Neue Mehrheiten

Der Schweiz stehen wichtige sicherheits- und friedenspolitische Entscheidungen bevor. Wer hat was dazu zu sagen? Eine Auslegeordnung

Vor zwei Jahren, in der GSoA-Zitig vom November 1996, diskutierten Renate Schoch und ich mit Andreas Gross über die möglichen Auswirkungen von neuen GSoA-Initiativen auf das Lager der armeebefürwortenden Kräfte. Gross meinte damals: «Wenn wir wieder mit der klaren Forderung der Abschaffung kommen, dann schliesst sich der verunsicherte Haufen zu einem Block gegen uns zusammen.» Diese Vorhersage, damals eines der Hauptargumente von Gross für die Ablehnung der neuen GSoA-Initiativen, hat sich bis jetzt nicht bewahrheitet. Das wird auch in absehbarer Zukunft so bleiben. Der alte «militärische Block» ist definitiv auseinandergefallen, und die neuen sicherheitspolitischen Positionen der wichtigsten politischen Kräfte kristallisieren sich immer deutlicher heraus.

Die Nationalkonservativen …

Die Veränderungen in der sicherheitspolitischen Diskussion sind auch Ausdruck eines irreversiblen Bruches der politischen «Identität» der Schweiz seit 1989. Im Hinblick auf bevorstehende aussen- und sicherheitspolitische Auseinandersetzungen – bewaffnete Auslandeinsätze der Armee, SP-Armee-Halbierungsinitiative, GSoA-Initiativen, Ausbau der Kooperation mit der Nato bis hin zum Beitritt – lohnt sich ein kleiner Überblick über die veränderte Ausgangslage.

Der Mythos der «bewaffneten Neutralität», welcher im Zentrum der jahrzehntelang dominierenden Staatsauffassung stand, ist seit der ersten GSoA-Abstimmung vom November 1989 politisch marginalisiert worden. Er wird heute nur noch von der nationalkonservativen Opposition um Christoph Blocher, Zürcher SVP und Auns bedingungslos vertreten. In der Armee befindet sich diese bis vor kurzem noch sakrosankte Position auf dem strategischen Rückzug.

Blocher selbst hat im April dieses Jahres in einem grösseren Essay die Leitplanken für das sicherheitspolitische Denken der Nationalkonservativen festgelegt. Die wichtigsten Grundgedanken lauten: Kriege sind unvermeidbar; Kriege sind schrecklich, und es lohnt sich daher, sich nicht darin verwickeln zu lassen; Kriege, die nicht auf dem Territorium der Schweiz geführt werden, gehen uns zum Glück nichts an; die bewaffnete Neutralität ist das beste Mittel, die Kriegsgefahr von der Schweiz abzuwenden. Angesichts der internationalen Entwicklung nach dem Ende des Kalten Krieges wird das Verhältnis zur Nato immer mehr zur neutralitätspolitischen Gretchenfrage für die Nationalkonservativen. Blocher spricht diesbezüglich Klartext: Die Nato sei für die USA «ihr Instrument zur militärischen Führung, heute auf dem eurasischen Kontinent, morgen auf der ganzen Welt. Weltpolitische Ordnungsaufgaben sind im Visier.» Die Schweiz dürfe daher nicht zum «Anhängsel der Friedensmacht Nato» werden.

Anlässlich der jüngsten Krise im Asylwesen demonstriert Blochers SVP-Fraktionskollege und Schweizerzeit-Redaktor Ulrich Schlüer die chauvinistische Seite dieser Haltung. In halbseitigen Zeitungsinseraten mit dem Titel «Keine Soldaten nach Kosovo» verkündete Schlüer, statt der Nato Gefälligkeiten erweisen zu wollen, solle der Bundesrat endlich die Armee gegen die «illegale Einwanderung» einsetzen. «Für den Schutz des eigenen Landes ist ihm [Ogi] unsere Armee jedoch zu schade. Er will sie vielmehr in fremden Ländern einsetzen, auf dass endlich auch Schweizer Bundesräte an den sie so magisch anziehenden Konferenztischen von Nato und Uno Platz nehmen dürfen.»

… die Modernisierer …

Die Nationalkonservativen schlagen den Esel (Bundesrat) und meinen den Sack: ihre ehemaligen Partner aus dem Bürgerblock. Tatsächlich haben sich vor allem die Freisinnigen in den letzten Jahren sukzessive vom staats- und sicherheitspolitischen Igel-Denken verabschiedet. Noch im Juni 1995 begnügte sich die FDP mit der nebulösen Zauberformel von der «sicherheitspolitischen Schicksalsgemeinschaft mit Europa». In einem Positionspapier des FDP-Delegiertenrates hiess es vorsichtig: «Der autonomen Verteidigung des Kleinstaates sind vorab aus technischen Gründen ohnehin zunehmend Grenzen gesetzt. Die Möglichkeit internationaler Zusammenarbeit innerhalb der Schranken, die uns die Neutralität setzt, sind deshalb auszuloten.»

