Bagdad im Visier

Hans von Sponeck / Denis Halliday, ehemalige Koordinatoren des humanitären UN-Hilfsprogramms für den Irak

Die Sanktionen sind mörderisch – ein Angriff auf das Land wäre verbrecherisch

Eine bedeutende Veränderung der amerikanischen Politik gegenüber Irak wird vorbereitet. Es ist offensichtlich, dass Washington die zum Selbstzweck gewordene Eindämmung des irakischen Regimes beenden und zu einer Politik übergehen will, deren Ziel die gewaltsame Ablösung Saddam Husseins und seiner Regierung ist. Während dieser Übergang stattfindet, muss daran erinnert werden, dass die derzeitige Politik der Wirtschaftssanktionen verheerende Auswirkungen auf das irakische Volk hatte, eine Gesellschaft zerstörte und den Tod Tausender alter wie junger Menschen verursachte.

Die Urheber einer solchen Politik dürfen nicht länger annehmen, ihre Wähler damit zufrieden stellen zu können, dass sie jene verächtlich machen, die vor weiteren Verfehlungen warnen. Die breite Öffentlichkeit ist keineswegs unfähig, “grössere Zusammenhänge” zu verstehen wie die ehemalige Aussenministerin Madeleine Albright gern nahe legt. Im Gegenteil. Diese Zusammenhänge werden – sehr zur Frustration Washingtons und Londons – von den Normalbürgern gut verstanden. Wie könnten wir auch Henry Kissingers brutal offenes Eingeständnis vergessen, dass “Öl eine zu wichtige Ware sei, um sie in den Händen der Araber zu lassen”. Wie lange noch glauben demokratisch gewählte Regierungen damit durchzukommen, dass sie eine Politik rechtfertigen, die ein Volk für etwas bestraft, was es nicht getan hat? Wie lange noch will man umfassende Wirtschaftssanktionen aufrechterhalten, die Zivilisten treffen; wie lange noch Leben zerstören in der Hoffnung, dass jene, die übrig bleiben, sich erheben, um das Regime zu stürzen?

Ist internationales Recht nur auf Verlierer anwendbar? Dient die Sicherheit der Vereinten Nationen nur den Mächtigen? Professor Richard Falk von der Princeton University fragte unlängst, ob die westliche Welt an politischer Amnesie leide. Es sieht so aus. Wir denken jedoch, dass dem nicht so ist. Grossbritannien und die USA wissen als ständige Sicherheitsratsmitglieder ganz genau: Das UN-Embargo funktioniert nur, weil es die UN-Menschenrechtskonvention, die Genfer und die Haager Konventionen sowie andere internationale Gesetze bricht. Es ist weder anti-britisch, noch anti-amerikanisch, darauf hinzuweisen, dass Washington und London in den vergangenen zehn Jahren mehr als alle anderen dazu beigetragen haben, im Irak ein weiteres Kapitel der Geschichte vermeidbarer menschlicher Tragödien zu schreiben.

Die Regierungen Grossbritanniens und der USA haben nach dem Golfkrieg 1991 vorsätzlich eine Strafpolitik gegenüber Irak verfolgt. Beide waren stets dagegen, dass der UN-Sicherheitsrat seiner Verpflichtung nachkommt und die Wirkungen der eigenen Sanktionen auf die Zivilbevölkerung überprüft. Im Januar 1999 musste der Präsident des UN-Sicherheitsrates diesen an sein Überprüfungs-Mandat erinnern. Wir wissen von dieser ernsthaften Unterlassung aus erster Hand, da beide Regierungen wiederholt versuchten, uns davon abzuhalten, den Sicherheitsrat zu unterrichten. Die klägliche, von Washington und London festgesetzte Obergrenze für humanitäre Lieferungen von jährlich weniger als 170 Dollar pro Person im Rahmen des “Öl-für-Nahrungsmittel-Programms” liefert ein beredtes Zeugnis dafür.

