Brunnerbericht

Der Brunnerbericht befasste sich 1997 mit der Neuausrichtung der Armeepolitik. Er fand die neuen Aufgaben, um die sich die Armee seither bemüht: Repression im Inland, bewaffnete Auslandeinsätze und die Katastrophenhilfe. Mitglieder der GSoA haben sich in verschiedenen Texten zu diesem Bericht geäussert:

Bericht der Komission Brunner: Bedrohung fehlt – Armee bleibt

von Hans Hartmann

Der Armee-Bericht der «Studienkommission Brunner» bewegt sich in den Bahnen jener nebulösen Paradoxallogik, welche das Militärdepartement seit Jahren vorspurt: Die Schweiz ist militärisch nicht mehr bedroht – also schicken wir die Armee überall hin, wo sie wenigstens den Eindruck der Nützlichkeit erwecken könnte. Zur Abwehr der aktuellen Bedrohungen sind «nicht primär militärische Mittel nötig» (Bericht) – also machen wir die Armee für die Bewältigung dieser Bedrohungen fit. Nicht um Sinn beziehungsweise Unsinn der Armee geht es in dieser «Reformdebatte», sondern um ihre Anpassung an neue Angstszenarien.

Prostitution u.a.m.

Das Motto des Brunner-Berichtes lautet daher: alles vorschlagen, was der Armee in Zukunft als Geschäftsgrundlage dienen könnte. Besonders eindrücklich ist das Panoptikum der Bedrohungen, das zu diesem Zweck ausgebreitet wird: Naturkatastrophen, Freisetzung hochtoxischer Stoffe oder Krankheitserreger, mächtige Verbrechernetze, Waffen- und Drogenhandel, Prostitution, Menschenhandel und Verschleppung, Geldwäscherei, Schutzgelderpressung, Korruption, Terrorismus, extremistische Randgruppen, Weiterverbreitung von Massenvernichtungswaffen, Atomkoffer, Raketenangriffe, wirtschaftliche Druckversuche, Ausschluss aus Märkten, Handelshemmnisse, politische und moralische Einschüchterung, Boykotte, Erpressung, Sabotage, unkontrollierte Migrationsbewegungen, illegales Abhören, Spionage, Einschleusen falscher Informationen, Störung von Informatiksystemen … Das dürfte für einen ersten Eindruck reichen.

Der Bericht bietet also zeitgemässe Armeepropaganda, mehr nicht, und man könnte zur Tagesordnung übergehen. Man könnte – wäre da nicht die unerträgliche Verwirrung, welche die ganze Armeereform-Debatte in einigen fortschrittlichen Köpfen angerichtet hat. Was beispielsweise der bekennende Pazifist Andreas Gross als Kommissionmitglied da alles mitunterschreibt, ist doch bemerkenswert. Ich muss die LeserInnen wieder mit einer Aufzählung langweilen: die Beibehaltung von militärischen «Kernkompetenzen» und einer «glaubwürdigen autonomen militärischen Verteidigung», die gezielte Aufrüstung der Armee mit mehr «Flieger- und Raketenabwehr» und «neuen High-Tech-Waffen», ein professionelles Armee-«Einsatzkorps» für innere Einsätze, «Anti-Terror-Einsätze» und «punktuelle Auslandeinsätze», die militärische Flüchtlingsabwehr «in ausserordentlichen Situationen», die Einrichtung eines «verwaltungsunabhängigen Sicherheitsrates», die «Verstärkung der Kompetenzen des Bundespräsidenten» beim «Krisenmanagement», die Ausweitung der «Aktivitäten des Nachrichtendienstes», die Zusammenarbeit von Nachrichtendiensten, Polizei und Armee, die «grenzüberschreitende polizeiliche Zusammenarbeit» und die Bespitzelung im Rahmen des «Schengener Informationssystems».

