu, den Begriff ‹politischer Flüchtling› weit auszulegen.»

«Moralische Abrüstung»

Allerdings gab es auch Ausnahmen, bei Offizieren und vor allem bei Soldaten. In seinem erschütternden Bericht über die Rückweisung des Ehepaars Feindgold am 14. Oktober 1942 zitiert Stefan Mächler aus einem zwei Wochen später aus Lyon an den SP-Nationalrat Paul Graber geschriebenen Brief: «Zwölf Schweizer Soldaten standen die Tränen in den Augen. Drei Caporale und neun Soldaten standen machtlos dabei und mussten tatenlos mitzuhören, wie ein Schweizer Zollbeamter ein hilfloses Ehepaar in der allergefährlichsten Art bedrohte.» Im Untersuchungsbericht steht dazu: «Es ist klar, dass die Soldaten, die erstmals bei einer Rückweisung mithalfen, bewegt und aufgewühlt waren. Im übrigen versteht es der grosse Teil der Flüchtlinge sehr geschickt, an die menschlichen Gefühle unserer Männer zu rühren.»

Favez und Mysyrowicz schrieben in ihrer Serie im Journal de Genève: «Die Behörden haben die Existenz eines latenten Malaises im Volk und unter den Soldaten wahrgenommen. Wie soll die Moral von Männern, die mit der Grenzbewachung beauftragt sind, aufrechterhalten werden, wenn ihre Aufgabe darin besteht, den Strom von Opfern zu stoppen? Wenn sie Szenen der Verzweiflung beiwohnen müssen? Man hat versucht, sie zu beruhigen, indem man sie entlastete, (…) ihnen den Gewissensentscheid abnahm (…), indem man in gewissem Sinne eine Politik der moralischen Abrüstung betrieb.»

Abschliessend ist festzuhalten, dass es keine Institution gab, die über die Verfolgung und Vernichtung des europäischen Judentums so konkret informiert war wie die Armee. Den guten Informationsstand verdankt sie vor allem der Befragung von deutschen und österreichischen Deserteuren. Die Armee war aber auch zuständig für die Pressezensur. Die militärische Abteilung Presse und Funkspruch (APF) verhinderte eine Reihe von Artikeln über die Verfolgung und Ermordung der Jüdinnen und Juden. Auch bei der publizistischen Verdrängung stand die Armee an der Front.

*Auszug aus dem Vortrag von Josef Lang zum Armeetag am12. Juni 1998 im Zürcher Volkshaus. Der vollständige Text ist online abrufbar.