Neutralität

lautete der Titel eines Referats, das Peter Hug* auf Einladung der Fachschaft Geschichte der Universität Bern und der GSoA Bern im Juni 1998 hielt. Im Folgenden veröffentlichen wir Kernaussagen seines ausführlichen Referats. Die Auswahl der Auszüge und die redaktionelle Bearbeitung nahm Nico Lutz vor.

Die Schweizer Armee hat sich grosse Mühe gegeben: Mit dem Armeetag in Frauenfeld vom vergangenen Juni versuchte sie, sich mit den Gedenkfeierlichkeiten «150 Jahre Bundesstaat» in Verbindung zu bringen. Doch 150-jährig ist die Schweizer Armee keineswegs. Und ebenso falsch ist der Eindruck, die eidgenössischen Orte seien seit Jahrhunderten wehrhaft und neutral gewesen. Beides sind konstruierte Geschichtsbilder, die mit der Realität wenig zu tun haben.

Fehlende Armee als Standortvorteil
Einverstanden: Die Gründung des liberalen und republikanischen Bundesstaates von 1848 inmitten eines überwiegend konservativen europäischen Umfeldes war eine bewundernswürdige Leistung. Die Deutung, wie die erfolgreiche Wahrung der Unabhängigkeit und nationalen Einigkeit 1848 zustande kam, bildet bis heute eine machtvolle legitimatorische Ressource, aus der sich handfeste politische Ansprüche ableiten lassen. Bis heute neigen HistorikerInnen dazu, in der Wehrhaftigkeit, der bewaffneten Neutralität sowie generell im Militärwesen das zentrale Instrument zur Wahrung der Unabhängigkeit und darüber hinaus einen wichtigen Motor für die Schaffung eines «nationalen Bewusstseins» zu sehen. Alfred Kölz bezeichnet in seiner 1992 erschienen «Neueren schweizerischen Verfassungsgeschichte» den Bundesstaat von 1848 gar als «Militärstaat». Auch der in Genf lehrende Begründer der Wissenschaft von den internationalen Beziehungen, William Rappard, glaubte, dass in der Schweiz «die Armee dem Volke voranging im Marsch auf die Zentralisation und die nationale Einigung».
Vielmehr müsste man umgekehrt formulieren, dass das Fehlen einer Armee und die geringe Wechselwirkung zwischen Staat und Heerwesen sich als grosses Glück erwies und ein entscheidender Faktor in Bezug auf die erfolgreiche Durchsetzung des liberalen Verfassungsstaates war. Diese These wird durch zwei Sachverhalte gestützt.

Eigensinnige Schützen…
In der neueren Forschung wird erstens die Rolle des Militärischen bei der Entstehung des Bundesstaates 1848 als geringer eingeschätzt als bisher. Diese Erkenntnisse beruhen u.a. auf einer Neubeurteilung der Rolle des 1824 entstandenen Eidg. Schützenvereins. Bis vor kurzem wurde generell angenommen, dass die Eidg. Schützenvereine im Prozess der Nationenbildung in der Schweiz einen wichtigen Beitrag leisteten. Richtig ist, dass die regelmässig wiederholten eidgenössischen Freischiessen als Kaderschmieden der liberalen Eliten wirkten. Sie trugen aber vor dem Hintergrund des bis 1874 streng kantonal organisierten Militärwesens kaum zur Überwindung der regionalen Bindungen oder zur Schaffung einer gemeinsamen nationalen Identität bei. An Schützenfesten hatte die nationale Symbolik sofort zurückzutreten, wenn sie nicht mit den übrigen politischen Intentionen übereinstimmte. Die Schiessfolklore stärkte bis weit in die 1860er Jahre vorab den Eigensinn der Mannschaften. Gerade die Erfahrungen im Sonderbundskrieg von 1847 zeigte, dass sich die überwiegend von Schützenvereinen organisierten Scharfschützen als besonders unzuverlässige, ja widerspenstige Truppengattung erwiesen und keineswegs als integrative und staatstragende Kraft.

… und ein chaotischer Haufen von Heckenschützen
Zweitens kann man in der Schweiz von 1848 schlicht und einfach nicht von der Existenz einer Schweizer Armee sprechen. Wer dies tut, sitzt unhaltbaren Rückprojektionen auf. Was wir bis in die 1860er Jahre vorfinden, sind vielmehr stark in der Gesellschaft verankerte, schwer führbare und schlecht ausgebildete Milizionäre und Freischärler, die verschiedensten sozialen und politischen Einflüssen unterworfen waren. Freilich dürfte die Disziplinlosigkeit und der niedrige Ausbildungsstand der Soldaten wesentlich dazu beigetragen haben, dass der Sonderbundskrieg insgesamt ziemlich unblutig verlief. Der Oberfeldarzt zählte am Ende auf eidgenössisch-liberaler Seite 74 Tote und 377 Verwundete, auf der Seite des katholisch-konservativen Sonderbundes 24 Tote und 116 Verwundete. Obschon der Revisionsbericht über die Kriegskosten von einem «ungeheuer grossen Gebrauch scharfer Munition» spricht, wurden davon offensichtlich nur verhältnismässig wenige getroffen.
Weil Mittel zur Ausbildung und Ausrüstung von regulären Truppenkörpern weitgehend fehlten, blieb dem Bundesrat nichts anderes übrig, als auf die schlecht qualifizierten Freiwilligeneinheiten zu zählen. Er verordnete noch 1866 ausdrücklich unter bestimmten Bedingungen «die Zulassung von Freiwilligenkorps zu den Operationen der Armee, sei es für längere oder kürzere Dauer».
Auch international genossen die Schweizer Milizeinheiten ein geringes Ansehen. Der im Ausland verbreitete Ruf des Schweizer Heeres, ein chaotischer Haufen von Heckenschützen zu sein, führte noch 1899 an der Ersten Haager Friedenskonferenz zur Einschätzung, beim Schweizer Landsturm handle es sich um eine irreguläre Einheit. Die anwesenden Staaten verweigerten ihm deshalb hochoffiziell den Schutz des Kriegsvölkerrechtes.

