Wehrpflicht: Gefahr, nicht Garant für Demokratie

Zu den hartnäckigsten Mythen gehört der Mythos von der Wehrpflicht als Demokratie-Garant. Dabei waren die mörderischsten Armeen des 20. Jahrhunderts Wehrpflicht-Armeen. Dabei richtete sich die Mehrheit der Ernstfall-Einsätze der Schweizer Armee gegen die Arbeiterbewegung. Dabei ist die Wehrpflicht der Hauptgrund für den jahrzehntelangen Ausschluss der Frauen aus der Demokratie.


Putschistische Wehrpflicht-Armeen in Lateinamerika

Da immer wieder behauptet wird, die südamerikanischen Putschisten, welche in den 70er und 80er Jahren ihre Völker terrorisierten, hätten dies nur mit Berufssoldaten tun können, beginne ich mit Argentinien. Es war eine Wehrpflicht-Armee, welche 1976 geputscht und bis 1983 30‘000 Linke ermordet hat. Ohne über Wehrpflichtsoldaten zu verfügen, hätte sich die Generalität nicht auf das Falkland-Abenteuer eingelassen. Um die Generäle zu schwächen und um die Gefahr, welche die Armee darstellte, zu entschärfen, hat die argentinische Demokratie 1994 die Wehrpflicht abgeschafft.

Auch in Chile putschte Pinochet mit einer Wehrpflicht-Armee. Später wehrten sich Wehrpflicht-Soldaten, die wegen Menschenrechtsverletzungen angeklagt waren, mit dem Argument des Befehlsnotstandes. (Dieser link illustriert die Hilflosigkeit von Wehrpflicht-Soldaten gegenüber einem Putsch und in einer Diktatur: Ex conscriptes 1973-1990

Auch die anderen Armeen des Cono Sur, beispielsweise die brasilianische oder die paraguayische, waren Wehrpflicht-Armeen. Das trifft auch auf die Armee zu, die am meisten Menschen, etwa 250‘000 Indios und Indias, auf dem Gewissen hat: Die guatemaltekische. Überhaupt waren praktisch alle Armeen, welche in den Jahrzehnten nach der kubanischen Revolution 1959 gegen die Volksbewegungen, Gewerkschaften und Guerillas in Lateinamerika eingesetzt wurden, Wehrpflichtarmeen.

 

Hitler führte Wehrpflicht wieder ein

Kehren wir zurück nach Europa, und zwar ins Land, dessen Armee die allerschlimmste in der Menschheitsgeschichte war: zur deutschen. In Deutschland haben alle Demokratien, die kurzlebige von 1848, die ein bisschen längerlebige von 1918 und die aktuelle 2012 die Wehrpflicht abgeschafft. Die preussischen Militaristen, der Kaiser und vor allem Hitler haben die Wehrpflicht wieder eingeführt.

Ohne die Wehrpflicht-Armeen, die um die vorletzte Jahrhundertwende eingeführt oder ausgebaut wurden, wäre der 1. Weltkrieg, die Urkatastrophe der katastrophalen 1. Hälfte des 20. Jahrhunderts, gar nicht möglich gewesen oder hätte nur kurz gedauert. Auf jeden Fall hätte es nicht 10 Millionen Tote gegeben. Wie jeder und jede weiss: Ohne 1. Weltkrieg hätte es keinen Hitler, keinen Zweiten Weltkrieg und damit nicht den grössten Zivilisationsbruch der Menschheitsgeschichte, die Shoa, gegeben.