Gefährlicher Irrtum

Die Verwirrung hat einen Namen, eine Ursache und gefährliche Konsequenzen. Ihr Name lautet: Christoph Blocher. Die Ursache liegt in der Bereitschaft einiger Linker, die Armeedebatte für eine falsch verstandene Europa-Diskussion zu instrumentalisieren. Die Hauptbotschaft des Berichts, so Andreas Gross in der WoZ (Nr. 9/98 vom 26. Februar), sei «die Forderung, dass die Schweiz sich öffnen muss». Das ist falsch. Die Hauptbotschaft des Berichtes lautet, dass die «Öffnung» der Schweiz nur über die militärische Hintertür zu haben ist, und dass unsere «Solidarität» und «Würde» sich an der Akzeptanz messen, welche unsere Armee bei den Nato-Partnern geniesst.

Die Konsequenzen: Was die Schweiz zur Beseitigung der realen Konfliktursachen und sicherheitspolitischen Bedrohungen beitragen könnte, interessiert die Kommission nicht. Die Uno erscheint im Bericht lediglich als Agentur, welche ab und zu Militärinterventionen mit ihrem Gütesiegel versieht. Die Nato hingegen wird zur «einzigen glaubwürdigen Sicherheitsorganisation in Europa», zur «ultima ratio» in politischen und militärischen Krisen stilisiert. Die OSZE, ihre finanziell kleingehaltene zivile Alternative, ist der Kommission gerade mal zwei beiläufige Erwähnungen wert. Über zivile Ansätze der gewaltfreien Konfliktbearbeitung von unten schweigt sie sich ganz aus. Von den transnationalen Netzen zivilgesellschaftlicher Solidarität – kein Wort. Zivile Sicherheitspolitik bleibt in Bundesbern undenkbar.

Die Komission begnügt sich damit, zwecks Neulegitimierung der Schweizer Armee die Heiligenbildchen auszuwechseln: Schwupp, runter mit der bewaffneten Neutralität, und hopp, her mit der bewaffneten Solidarität. Ein «Schweizer Solidaritätskorps» soll dafür sorgen. Über die Einsatzkriterien für die neue Truppe erfahren wir ebensoviel wie über ihre mögliche Grösse und den zu erwartenden Bedarf, nämlich nichts. Klar ist für die Kommission nur eins: Kriegstauglich muss sie sein, denn dass Schweizer Soldaten «vom indirekten Schutz der SFOR-Truppen» abhängig seien, «verträgt sich schlecht mit unserer Würde». Und: Der «Kontakt mit anderen Armeen» und mit «echten Gefahren» käme «der ganzen Armee zugute».

Wie etwa der deutschen Bundeswehr: Deren katholische Feldprediger haben auf ihrer Jahresversammlung 1997 erkannt, dass die Vorbereitungen der Bundeswehr auf Auslandeinsätze den Nährboden für die rechtsextreme Infiltration bilden. Der Ernstfall ändere das Bewusstsein der Soldaten und ziehe ein anderes Spektrum von Wehrpflichtigen an. Auch die Brunner-Kommission will ja mit dem Solidaritätskorps «die Motivation junger Bürgerinnen und Bürger fördern». Kein Wunder, adelt sie die Armee – ebenso unkritisch wie präventiv – zur «demokratischen Institution».

In der Weltwoche feierte Fredy Gsteiger nach Erscheinen des Berichts Armee und Zivilschutz nicht nur als «Speerspitze des Fortschritts», er setzt auch noch in Sachen gelebter Solidarität eins oben drauf: «Selbstverständlich» müssten «die entsandten Eidgenossen» bewaffnet sein – wer wolle denn schon «unsere Soldaten von Jordaniern und Senegalesen» beschützen lassen. Endlich dürfen auch eidgenössische Leitartikler über Würde und Waffen, Krieg und Tod räsonieren, als ginge es um den Medaillenspiegel von Nagano.

