Kosov@/Nato 23. Mai 1999

Redaktionsgespräch MOMA: 6/7 1999 mit Professor Walter Kälin

Spiel mit dem Feuer

Eine völkerrechtliche Beurteilung des Kosov@-Krieges

Eigentlich herrscht zwischen allen Fronten, den Befürwortern und Gegnern dieses Krieges, Einigkeit zumindest über eine Sache: der Nato-Angriff gegen Serbien ist völkerrechtlich gesehen illegal. "Illegal, aber legitim" wird dann dazu jeweils erwidert. MOMA wollte es genauer wissen. Der Berner Staats- und Völkerrechtsprofessor Walter Kälin gibt im Gespräch umfassend Auskunft über das völkerrechtliche Gewaltverbot, Ausnahmen davon, die Einschätzung des Nato-Schlages, die übliche Weiterentwicklung des Völkerrechtes, den "gerechten Krieg", Vorschläge einer Reform des Vetos im Sicherheitsrat oder der Urteile internationaler Gerichte und Streitschlichtungsmechanismen und Alternativen, Konflikte auch ohne bewaffnete Angriffe zu bewältigen.

Das Völkerrecht beinhaltet ein Gewaltmonopol der Uno, dennoch werden auf dieser Welt täglich Kriege geführt. Welchen Stellenwert geben Sie dem heutigen völkerrechtlichen Gewaltmonopol der Uno?

Walter Kälin: Es werden zwar täglich Kriege geführt in der Welt, aber seit dem Ende des Kalten Krieges sind zwischenstaatliche bewaffnete Konflikte eher selten geworden. Das Gewaltverbot der Uno-Charta erfasst nur zwischenstaatliche Konflikte, nicht aber Bürgerkriege. Die Uno-Charta richtet sich nicht direkt an Aufständische. In dieser Beschränkung des Gewaltverbotes zeigt sich deutlich die historische Herkunft der Charta: Sie wurde von den Alliierten des Zweiten Weltkrieges geschaffen, um angesichts einer Konfrontation mit einem "neuen Hitler" handlungsfähig zu sein und sofort auf Aggression vonseiten eines Drittstaates reagieren zu können. Die Gründer konzipierten die Uno somit im Kern als kollektives Verteidigungsbündnis der Siegermächte. Universell ist diese Organisation erst viel später geworden. Seither bedeutet das Gewaltverbot, dass die Staaten selbst nicht mehr darüber entscheiden dürfen, ob sie Krieg führen wollen.

Im Moment führt die Nato eine Intervention im Kosovo durch. Wie beurteilen Sie diese Intervention aus völkerrechtlicher Sicht?