Wehrpflicht gegen Revolutionen in Frankreich und Spanien

Wer meint, die Einführung der Wehrpflicht in Frankreich 1798 sei eine der Revolution dienende Massnahme gewesen, der lese Tobia Schneblis „Le citoyen soldat: aux origines du myth”. In Spanien war es eine Wehrpflichtarmee, die 1936 putschte und 1981 einen Putschversuch unternahm. Während der sogenannten „Transicion” (1976-79), in der zahlreiche linke Postulate von der PSOE und der KP aufgegeben wurden, begründeten diese ihre Nachgiebigkeit immer mit dem Hinweis auf eine Putschgefahr – notabene durch eine Wehrpflicht-Armee. Seit die spanische Armee eine freiwillige ist, haben die Leute – wohl mit Grund – weniger Angst vor ihr. Der Hauptgrund liegt in der quantitativen Verkleinerung des Heeres, was einen erfolgreichen Putsches erschwert. Wehrpflicht-Armeen waren es auch, die unter der Führung der türkischen Generäle und der griechischen Obristen putschten.

Die Lehren von Genf 1932

Kehren wir zurück zur Schweiz: In meinem 1989 erschienenen Buch „Die Seele der Nation” (ISP, Frankfurt a M) zähle ich 89 Einsätze und Mobilisierungen der Schweizer Wehrpflicht­-Armee gegen Teile der eigenen Bevölkerung auf. Sie richteten sie vor allem gegen Streikende, aber auch gegen Antifaschisten, Bauern, Jurassier, AKW-GegnerInnen und Antimilitaristen. Im November 1932 erschiesst eine Wehrpflicht-Einheit 13 Antifaschisten und verletzt 65 weitere. Der Historiker Jean Batou, der als Solidarité-Militant zuerst skeptisch war gegenüber unserer Initiative, hat über Genf 1932 ein Buch verfasst. Dabei hat er folgendes heraus gefunden: Nach dem Einsatz hat die Armee gemeinsam mit der Polizei eine Liste aller unzuverlässigen Genfer Armeeangehörigen erstellt, um diese ein nächstes Mal zum Voraus vom Einsatz ausschliessen zu können. Es ist damit zu rechnen, dass Ähnliches in anderen Kantonen gemacht wurde.

Soldatenaufstände nur in und nach Kriegs-Niederlagen

Wer meint, Soldaten können sich in einer solchen Situation verweigern, der unterschätzt die Befehlsgewalt in einer einigermassen funktionierenden Armee. Organisierte Soldatenaufstände und massenhafte sowie anhaltende Befehlsverweigerungen gab es ausschliesslich in Armeen, die einen Krieg verloren hatten oder daran waren, ihn zu verlieren. Ein paar Beispiele: 1898 Spanien nach Verlust von Kuba und Philippinen, 1917/18: Russland, Deutschland, Österreich, aber nicht Grossbritannien oder Frankreich, ab 1968 US-Army in Vietnam nach Tete-Offensive, 1974 Portugal (Kolonialkrieg) usw.. Die Unterordnung und Disziplin in (Wehrpflicht-) Armeen ist viel stärker, als man sich das gemeinhin vorstellt.

Wehrpflicht macht Schweizer Armee gefährlicher

Es gibt in der heutigen Armee eine gefährliche Entwicklung Richtung Innere Einsätze, die ihren wahren Grund in der Wehrpflicht hat. Gemäss Armeebericht 2010 will der Bundesrat für die Verteidigung noch 22‘000 Soldaten einsetzen. Um aber die Wehrpflicht aufrecht erhalten zu können, braucht es eine Armee von mindestens 80‘000. Also füllt er die grosse Lücke, die durch den rationalen Rückbau der Verteidigung entsteht, auf, indem er einen Grossteil der Armee für das Innere vorsieht. Dazu gehören unter anderem die vier geplanten Militärpolizei-Bataillone gegen innere Unruhen. Zusätzlich ist zu bedenken, dass eine Wehrpflicht-Armee wegen ihrer Grösse der Führung die Möglichkeit gibt, Truppen für bestimmte Einsätze auszuwählen.