Wir haben die Folgen vor Ort gesehen. Und es ist uns einfach unbegreiflich, wie US-Botschafter Cunningham am 5. Dezember vergangenen Jahres seinen Kollegen in die Augen blicken und verkünden konnte, die US-Regierung sei sehr befriedigt, “dass das Öl-für-Nahrungsmittel-Programm die Bedürfnisse des irakischen Volkes erfüllt”. Neben Lebensmitteln und Medikamenten geht es heute vor allem darum, die irakischen Öleinnahmen in den Wiederaufbau der im Golfkrieg zerstörten zivilen Infrastruktur zu investieren. Statt dessen aber werden – auf Geheiss der amerikanischen und britischen Regierung – 30 Cent von jedem Dollar, den der Irak durch Ölexporte verdient, zur Kompensation für Verluste verwandt, die Aussenstehende angeblich durch die irakische Invasion Kuwaits erlitten haben. Und dass, obwohl die Summe der erlaubten Öleinnahmen viel zu gering ist, um wenigstens die Minimalbedürfnisse des irakischen Volkes zu befriedigen. Dieses Geld hätte viele Leben retten können, wäre es für die Iraker verfügbar gewesen. Die unbequeme Wahrheit ist, dass der Westen das irakische Volk als Geisel hält, um dessen Führer zur Erfüllung ständig wechselnder Forderungen zu zwingen.

Nach Aussage eines ehemaligen deutschen Botschafters vor dem UN-Sicherheitsrat wurden die seit 1990 gegen den Irak angewandten Verfahrensregeln des Rates so verfälscht, dass es Bagdad fast unmöglich war, seinen Fall zur Sprache zu bringen. Der UN-Generalsekretär Kofi Annan, der auch weiterhin gern eine nützliche Mittlerrolle spielen möchte, wurde von den USA und Grossbritanniens wiederholt daran gehindert. Auch der verschwommene Charakter sämtlicher Irak-Resolutionen ist kein Zufall. “Schöpferische Zweideutigkeit” im diplomatischen Sprachgebrauch hat sich für Washington und London schon des öfteren als nützlich im Umgang mit solchen Konflikten wie im Irak erwiesen. All diese Einwände werden jedoch von beiden Regierungen regelmässig verworfen mit dem Hinweis, das irakische Volk würde von Bagdad bestraft. Wenn das stimmt: Warum bestrafen wir es dann noch zusätzlich? Der jüngste Bericht des UN-Generalsekretärs vom 31. Oktober 2001 bezeichnet die Blockierung humanitärer Hilfsgüter im Wert von vier Milliarden Dollar durch Washington und London als Haupthindernis bei der Umsetzung des “Öl-für-Nahrungsmittel-Programms”. Im Gegensatz dazu wird die Verteilung der Hilfsgüter durch die irakische Regierung als äusserst zufriedenstellend bezeichnet. Das war auch so, als wir dieses Programm leiteten.

Jeden Monat sterben im Irak durchschnittlich 5.000 bis 6.000 Kinder an Unterernährung, verseuchtem Wasser und weil Medikamente fehlen. Dafür ist nicht Bagdad verantwortlich, sondern die verzögerte Freigabe von Ausrüstungen und Materialien durch die USA und Grossbritannien.

Amerikanische Angriffspläne gegenüber Irak – wie sie immer wieder angedeutet werden – sind alles andere als geeignet, im UN-Sicherheitsrat Bedingungen für eine Diskussion über die Zukunft der Wirtschaftssanktionen zu schaffen. “Intelligente Sanktionen”, wie sie im Juni 2001 von Grossbritannien vorgeschlagen wurden, sind vom Tisch. Sie werden auch nicht wieder auf die Tagesordnung kommen. Zu viele innerhalb und ausserhalb der UN haben erkannt: was auf den ersten Blick wie ein Fortschritt für die Zivilbevölkerung aussah, ist nichts weiter als der Versuch, die Hauptpfeiler der gegenwärtigen Sanktionspolitik – keine ausländischen Investitionen, kein freies Verfügungsrecht der Iraker über ihre Öleinkünfte – zu erhalten. Vielmehr zielte dieser Vorschlag darauf ab, Iraks Grenzen abzuriegeln. Dies hätte zu einer Strangulierung des irakischen Volkes geführt. Vor dem Hintergrund des gegenwärtigen politischen Klimas strebt Washington eine technische Resolution an, die das “Öl-für-Nahrungsmittel-Programm” entsprechend den geltenden Bedingungen ausdehnt. Dass dies noch mehr Iraker zu Tod und Not verurteilt, wird als unvermeidlich hingenommen.