Neutralität als Staatsmaxime erfunden
Ein zweiter Mythos, der sich in der Schweiz hartnäckig hält, ist die Mär von der bewaffneten Neutralität. Das von der geistigen Landesverteidigung verbreitete Geschichtsbild übernahm die These des bedeutendsten neutralitätshistorischen Werks der Schweiz von Paul Schweizer aus dem Jahre 1895 und, später, der Neutralitätsgeschichte von Edgar Bonjour aus den 1960er Jahren. Beide behaupteten, die Neutralität stelle für die Eidgenossenschaft seit 1674 eine «Staatsmaxime» dar. Dies lässt sich freilich mit den beobachtbaren Fakten kaum in Einklang bringen. Seit dem ausgehenden 15. Jahrhundert waren die eidgenössischen Orte weitgehend unter den militärischen Schutz von Frankreich gestellt. Sie waren allzu enge Bündnisverpflichtungen eingegangen und verfügten über allzu geringe militärische Abwehrmittel, um daraus die These der bewaffneten Neutralität ableiten zu können. Zudem fehlte für eine «Staatsmaxime» eine entsprechende Diskussion. So weist die sechsbändige Bibliographie zur Schweizer Geschichte, die Gottlieb Emanuel von Haller 1785-1788 herausgab, unter dem Stichwort Neutralität allein auf zwei Schriften hin. Beide waren 1689 erschienen und sprachen sich erst noch beide gegen eine neutrale Haltung der Eidgenossenschaft aus.

Militärbündnisse haben Tradition
In einem internationalen Rechtstext fand die schweizerische Neutralität 1777 erstmals Erwähnung, und zwar mit einem ausgesprochen wenig neutralen Gehalt. In einem Vertrag mit Frankreich übernahmen die eidgenössischen Orte die Verpflichtung, im Sinne eines «cordon sanitaire» für den absolutistischen Herrscher Verteidigungsfunktionen zu übernehmen. Artikel 6 verpflichtete beide Bündnispartner, «einander sogar mit bewaffneter Hand sich dagegen zu setzen, wenn die Noth es erfordert(…)». Das 1777 erstmals durchgespielte Muster wiederholte sich 1815 mit umgekehrten Vorzeichen: Am Wiener Kongress wechselten die eidgenössischen Orte die Flagge und gingen nun nicht mehr gegenüber dem besiegten Frankreich, sondern gegenüber den siegreichen Alliierten entsprechende Verpflichtungen ein. Die Anerkennung der Neutralität 1815 hatte demnach mit Unabhängigkeit und Unparteilichkeit wenig zu tun.
Wenig später vollzog die Tagsatzung in einer weiteren eklatanten Neutralitätsverletzung den Beitritt zur Heiligen Allianz, in der sich die siegreichen reaktionären europäischen Monarchen zusammengeschlossen hatten. Wie alle anderen allianzschliessenden Mitglieder verpflichtete sich auch die eidgenössische Tagsatzung ohne jede Einschränkung, «sich bei jeder Gelegenheit und an jedem Ort gegenseitig Unterstützung, Hilfe und Beistand zu leisten». Es ist angesichts dieser Bündnisverpflichtung absurd, wenn bis heute die damalige Schweiz als neutral bezeichnet wird.