Es ist erstaunlich genug, dass in einem Streitgespräch zwischen einem linken Pazifisten und einem nationalkonservativen Landesverteidiger letzterer darauf hinweisen muss, dass Militärbündnisse immer erklären, sie strebten den Frieden an, dass es aber ein wenig naiv wäre, diesen Beteuerungen Glauben zu schenken (Gross und Blocher in der Weltwoche vom 26.2.98). Geradezu tragisch ist aber der Irrglaube, das helvetische Sonderfall-Denken könne über die militärische Hintertür ausgehebelt werden. Der Sonderfall wird bloss ein wenig grösser: Statt einem Promille der Weltbevölkerung soll er in Zukunft einige Prozent umfassen. Die Kommission hat sich nicht einmal die Mühe gemacht, das zu vertuschen: Ihre Solidarität soll nämlich lediglich «mit jenen Ländern aufgebaut werden, deren Interessen mit den unseren Übereinstimmen». Schaffen wir den Anschluss an den europäischen «Sicherheitsraum», werden wir mit den «übersteigerten Nationalismen oder religiösen Fundamentalismen», die da draussen in «den nahen oder fernen Krisenherden» wüten, mit den «militanten ausländischen Gruppierungen, mafiosen Organisationen und kriminellen Banden», die über der Schweiz hereinbrechen, schon fertig. Die heilige Kuh kommt von der Sonderfall-Alp am Gotthard herunter – aber nur, um in den warmen Sonderfall-Stall der glücklichen Nato-Kühe einzuziehen.

Paradigmenwechsel

Der militärpolitische Paradigmenwechsel ist, von der Öffentlichkeit beinahe unbemerkt, schon vollzogen worden. Nach der Nato haben auch die einheimischen Armee-Ideologen den zentralen Schalthebel umgelegt: Die Armee gilt nicht mehr als sinnvoll, insofern sie per Abschreckung den imaginären Krieg fernhält, sondern insofern sie sich per Intervention gelegentlich ganz real daran beteiligt. Die Militärs formieren sich neu. Derweil ruht sich ein Teil der friedliebenden Linken auf den pazifistischen Lorbeeren von vorgestern aus.

Divisionär a. D. Gustav Däniker bringt die politische Bedeutung des Berichts «Brunner» auf den Punkt: es sei «ein Signal, wenn Armeeabschaffer Gross keine Hemmungen hat, sich einem Modell anzuschliessen, das die militärische Komponente so prominent einschliesst. Bundesrat Ogi und seine Generalität können ihren bereits seit einger Zeit eingeschlagenen Weg getrost fortsetzen.» Ein inakzeptables Signal. Die Diskussion über die Zukunft der Sicherheitspolitik und die politische Öffnung der Schweiz darf sich nicht auf die beiden militärischen Optionen «bewaffneter Alleingang» und «Nato-Beitritt» beschränken. Die GSoA vertritt eine Alternative: Ziviler Internationalismus statt militärische Abwehrphantasien. Am 17. März 1998 starten die beiden, von immer mehr Organisationen unterstützten Volksinitiativen für einen freiwilligen Zivilen Friedensdienst und für eine Schweiz ohne Armee.

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Ohne Feind zu allem fähig

Die militärische Sicherheitspolitik internationalisiert sich mit rasendem Tempo. Der Feind blieb zwar 1989 auf der Strecke. Die Militärspitzen kommen aber ganz gut ohne zurecht und basteln rege an der neuen – gemeinsamen – Verteidigungsidentität. Die Nato fährt auf dem Highway. Und wir Friedensbewegte sitzen mit unseren zivilen Ideen und Konzepten bisweilen im Stau. Die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) lanciert am 17. März 1998 zwei Volksinitiativen und will so mehr Menschen motivieren, auf der zivilen Schiene zu überholen.

