Radikales Nein

Die Erfahrung des Krieges veränderte das Leben Hansheiri Zürrers*. Welche Konsequenzen er während der letzten 54 Jahren daraus gezogen hat, erzählte er Hans Hartmann und Renate Schoch.

Hansheiri, Du hast Theologie studiert, dann aber über zehn Jahre auf dem Bau gearbeitet. Du gehörst der Religiös-Sozialistischen Vereinigung an, bist Mitglied der SP und der GBI und warst Mitglied der PdA. Wir kennen Dich vor allem als Pazifist und als prägendes Mitglied der Anfänge der GSoA Zürich. Seit wann bist friedenspolitisch aktiv?

Ich bin 1918 geboren. 1938 habe ich in der Rekrutenschule in einem Aufsatz geschrieben, dass die Armee sinnvoll sei und das Volk zusammenschweisse, obwohl sie gegen die Deutschen keine Chance habe. Ich habe sogar meinem Zugführer versprochen, Feldprediger zu werden. Das wichtige Erlebnis aber hatte ich während des Kriegs. Ich habe über 600 Tage Aktivdienst geleistet. Durch meine Ordination zum Pfarramt wurde ich dann vom Militärdienst befreit. Im Frühling 1944 fragte mich der Weltbund des Christlichen Verein Junger Männer (CVJM) an, ob ich für die Kriegsgefangenenhilfe nach Deutschland gehen würde. Wir hatten das Recht, unter dem Schutz der Genfer Konvention Kriegsgefangenenlager zu besuchen. Im letzten Kriegsjahr war ich also in Deutschland unterwegs. Den Winter 44/45 verbrachte ich in Danzig und wartete mit Ungeduld auf die Rote Armee, obwohl ich Anweisung hatte, nach Berlin zurückzugehen. Aber schliesslich konnten die Kriegsgefangenen auch nicht nach Berlin! Der Einmarsch der Roten Armee in Danzig hat mich dann schockiert. Nur durch Zufall wurde das Haus, in dem ich wohnte, nicht von einer Bombe getroffen. Die Soldaten der Roten Armee waren nicht anders als andere Soldaten: brutalisiert, kaputt. Sie suchten nur junge Frauen, und wer sich ihnen entgegenstellte, wurde erschossen.

Mir wurde klar, dass der Krieg Soldaten kaputtmacht, egal, welche Weltanschauung sie haben. Hätten die Deutschen die Schweiz angegriffen, wäre es uns gleich gegangen. Ich wollte mich dafür einsetzen, dass so etwas nie mehr passiert.

Als ich die nächste Aufforderung zur Bezahlung des Militärpflichtersatzes erhielt, schickte ich sie zurück. Das innere Nein zu einem Beitrag zum Militär war für mich eine grosse Umstellung. Das war ein langer Prozess.

Hast Du in den Kriegsgefangenenlagern Soldaten gesehen, die vom Krieg psychisch geschädigt waren?

Ich kann mich an ein Lager von psychisch geschädigten Soldaten aus alliierten Heeren erinnern. Das war für mich ein Schock. Allerdings war uns der direkte Kontakt zu den Gefangenen nur im Beisein eines Wehrmachtsoffiziers erlaubt. Russische Kriegsgefangene durften wir nicht besuchen, weil die Sowjetunion die Genfer Konvention nicht unterzeichnet hatte. Nur ein einziges Mal führte uns ein deutscher Offizier durch ein Lager russischer Soldaten, aber wir durften nicht mit ihnen reden. Diese Gefangenen liess man praktisch verhungern. Auf dem Friedhof sahen wir Erdhügel an Erdhügel, und unter jedem, so erklärte der Offizier, lagen dreissig bis vierzig Leichen.

Wie haben diese Erfahrungen Dein Leben verändert?

Das Ergebnis meiner Überlegungen war die Verweigerung. Ich hatte mein kirchliches Amt abgegeben und arbeitete auf dem Bau. Folglich erhielt ich den Befehl, die Uniform wieder zu fassen. Ich schickte den Befehl zurück und bekam dafür zwei Monate Gefängnis und verlor für drei Jahre das Aktivbürgerrecht, das heisst, ich durfte nicht mehr abstimmen. Als sich ein Jahr später dasselbe wiederholte, bekam ich vier Monate. Man schloss mich aber vorerst nicht aus der Armee aus, sondern schickte mich zum Psychiater. Das Gutachten des Psychiaters wurde vom Gericht mit einer Stimme Mehrheit akzeptiert und ich wurde dienstuntauglich erklärt. Danach musste ich wieder Militärsteuer zahlen. Für die Verweigerung dieses Betrags gab es jedes Jahr zehn Tage Gefängnis. 1969, bei der zwanzigsten Verurteilung, feierte ich ein Jubiläum mit einigen Leuten, die mich begleiteten. Am Schluss bekam ich sogar «Rabatt», ich musste nur noch sieben Tage sitzen.

Nach dem Krieg hast Du internationalen Zivildienst geleistet. Wie kamst Du dazu?

1947 las ich in einer Zeitung ein Inserat, in dem Freiwillige für einen Einsatz in Jugoslawien gesucht wurden. Es sollte eine Eisenbahnlinie erstellt werden. Mit Pickel und Schaufel machten wir einen Damm. Die Begeisterung der jugoslawischen Arbeiter steckte uns an. Diese Arbeit ist nicht zu vergleichen mit dem, was wir für Geld tun. Unsere Arbeit kam allen zugute, niemand verdiente an uns. Hier lernte ich Leute der Schweizer Zweiges des Internationalen Zivildienstes (SCI) kennen. Insgesamt habe ich etwa ein Jahr Freiwilligenarbeit in Deutschland, Frankreich und in der Schweiz geleistet.