Nur zufällig in der Verfassung
Es überrascht vor diesem Hintergrund nicht, dass bei der Gründung des Bundesstaates die Neutralität alles andere als ein zentrales Thema bildete. In den Protokollen der Kommission, welche die Bundesverfassung erarbeitete, finden sich keine Hinweise auf eine Neutralitätsdiskussion. Erst als die Tagsatzung selbst vom 11. Mai bis 27. Juni 1848 die Bundesverfassung beriet, unterbreitete Graubünden Verfahrensvorschläge, wie das «Aufgeben der Neutralität» geregelt werden könnte. Als Reaktion darauf stellten die konservativen Gesandtschaften der Kantone Glarus, Zug und Schaffhausen in der Detailberatung den Antrag, die Wahrung der Neutralität zu einem Zweck des Bundes zu erklären. Eine überwältigende Mehrheit von 19 gegen 3 Stände entschied, die Neutralität im Bundeszweck nicht zu erwähnen. Die Begründung lautete, «die Neutralität sei kein konstitutioneller und politischer Grundsatz, der in eine Bundesverfassung gehöre, indem man nicht wissen könne, ob derselbe nicht einmal im Interesse der eigenen Selbständigkeit verlassen werden müsse. (…)». Nach diesem deutlichen Ergebnis stellte die Gesandtschaft des Kantons Solothurn den Antrag, die Neutralität auch aus dem Geschäftskreis der beiden Räte und aus den Befugnissen und Obliegenheiten des Bundesrates zu streichen. 11 1/2 von 22, d.h. eine Mehrheit aller Gesandtschaften, stimmte für diesen Streichungsantrag. Die Redaktionsgruppe entschloss sich indes, in der zweiten Lesung Ende Juni 1848 wieder von «Unabhängigkeit und Neutralität» zu sprechen, was nun überraschenderweise zu keiner Diskussion mehr Anlass gab.

Trotz Neutralität in der Verfassung munter unneutral
Wie instrumentell das Verhältnis zur Neutralität gegen aussen war, zeigte nicht zuletzt die anhaltende Versuchung, auf eine günstige Bündnisoption einzutreten. Als am 14. April 1848, mitten in den Verfassungsdiskussionen, ein Bündnisangebot von Karl Albert von Sardinien eintraf, fand es die Tagsatzung sofort einer gründlichen Prüfung wert. Eine starke Minderheit forderte, die von Karl Albert gleichzeitig angeforderten 30’000 Mann Unterstützung zu entsenden. Nach längerer Debatte wurde das Bündnisangebot gegen die Stimmen der gesamten lateinischen Schweiz mit 6:15 verworfen. In der Diskussion spielte das Neutralitätsargument jedoch keine Rolle.
Eine bedeutende Solidarisierungswelle bewirkte auch die liberale Revolution vom 18. März 1848 in Mailand. Noch am selben Tag sammelten sich im Kanton Tessin Freischaren, die in Richtung Süden die Grenzen überschritten. Freischaren aus der welschen Schweiz und dem Kanton Bern folgten nach. In Bern bildete sich eine radikale Partei, die für Werbungen nach der Lombardei sorgte und aus dem Berner Zeughaus eine Batterie Sechspfünder über den Gotthard lieferte – lauter Dinge, die mit Neutralität nichts zu tun haben.

Tausende von Seiten, die Neutralität zu beschwören
Die auf den Begriffen Neutralität und Wehrhaftigkeit aufgebaute nationale Identität entstand im Grunde erst im Gefolge der europäischen nationalen Einigungskriege der 1860er Jahre und den ernüchternden militärischen Erfahrungen, die anlässlich der ersten allgemeinen Mobilmachung in der Geschichte der Eidgenossenschaft 1870/ 71 während des deutsch-französischen Krieges gesammelt wurden. Als nach 1874 in einem zunehmend chauvinistisch-imperialistischen Umfeld erneut äussere Einmischungsversuche die Unabhängigkeit der Schweiz bedrohten, wurde die Neutralität als wichtiges Argument zu deren Abwehr entdeckt. Im Anschluss an die Affäre Wohlgemuth von 1889 – ein deutscher Polizeispitzel wurde in der Schweiz verhaftet und unter Protest von Berlin ausgewiesen – veröffentlichte Paul Schweizer 1895 seine tausendseitige Geschichte der schweizerischen Neutralität. Aufgabe dieses Werks war, unmittelbare Argumentationshilfen für die Behauptung der Schweizer Unabhängigkeit zu liefern. Dabei wurden sämtliche beobachtbaren Aussenbeziehungen der Schweiz der Neutralitätsfrage untergeordnet. 1895 kann deshalb als Geburtsstunde des Mythos Neutralität bezeichnet werden. In den gleichen 1890er Jahren sind in der Schweiz auch die ersten ernsthaften Versuche zu beobachten, sich ein militärisches Instrument zuzulegen, das zu Recht eine Armee genannt werden kann. Ein erster Anlauf zur Schaffung einer gesetzlichen Basis für eine gemeinsame Schweizer Armee scheiterte zwar noch 1895 mit der Ablehnung der ersten Militärvorlage. 1907 wurde das Militärorganisationsgesetz schliesslich angenommen.
Ihren 150-jährigen Geburtstag kann die Schweizer Armee also noch lange nicht feiern. Und noch viel weniger ist die Schweiz seit Jahrhunderten neutral. Bis diese beiden Tatsachen einer breiteren Öffentlichkeit bewusst werden, sind noch diverse gesellschaftliche Diskussionen notwendig. Die Gedenkfeierlichkeiten zu 150 Jahren Bundesstaat bieten hoffentlich Anlass dazu.

*Peter Hug arbeitet am historischen Institut der Universität Bern, hat ein Mandat der unabhängigen Expertenkomission Bergier für den Bereich Rüstungspolitik und leitet im Rahmen des nationalen Forschungsprogrammes 42 das Projekt über die Aussenpolitik der Schweiz seit Ende der 30er Jahre.