Von Hans Hartmann, Josef Lang und Nico Lutz

Sicherheit durch Abschreckung: Das war die falsche Antwort der Armeen auf die alten Fragen vor 1989. Gegen die absurde Idee, Sicherheit sei durch gegenseitiges Wettrüsten zu garantieren, mobilisierte sich die internationale Friedensbewegung. Es gab einen breiten Konsens gegen den Rüstungswettlauf, gegen die Stationierung von Atomwaffen und gegen die Konzeption des atomaren Erstschlages. 1989 haben nicht nur die Armeen in Ost und West ihren traditionellen Feind verloren. Auch die bewährten Antworten der westeuropäischen Friedensbewegung passten immer weniger zu einer sich rasant verändernden Problemwahrnehmung. Spätestens seit den Kriegen im ehemaligen Jugoslawien gewann der bellizistische Kurzschluss auch innerhalb der Linken an Boden.

Es stimmt: Seit 1989 nehmen innerstaatliche Kriege in der öffentlichen Diskussion einen breiteren Raum ein. Zu behaupten, diese Konflikte seien grundlegend neu, blendet jedoch die bittere Realität, wie sie sich in diesem Jahrhundert in Afrika, Asien und Lateinamerika laufend abspielte, völlig aus. Wenn man – etwa wie einzelne Exponenten der deutschen Grünen – “Srebrenica” nicht nur zum Wendepunkt für die westliche Friedensbewegung stilisiert, sondern als Fanal für einen globalen Militärinterventionismus deutet, ist dies vor allem eine neue Variante eurozentrischer Kurzsichtigkeit: Eurozentrisch, weil diese Haltung ihre moralischen Energien aus dem Entsetzen darüber bezieht, dass Europa doch nicht der Hort friedlicher Stabilität in einer chaotischen Welt ist; Kurzsichtigkeit, weil Friedenspolitik, die auf Phantasien repressiver Stabilisierung aufbaut, langfristig noch mehr Konfliktpotential schafft. Für die grosse Mehrheit der Menschheit hat sich 1989 kaum etwas verändert. Für die Armeen der westlichen Länder hingegen sehr viel: Sicherheit durch Abschreckung, ihre selbstdefinierte Existenzberechtigung, ist hinfällig geworden.

Armeen kosten eine Unmenge von Geld. Die Budgetsituation in vielen westlichen Staaten – von den Staaten Osteuropas ganz zu schweigen – ist kritisch. Der Druck auf die Militärausgaben hat in den vergangenen Jahren massiv zugenommen. Nur: Wenn etwas billiger wird, wird es damit noch lange nicht sinnvoller. Die zentrale Frage für die westlichen Armeen ist heute: Wofür braucht es sie noch und wo nur finden sie neue Legitimation?

 Instabilität heisst der neue Feind

«Democratic Enlargement» heisst das neue Stichwort.1) Was unter dieser schönen Phrase zu verstehen ist, konkretisierte die US-Regierung in einem Anfang 1995 veröffentlichten Schlüsseldokument: Bill Clinton schrieb dort, die USA werde, wann immer ihre nationalen Sicherheitsinteressen bedroht seien, notfalls Gewalt einsetzen.2) George Bushs Begriff der neuen Weltordnung ist zwar aus den Leitartikeln der Zeitungen verschwunden. Was Clinton präsentiert, ist aber nichts anderes als alter Wein in neuen Schläuchen. «Die Verteidigung des US-Territoriums, der Bürger und der Alliierten sowie des ökonomischen Wohlstandes» könne die «einseitige und entscheidende Anwendung militärischer Gewalt» nötig machen. Noch unverblümter begründete im März 1996 Anthony Lake, damals Clintons Sicherheitsberater, den zukünftigen Einsatz militärischer Gewalt mit der «Verteidigung ökonomischer Interessen, worin die meisten Amerikaner die wichtigste Aufgabe für unser internationales Engagement sehen».3)