Ihm Rahmen ihrer am 25. Oktober 1998 vorgestellten Zukunftsvision mit dem Titel «Unsere Schweiz 1999-2007» hat die FDP jetzt als erste Schweizer Partei ausgedeutscht, wohin die bürgerliche Modernisierung führen soll: Sie fordert bis zum Jahr 2003 die «Anpassung und Eingliederung der Armee» an beziehungweise in den «Nato/Uno-Verbund» und generell die «aktive Mitwirkung bei der Bewältigung grenzüberschreitender Herausforderungen».

Die an der Nato orientierte Modernisierungsposition ist heute im Offizierskorps der Schweizer Armee zweifellos mehreitsfähig. Konservativ-kritische Stimmen landen dort zunehmend auf dem Abstellgleis. Bundesrat und VBS folgen diesem Kurs in gebührendem Sicherheitsabstand. Sie üben sich in integrativer Sowohl-als-auch-Rhetorik nach dem Schema: «Eine Annäherung an den EU-Sicherheitsraum suchen und gleichzeitig auch das innere Sicherheitsdispositiv verstärken» (VBS-Begleitpapier zum Bunner-Bericht).

… und wir?

Während sich die Massenmedien am bürgerlichen Bruderzwist um die Zukunft ihrer Armee weiden, vollzieht sich die friedenspolitische Neuorientierung der armeekritischen Kräfte fast unter Ausschluss der Öffentlichkeit. Auch Teile der Linken, insbesondere in der staatstragenden Sozialdemokratie, stützten im Kalten Krieg die helvetische Igel-Ideologie. Aber die sicherheitspolitische Frage nach 1989 hat die Linke im Unterschied zum Bürgerblock nicht gespalten. Im Gegenteil: Die schon lange bestehenden ideologischen Gräben zwischen den linken AnhängerInnen und GegnerInnen der «bewaffneten Neutralität» haben an Bedeutung verloren. Die allgemeine Forderung nach einer neuen Aussen-, Sicherheits- und Friedenspolitik ist hier kaum umstritten. Linke Landesverteidigungs-Nostalgie gibt es heute nicht.

Das Problem liegt anderswo. Im neuen Grundlagenpapier der SP «für eine wirksame Friedens- und Sicherheitspolitik als Teil einer

Eine «Einheitsfront» gegen Blochers nationalkonservative Bewegung ist kein Ersatz für eine alternative, armeekritische Sicherheitspolitik. Nötig sind vielmehr überzeugende friedenspolitische Zukunftsperspektiven.

solidarischen Aussenpolitik» (vgl. das Interview mit Ursula Koch) steckt zwar viel wertvolle Konkretisierungsarbeit. Der sozialdemokratische Öffnungs-Diskurs bleibt aber weiterhin ähnlich institutionenzentriert wie die bürgerliche Modernisierungs-Variante. Seine visionäre Kraft ist daher begrenzt; zu sehr hängt er von den realpolitischen Entwicklungen im internationalen Organisationen-Dschungel ab. Solange die Nato als die einzige verlässliche Sicherheitsagentur auftritt, steht antimilitaristisches oder gar pazifistisches Engagement paradoxerweise unter dem Verdacht des Isolationismus.

Das SP-Papier spricht zudem das friedenspolitische Potential der Zivilgesellschaften nur kurz an und blen- det neue Konfliktbearbeitungsansätze (ZFD) aus. Vielleicht erklären diese Defizite bei der Formulierung einer positiven friedenspolitischen Alternative, warum die SP den endgültigen Bruch mit dem Landesverteidigungsgedanken immer noch nicht vollzogen hat – gegen die Logik ihrer eigenen Analyse.

Eine friedenspolitische Plattform

Wenn im Verlauf des Jahres 1999 über bewaffnete Auslandeinsätze der Schweizer Armee diskutiert wird, werden sich Nationalkonservative und bürgerliche Modernisierer unversöhnlich gegenüberstehen. Wir werden es in diesem Konflikt sehr schwer haben, unsere eigene Position einer zivilen Solidariät verständlich zu machen. Und mit der Halbierungsinitiative der SP laufen wir Gefahr, eine verspätete Reformdiskussion gegen die Kalten Krieger und gegen die heissen Reformer gleichzeitig zu verlieren.

Im Interesse einer «wirksamen und kohärenten Friedens- und Sicherheits-politik» ist die SP auf der Suche nach «neuen Bündnissen und neuen Mehrheiten im Mitte-Links-Spektrum» (Grundlagenpapier). Gemeinsam mit den «fortschrittlichen Kräften in der FDP und CVP» will sie «klare Mehrheitsverhältnisse» schaffen. Bleibt zu hoffen, dass der auf diesem Weg angestrebte friedenspolitische Fortschritt nicht in eine zweifellos «fortschreitende», aber deshalb nicht weniger militaristische Nato-Sicherheitsarchitektur führt. Will die armeekritische Linke in den bevorstehenden sicherheitspolitischen Debatten nicht untergehen, muss sie jedenfalls eigenständige Alternativen glaubwürdig vermitteln können. Eine gemeinsame Diskussion und eine inhaltlich möglichst verbindliche Plattform aller friedenspolitisch engagierten Kräfte, inklusive SP, wäre ein wichtiger Schritt in dieser Richtung.

 

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