Wehrpflicht verhinderte Frauenstimmrecht

Was heute leicht vergessen geht, ist der Umstand, dass die Schweiz eines der letzten Länder war, das 1971 das Frauenstimmrecht einführte – 52 Jahre nach Afghanistan. Der Hauptgrund liegt in der Verknüpfung von Wehrpflicht und Bürgerrecht. So schrieb ein Staatsrechtler im Jahre 1932: „Politische Rechte und Wehrfähigkeit gehörten schon in der altgermanischen Demokratie so auch in der schweizerischen von jeher eng zusammen. Mit dem Jahre, in welchem der junge Landmann wehrpflichtig wurde, erhielt er auch das Stimmrecht an der Landsgemeinde. Der allgemeinen Wehrpflicht entsprach ebenso ein allgemeines Wehrrecht. Und zwar galt dieses als ein Ehrenrecht. Wie ‚ehr- und wehrhaft` ein Begriff war, so auch ‚ehr- und wehrlos‘. Das Sinnbild für die bürgerliche Ehre, für den Besitz aller politischen Rechte, und die Wehrhaftigkeit zugleich war das Seitengewehr, der Degen.”

1957, im tiefsten Kalten Krieg, hielt der Bundesrat gegen das Frauenstimmrecht folgendes fest: „Das Stimmrecht wird als das Korrelat der Wehrpflicht aufgefasst. Das entspricht denn auch einer alt überlieferten Anschauung, die schon in der alten Landsgemeinde zum Ausdruck kam. An ihr konnte nämlich nur der waffenfähige Bürger mitreden. Da als waffenfähig der Mann allein galt, konnte nur er als stimm- und wahlberechtigt angesehen werden. Wie sehr dieser Gedanke bei uns noch heute lebendig ist, zeigt die Tatsache, dass in beiden Appenzell nur Bürger mit dem Schwert zum Landsgemeindering zugelassen waren.”

Männer, die keinen Wehrdienst leisteten, galten als ehrlose „Staatskrüppel”. Frauen waren deshalb eine Art kollektiver Staatskrüppel, denen mindestens die Ehre der Staatsbürgerschaft nicht zustand. Dieser Zusammenhang zwischen Militärpflicht und Stimmrecht war den ersten Frauenrechtlerinnen sehr klar. Deshalb suchten sie nach Möglichkeiten, sich für die Armee nützlich zu machen. Genützt hat es ihnen nichts – weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg. Erst als ab den späten 1960erJahren eine wachsende Zahl Männer sich nicht mehr für die Armee nützlich machen wollte, wurde die Zeit reif für das Frauenstimmrecht. Das hat den engen Bezug zwischen Wehrpflicht und Bürgerrecht gekappt, aber hat weiterhin eine geschlechtliche Rollen zementierende Wirkung: schützender Wehr-Mann, schutzbedürftige Frau.


10‘000 politische Gefangene wegen Verweigerung der Wehrpflicht

Gerade weil die Armee und die Wehrpflicht im Laufe des 20. Jahrhunderts zur „Seele der Nation” wurden, war der Dissens, insbesondere die 68er Bewegung, nirgendwo sonst in Europa derart stark geprägt durch das pazifistische, antimilitaristische, rüstungskritische Engagement. Die Zahl der Militärverweigerer, deren jährlicher Durchschnitt in den ersten zwanzig Jahren nach Kriegsende knapp 40 betragen hatte, schnellte 1966 auf 122, betrug in den 1970er Jahren im Durchschnitt 331 und erhöhte sich in den 1980er Jahren auf 612. Allein in den 1970er und 1980er Jahren sind damit fast 10‘000 junge Männer wegen Verweigerung verurteilt worden. Wenigen europäischen Ländern wurde deswegen in den 70er und 80er in den Jahresberichten von Amnesty International so viel Platz eingeräumt wie der Schweiz. Dank dem Zivildienst, der erst nach der historischen GSoA-Abstimmung von 1989 möglich wurde, konnte dieser Menschenrechts-Skandal weitgehend gelöst werden. Was offen bleibt, ist die Rehabilitierung all der ehemaligen pazifistischen und antimilitaristischen, also politischen Gefangenen.

Jo Lang (1975 von der Militärjustiz verurteilt wegen „Aufrufs zur Verletzung militärischer Dienstvorschriften” im Kasernenkomitee Murten/Freiburg in der Sommer-RS 1974)

 

,