Aber «Democratic Enlargement» ist darüber hinaus ein geopolitisch-militärisches Konzept, das die Kategorien nationaler Sicherheit potentiell sprengt. Es ist der Kern einer neuartigen Denkweise, in der sich nicht mehr primär Nationalstaaten mit ihren waffenstarrenden Armeen gegenüberstehen werden, sondern die «Mächte der Ordnung» auf der einen und die finsteren Kräfte der «Instabilität» auf der anderen Seite. «Der Feind von heute heisst Instabilität», verkündete der deutsche Verteidigungsminister Volker Rühe am vergangenen 6. November im Ausbildungszentrum der Schweizerischen Bankgesellschaft.4) Vielleicht hat ihm das General John Sheenan, NATO Supreme Allied Commander (Atlantic), verraten, der unlängst in der Zeitschrift «Strategic Review» schrieb: «Heute ist Instabilität die hauptsächliche Bedrohung für Sicherheit in all ihren Dimensionen.»5)

Das alles tönt banal. Aber es ist nicht banaler als die Abschreckungsideologie des Kalten Krieges, die das (sicherheits)politische Denken während vier Jahrzehnten dominierte. Und diese neue Ideologie wird ebenso weitreichende Folgen haben. Es ist höchste Zeit, sie zu benennen: Setzt sie sich durch, wird das 21. Jahrhundert im Zeichen eines «Militärischen Globalismus» beginnen.

Militärischer Globalismus verwischt die Grenze zwischen internationaler Politik und Krieg. Ein Aspekt dieser Grenzüberschreitung ist die Politisierung der Armeen. Der abtretende US-Verteidigungsminister William J. Perry skizzierte vor Jahresfrist ein Konzept globaler Stabilität, in dem die Militärapparate zur weltweiten Verbreitung von Demokratie sowie zur «Verständigung unter den Nationen» massgeblich beitragen sollen.6) In vielen Ländern seien, so Perry, die Armeen die stabilsten Institutionen überhaupt, welche «einen grossen Prozentsatz der gebildeten Eliten» versammelten. Die USA hätten ein vitales Interesse daran, dass sich etwa die Armeen des ehemaligen Ostblocks in Situationen gesellschaftlicher Krisen auf die Seite von Demokratie und wirtschaftlicher Reform stellten und «eine positive Rolle bei der Lösung der Krise» spielten. Friede sei «zu wichtig, um ihn nur den Politikern zu überlassen».

Die Politisierung der Armeen findet ihre Entsprechung in der Militarisierung von Politik. So definierte Anthony Lake weitere «Interessen», für deren Durchsetzung der weltweite Einsatz von Militär ein notwendiges und gerechtfertigtes Mittel sei: die Verbreitung und Verteidigung von Demokratie, den Kampf gegen Terrorismus, internationales Verbrechen und Drogenhandel sowie gegen die Verbreitung von Massenvernichtungsmitteln, den Erhalt der Glaubwürdigkeit Amerikas als sicherheitspolitischen Partner und schliesslich «humanitäre Anliegen, die Bekämpfung von Hungersnöten, Naturkatastrophen und von Verletzungen der Menschenrechte». Es stellt sich die Frage, wofür oder wogegen Armeen in Zukunft eigentlich nicht eingesetzt werden sollen.

Alle steigen um

In den USA ist der «Militärische Globalismus» heute schon die gemeinsame ideologische Basis, auf der Sicherheitspolitiker, Pentagon und die verschiedenen Truppengattungen ihren Streit um Budgetanteile und Modernisierungspläne austragen – unangefochten von fundamentalen Legitimationsproblemen. Auch für Deutschland fordert Jürgen Rose, Oberstleutnant der deutschen Bundeswehr, in einem Artikel in der «Neuen Zürcher Zeitung» das Umdenken der Militärstrategen: «Zunächst birgt der immer wieder vorgetragene Verweis auf die Landesverteidigung als Hauptaufgabe der Bundeswehr ein fatales Risiko: Hebt man nämlich zugleich hervor, dass Deutschland nur mehr von Partnern umgeben ist und deshalb nicht bedroht sei, so könnte beim Bürger der Eindruck entstehen, dass die Armee im Grunde genommen überflüssig sei. Die seit geraumer Zeit existierende Kampagne «Bundesrepublik ohne Armee» könnte Zulauf erhalten, wie dies schon in der Schweiz mit der Gruppe für eine Schweiz ohne Armee geschehen war.»7) Folgerichtig fordert er: Ein Beitrag zu einem kollektiven Sicherheitssystem und nicht mehr die Landesverteidigung gehöre zum Primärauftrag der Bundeswehr.