Was hältst Du von solchen Einsätzen? Sind sie friedenspolitisch sinnvoll?

Bei solcher Arbeit spürt man nichts mehr von Unterschieden der Nationalität, alle sind gleichgestellt. Das war wichtig, weil der Krieg noch in den Köpfen der Leute war. Nach diesen Einsätzen hatten wir Freiwillige das Gefühl, dass es nie mehr Krieg geben wird.

Kommen wir etwas näher zur Gegenwart. Wann hast Du zum ersten Mal von der GSoA gehört?

Die Religiös-Sozialen, denen ich angehöre, führten 1982 eine Veranstaltung zum Projekt der Armeeabschaffunginitiative mit Andi Gross durch. Die Idee hat mich sofort begeistert. 1983 trat ich der GSoA bei. Nach der Lancierung 1985 habe ich über 1200 Unterschriften gesammelt, sehr oft auch allein. Jedesmal war ich erfreut über die unerwartet positiven Reaktionen der Leute. Die erste Initiative war völlig meine Sache. Bei der zweiten habe ich nicht so an den Diskussionen teilgenommen. Von Anfang an war da etwas, das mich störte: der Passus über die 800 Bewaffneten, der dann glücklicherweise geändert wurde. Ich hatte auch Bedenken, wir seien nicht stark genug.

Hast Du die Arbeit an neuen Initiativen von Beginn an befürwortet?

Ja, klar.

Du bist seit über 50 Jahren in der Friedensbewegung aktiv. Welchen Eindruck hast Du von den Diskussionen um bewaffnete «humanitäre» Einsätze?

Ich kann gut verstehen, dass die Menschen verzweifelt waren, als sie die schrecklichen Nachrichten vom Krieg im ehemaligen Jugoslawien hörten. Wir haben im Zürcher Friedensforum intensiv darüber diskutiert, ohne zu einer gemeinsamen Position zu finden. Persönlich bin ich nicht im geringsten überzeugt, dass dieser Krieg mit militärischen Mitteln hätte gestoppt werden können.

Wenn eine gewaltfreie Strategie einmal scheitert – und solche Versuche gab es in Bosnien – bedeutet das nicht, dass sie immer scheitert. Man muss es wieder probieren. Darum hatte ich Mühe mit dem «Blauhelm»-Passus im ersten Entwurf der neuen Armeeabschaffungsinitiative. Ich kann die Argumente für Blauhelme zwar verstehen, aber es ist nicht meine Aufgabe, sie zu unterstützen. Meine Erfahrungen führen mich zu einem radikalen Nein zu militärischer Gewalt. Ich habe die Aufgabe, an die zerstörerischen Folgen militärischer Gewalt zu erinnern, auch für diejenigen, die sie ausüben und auch dann, wenn der Einsatz im politischen Umfeld gerechtfertigt werden kann.

Wie bringst Du diese Haltung in Übereinstimmung mit Deinen Erlebnissen in Danzig? Die Rote Armee hat doch den Nationalsozialismus bekämpft?

Ohne die russische Armee wäre die Befreiung nicht möglich gewesen. Wir haben sie auch gefeiert. Aber ich habe die Kehrseite erlebt und ich empfinde es als meine Aufgabe, diese Erfahrung weiterzugeben. Der Widerspruch zwischen Befreiung und Zerstörung darf nicht vergessen werden.

Ich habe nie von meinen Söhnen erwartet, dass sie verweigern würden. Sie haben nicht dasselbe erlebt wie ich. Später, während des algerischen Befreiungskampfes, habe ich mitgeholfen, verfolgte Algerier aus Frankreich in die Schweiz und von da nach Deutschland zu schleusen. Mit ihnen habe ich oft über ihre Erfahrungen gesprochen und ich muss sagen: Ich bin nicht sicher, wie ich an ihrer Stelle gehandelt hätte. Es gibt vielleicht Situationen, in denen man sich nicht anders verhalten kann, gemäss Gandhi, der gesagt hat: Lieber noch mit dem Schwert kämpfen als feige sein.

Welche friedenspolitischen Chancen siehst Du in der Initiative für einen Zivilen Friedensdienst?

Ich war ja selber in diesem Sinne tätig im Internationalen Zivildienst. Wichtig ist vor allem die grenzüberschreitende Zusammenarbeit. Die Initiative ist ein guter Anstoss dazu. Es darf aber nicht dazu kommen, dass SchweizerInnen sich berufen fühlen, überall auf der Welt für den Frieden zu sorgen. Man müsste ja auch in der Schweiz einiges machen, zum Beispiel von neuem für die Verhinderung des Waffenexports kämpfen, gegen Rassismus einstehen undsoweiter. Solche Dinge kommen für mich zuerst. Eine Inderin der Gandhi-Bewegung sagte kürzlich in einem Vortrag, sie seien nicht auf Hilfe von aussen angewiesen, sie müssten ihre Probleme selber lösen.

Den Zivilen Friedensdienst sehe ich als Alternative zu Blauhelmeinsätzen. Er kann nur ein bescheidener Beitrag der Schweiz sein, aber er zeigt in die richtige Richtung.

 

*Hansheiri Zürrer feierte dieses Jahr seinen achtzigsten Geburtstag. Wir gratulieren!

 

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