Das alles sind nicht Mutmassungen von zwei verratenen UN-Beamten. Was wir vorlegen, sind unbestreitbare Fakten, die uns als ehemaligen Insidern bekannt wurden. Wir sind empört darüber, dass das irakische Volk den Preis für einträgliche Waffengeschäfte und Machtpolitik zahlt. Wir erinnern uns der Worte Martin Luther Kings, der in den späten Sechzigern sagte: “Es gibt eine Zeit, da Schweigen Verrat ist. Diese Zeit ist jetzt …” Wir möchten aufrichtige Menschen überall auf der Welt ermutigen, leidenschaftlich zu protestieren gegen skrupellose politische Praktiken und schreiende Desinformation über den Irak. Sie kommt von Leuten, die es besser wissen, aber nicht davor zurückschrecken, mit falschen, heimtückischen Argumenten die Existenz eines Volkes zu opfern. Das US-Verteidigungsministerium ebenso wie Richard Butler, der ehemalige Chef der UN-Waffeninspekteure in Bagdad, müssen einsehen, dass die Milzbrand-Geissel ihre Wurzel in den USA hat, obwohl beide lieber den Irak dafür verantwortlich gemacht hätten.

Die britischen und amerikanischen Nachrichtendienste erklären stolz, dass sie in Afghanistan aus grosser Höhe Personen auf dem Boden ausmachen und mit Hilfe verfügbarer Technologie menschliches Leben in den Höhlen Afghanistans nachweisen können. Sie wissen, was sich in den “Höhlen des Irak” befindet. Sie wissen genau, dass der Irak qualitativ entwaffnet ist. Dies zuzugeben, würde der gesamten, zum Selbstzweck verkommenen UN-Politik den Todesstoss versetzen.

Wir sind entsetzt über die reale Möglichkeit eines neuen Krieges gegen den Irak unter Führung der USA. Die Konsequenzen sind zu ernst, als dass die Weltgemeinschaft sie ignorieren könnte. Wir hoffen, dass die Warnungen politischer Führer im Nahen Osten sowie von uns allen, denen Menschenrechte nicht gleichgültig sind, von der US-Regierung nicht einfach in den Wind geschlagen werden. Heute mehr denn je ist Ungerechtigkeit unser aller Feind, nicht das irakische Volk.


Hans von Sponeck war ab Herbst 1998 Koordinator des humanitären UN-Hilfsprogramms für den Irak. Als er diese Funktion nach der Berufung durch UN-Generalsekretär Kofi Annan übernahm, hatte sein Vorgänger Denis Halliday – der Ko-Autor des neben stehenden Artikels – gerade das Handtuch geworfen. Mit dem Verdikt, die Sanktionen schadeten dem Volk und nützten dem Regime, war der Ire frustriert abgetreten. Am 25. Januar 1999 beging von Sponeck in den Augen der US-Regierung das Sakrileg, die Opfer einer fehlgeleiteten amerikanischen Rakete im irakischen Basra zu dokumentieren. Er liess die Fotos der Toten in Bagdad an Amerikaner, Briten und andere Diplomaten verteilen. Das US-Aussenministerium verlangte daraufhin in rüdem Ton von Sponecks Ablösung – doch der UN-Generalsekretär verweigerte das.

Ein Jahr später – im Februar 2000 – trat Hans von Sponeck aus Protest gegen eine Fortdauer der Sanktionen zurück.

,