Andere Armeen befinden sich in einer weniger komfortablen Position. Besonders in Ländern, in denen Sicherheit während dem Kalten Krieg vor allem im Rahmen autonomer, militärischer Verteidigung gedacht wurde, sind die ideologischen Kosten für den Umstieg auf den militärischen Globalismus hoch. Paradebeispiel dafür ist die Schweiz. Die helvetische Doktrin der «bewaffneten Neutralität» und der autonomen Verteidigungsfähigkeit waren wesentliche Bestandteile des schweizerischen sicherheitspolitischen Konsens. Beide waren seit jeher eine militärische Fiktion. Politisch waren sie aber derart real, dass der Schweizer Bundesrat noch vor weniger als zehn Jahren – anlässlich der Diskussion um die erste Initiative für eine Schweiz ohne Armee – behaupten konnte: «Die Schweiz hat keine Armee, sie ist eine.» Es versteht sich von selbst, dass sich das Selbstverständnis einer Armee nicht leichter verändern lässt, wenn davon auch noch die Identität einer ganzen Nation abhängt.

Die militärpolitische Diskussion, sofern sie in der Schweiz überhaupt geführt wurde, war daher in den letzten zehn Jahren vor allem eines: konfus. Nur undeutlich zeichneten sich die Umrisse eines konservativen, am militärischen «Alleingang» festhaltenden Lagers und einer «modernistischen», auf Professionalisierung und Integration in eine Euro-Armee hinzielenden Strömung ab. Inzwischen aber scheint der Richtungsstreit entschieden, bevor er richtig begonnen hat. Eine Alternative zur Anpassung an den Militärischen Globalismus ist für die Armee schlicht nicht in Sicht.

Armeen als Ausdruck internationaler Solidarität?

Selbst konservative Schweizer Militärvordenker, die über Jahrzehnte die Inkarnation der bewaffneten Neutralität darstellten, haben sich dazu entschlossen, «die sogenannte Autonome Verteidigungsfähigkeit» als «schweizerische Lebenslüge» zu verabschieden.8) Die Armee müsse vielmehr einen Beitrag zur «internationalen Stabilität» leisten, es gehe um «Solidarität» und eine «strategische Kurskorrektur im Sinne kooperativer Sicherheitspolitik».

Nachdem der erwartete Aufstand der Konservativen gegen den Beitritt der Schweiz zum Nato-Programm «Partnership for Peace (PfP)» ausblieb, beschränkt sich auch Verteidigungsminister Adolf Ogi nicht mehr darauf, die Armee rhetorisch auf der «Baustelle der Friedensförderung» zu plazieren. Dank PfP, erklärt der Schweizer Verteidigungsminister heute, «haben wir in der Aussenpolitik den Durchbruch erreicht. Darauf sind wir stolz. Der Zug fährt. Wir sind nicht in der ersten Klasse, nicht in der zweiten Klasse, sondern im Güterwagen. Aber wir sind dabei.»9)

Für Militärs und Sicherheitspolitiker auf der ganzen Welt ist der «Militärische Globalismus» eine attraktive Ideologie. Er entlastet erstens von der heute ziemlich lästigen Aufgabe, Militärausgaben mit konkreten Bedrohungen zu legitimieren. Er erweitert zweitens das Handlungsfeld der Armeen auf Problemkomplexe, die während dem Kalten Krieg unbeachtet blieben oder politischen Akteuren vorbehalten waren. Und vor allem absorbiert er die entscheidende Frage nach den politischen und strukturellen Ursachen von Gewalt.

Das Ende des Kalten Krieges hat zwar nationalstaatliche Verteidigungsideologien, nicht aber das militaristische Macht- und Kontrolldenken geschwächt. Im Gegenteil: Der «Militärische Globalismus» dient der Phantasie, soziale Konflikte liessen sich militärisch kompensieren. «Aus einer amerikanischen Perspektive ist die Notwendigkeit, uns sowohl diplomatisch als auch militärisch auf der ganzen Welt zu engagieren, ein natürliches Resultat der Globalisierung unserer Ökonomie», analysierte Nato-General Sheenan.

Die Frage ist, wie reagieren wir Friedensbewegte auf die Ideologie des Militärischen Globalismus? Soziale Basisbewegungen und speziell die Friedensbewegungen stehen weltweit vor der Herausforderung, solche militaristischen Reflexe wirksam zu kritisieren und eine politische Alternative zum Militärischen Globalismus zu skizzieren: gegenseitige, zivile Solidarität von unten über staatliche und gesellschaftliche Grenzen hinweg.

Solidarität schafft Sicherheit

In der Schweiz will die Gruppe für eine Schweiz ohne Armee (GSoA) einen solchen Ansatz mit zwei Volksinitiativen im März 1998 in die öffentliche Diskussion einbringen. Wenn je 100’000 stimmberechtigte BürgerInnen innerhalb von 18 Monaten die beiden Initiativen unterschreiben wird das Volk darüber an der Urne befinden können. Mit der Initiative “Solidarität schafft Sicherheit: Für einen freiwilligen zivilen Friedensdienst” geht es uns darum, eine breite Diskussion über Alternativen zu militärischen Kontrollphantasien zu führen. Sicherheit ist nicht ein staatliches – geschweige denn ein militärisches Projekt. Sie ist nicht das Resultat eines chirurgischen Eingriffes von schnellen – militärischen – Eingreiftruppen, sondern Ergebnis eines langfristigen Prozesses. Mit unserer Initiative wollen wir ein klares Zeichen setzen: Die Welt braucht keine Schweizer Soldaten, sondern einen Beitrag der Schweiz zur Stärkung der zivilen und gewaltfreien Konfliktbearbeitung. In der Verfassungsinitiative haben wir einige Grundsätze für die Arbeitsweise des Zivilen Friedensdienstes festgelegt: Friedensarbeit kann nur freiwillig erfolgen. Sie darf auch nur auf Anfrage der Betroffenen und in enger Zusammenarbeit mit lokalen Basisgruppen geleistet werden. Ferner darf der Zivile Friedensdienst nicht primär ein staatliches Konstrukt sein, das somit eng an die offiziellen schweizerischen Interessen gebunden wäre. Es geht vielmehr darum, die Schweiz dazu zu verpflichten, Nichtregierungsorganisationen wie beispielsweise Peace Brigades International oder Service civil International in ihrer Arbeit zu unterstützen. Schliesslich soll sich der Zivile Friedensdienst nicht nur auf die Bearbeitung von Gewaltverhältnissen im Ausland beschränken. Die Betrachtungsweise – hier Friede, dort Krieg – entspricht nicht der Realität. Gewalt gegen Frauen oder gegen Flüchtlinge ist der bittere Ernstfall auch in der Schweiz. Eine breite Grundausbildung in gewaltfreier Konfliktbearbeitung soll allen in der Schweiz lebenden Personen offen stehen und dazu beitragen, die Menschen für Gewaltsituationen zu Hause zu sensibilisieren sowie deren gewaltfreie Bearbeitung zu befördern.

Sicherheit statt Verteidigung

Die GSoA lanciert gleichzeitig eine zweite Volksinitiative: «Sicherheit statt Verteidigung: Für eine Schweiz ohne Armee». Die beiden Initiativen sind zwar verfassungsrechtlich unabhängig, aber in der Diskussion eng miteinander verhängt. So verknüpfen wir die Forderung nach ziviler Konfliktbearbeitung direkt mit einer radikalen Armeekritik. Wir stellen sicher, dass zivile Friedensdienste nicht bloss ein zusätzliches – ausgeklügeltes – Element einer militärischen Kontrollstrategie darstellen. Wir wollen kein Konzept, das im Friedensdienst die good guys versammelt, die versuchen, schweizerische Interessen nicht-militärisch durchzusetzen, und wenn das nicht klappt immer noch die bad guys, die Armee, bereit hält, um zum Rechten zu schauen. Zivile Friedensdienste dürfen keine Fortsetzung der Interessenpolitik mit gewaltfreien Mitteln sein, sie müssen auf einem alternativen Konflikt- und Sicherheitsverständnis beruhen.

Wir wehren uns mit der Initiative für eine Schweiz ohne Armee gegen die Vision eines obrigkeitlichen «Leviathan», der für Recht und Ordnung, Stabilität und Sicherheit sorgt, wie ihn Thomas Hobbes im 17. Jahrhundert gefordert hat. Der moderen Name für «Leviathan» heisst Nato – allerding baute die Hobbes‘sche Version auf einem allgemeinen Gesellschaftsvertrag und nicht auf einseitigen Machtinteressen. Wir fordern eine weltbürgerliche Alternative, wie sie Immanuel Kant im «Traktat zum ewigen Frieden» vertrat. Eine globale Zusammenarbeit im Rahmen einer «Republik freier verbündeter Völker». Wem der liberale Kant näher steht als der autoritäre Hobbes, der setzt auf eine demokratischere sowie zivilere UNO und OSZE statt auf die Nato, auf zivile Konfliktbearbeitung statt auf Armeen. Auf beides zu setzen heisst – man betrachte nur die finanziellen Ausgaben -, die Marginalisierung und Instrumentalisierung des Zivilen durch das Militärische zu fördern.

Wenn wir die Armee abschaffen wollen, dann nicht, weil wir meinen, es existieren keine Konflikte oder Bedrohungen. Wir sagen aber: Die Armee ist ein Teil des Problems und nicht der Lösung. Durch sie werden enorme finanzielle und personelle Ressorucen gebunden, die wir zur Bearbeitung der gravierenden globalen, sozialen und ökologischen Probleme dringend benötigen. Gesellschaftliche Missverständnisse bezüglich Sicherheit, wie die Armee eines darstellt, können wir uns nicht mehr leisten. Wir wollen keine Militarisierung der Schweizerischen Aussenpoliltik, nur weil die Armee im Moment nichts anderes zu tun weiss. Mit der Initiative «Sicherheit statt Verteidigung: Für eine Schweiz ohne Armee» wollen wir die Armee dorthin stellen, wo sie hingehört: zum Alteisen.

1) Vgl. dazu: Douglas Brinkley, Democratic Enlargement: The Clinton Doctrine, in: Foreign Policy, Spring 1997.

2) William J. Clinton: A National Security of Engagement and Enlargement, Washington D.C., February 1995.:

3) Rede an der George Washington University in Washington D.C. vom 6.3.1996. Vgl. Jürgen Rose, Präventive Verteidigung oder globale Hegemonie? Anmerkungen zur aktuellen aussen- und sicherheitspolitischen Strategie der USA. In: Vierteljahresschrift für Sicherheit und Frieden, Hamburg, 4/1996.

4) «Neue Zürcher Zeitung», 8. Nov. 1997.

5) John J. Sheenan, Building the Right Military for the 21st Century, in: Strategic Review, Summer 1997, Hg. vom United States Strategic Institute.

6) William J. Perry, Defense in the Age of Hope, in: Foreign Affairs, November/Dezember 1996. Vgl. auch Anm. 3.

7) «Neue Zürcher Zeitung», 5. Dez. 1997

8) Gustav Däniker, Die strategische Wende endlich akzeptieren und die nötigen Konsequenzen ziehen, in: Allgemeine Schweizer Militärzeitschrift, 3/1997.

9) Schweizer Fernsehen SF2, 21. September 1997.

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