Diese Frage lässt sich auf verschiedenen Ebenen beantworten. Die Antwort fällt anders aus, je nachdem ob man sich an das völkerrechtlich Gesicherte, an das rechtlich allenfalls Vertretbare oder aber an Wünschbares hält, das klar über das geltende Recht hinaus geht. Gesichert sind zwei Dinge: Erstens der Grundsatz, dass Staaten gegen andere Staaten Waffengewalt nur zur Selbstverteidigung gegen einen bewaffneten Angriff einsetzen dürfen, wobei ein angegriffener Staat sich auch zusammen mit verbündeten Mächten zur Wehr setzen darf, solange der Sicherheitsrat der Uno (SR) nicht selbst effektive Massnahmen zur Friedenssicherung ergreift. Zweitens ist Gewalt ausserhalb der Selbstverteidigungssituation dann legal und erlaubt, wenn der SR ein entsprechendes Mandat erteilt hat. Über diese bereits im Text der Charta angelegten Rechtfertigungsmöglichkeiten militärischer Einsätze lässt die Praxis der vergangenen Jahrzehnte bewaffnete Gewalt in einigen weiteren Fällen rechtlich vertretbar erscheinen: Dazu gehört zum Beispiel die Befreiung eigener Staatsangehöriger mit Waffengewalt aus fremdem Staatsgebiet. Als Präzedenzfall wird etwa die Befreiung israelischer Geiseln im Jahre 1976 auf dem Flughafen Entebbe (Uganda) durch ein israelisches Kommando genannt. Es zeichnet sich auch ab, dass entgegen dem Wortlaut der Uno-Charta regionale Organisationen wie die OAU auf ihrem eigenen Gebiet mit Waffengewalt intervenieren dürfen, wenn der Frieden in diesem Gebiet gefährdet ist oder wenn es um schwerwiegende Menschenrechtsverletzungen geht. In diesem Sinn hat der SR die militärischen Aktionen von ECOWAS-Truppen in Liberia und Sierra Leone wiederholt gutgeheissen. In den Bereich von allenfalls wünschbarem, aber erst zu schaffendem neuem Recht kommen wir m.E. bei Argumenten, die heute teilweise für die Rechtfertigung der Nato-Aktionen angeführt werden und an der Idee eines internationalen "Ordre public" anknüpfen. Dieser juristische Fachausdruck beinhaltet die Vorstellung, dass es eine übergreifende internationale Wertordnung und einen Kernbestand von ganz hochwertigen Anliegen gibt, welche unter allen Umständen durchgesetzt werden müssen und so vorrangig sind, dass bestehende Rechtsvorschriften unter Umständen. auf die Seite geschoben werden dürfen. Wir kennen in diesem Zusammenhang etwa die Figur des zwingenden Völkerrechtes (ius cogens), das allen ihm widersprechenden Rechtsnormen ohne weiteres vorgeht und diese nichtig macht. Wir kennen auch die Vorstellung, dass es neben einfachen, sozusagen "normalen" Völkerrechtsverletzungen derart schwerwiegende Verletzungen des Völkerrechtes gibt, dass man sie als eigentliche Verbrechen der Staaten bezeichnen kann. Diese Idee wird momentan von der Völkerrechtskommission der Uno im Zusammenhang mit der Kodifizierung der Regeln über die Staatenverantwortlichkeit debattiert. Auch wenn der Begriff der völkerrechtlichen Verbrechen der Staaten, da zu stark vom Strafrecht inspiriert, etwas unglücklich ist, zeigt er doch, dass gewisse Völkerrechtsverletzungen besonders verabscheuungswürdig sind. Zu diesem Kernbestand an Werten und Normen gehören natürlich die Verbote von Genozid oder systematischen ethnischen Säuberungen. Hier setzen in der aktuellen völkerrechtlichen Diskussion die Argumente zur Rechtfertigung der Nato-Intervention an. Wenn der Sicherheitsrat nicht handlungsfähig ist und derartig hochrangige Werte betroffen sind, kann man dann nicht auf Beschlüsse des SR verzichten, soll dann nicht jeder Staat, jede Staatengruppe militärisch intervenieren können? Darüber lässt sich debattieren; ich bin aber der Ansicht, dass diese Sicht dem jetzigen Stand des Völkerrechtes nicht entspricht, sondern weit darüber hinausgeht. Was im Völkerrecht gilt, hängt eben zum grössten Teil vom Konsens der Staatengemeinschaft ab. Dies erweist sich oft als Schwäche des Völkerrechts, ist paradoxerweise aber gleichzeitig auch seine Stärke: Wo ein Konsens gefunden wird, besteht ein höherer Grad an Legitimität und damit an Durchsetzbarkeit in einer Situation, in welcher eine eigentliche Weltregierung fehlt. Heute sehe ich noch keinen Konsens der Staatengemeinschaft darüber, dass auf juristisch als völkerrechtliche Verbrechen qualifizierbare Geschehnisse (d.h. Verstösse gegen den völkerrechtlichen Ordre public), wie sie im Kosovo vonseiten der serbischen Regierung zu verantworten sind, einseitig mit Waffen reagiert werden darf. Ob sich künftig ein solcher Konsens herausbildet, bleibt abzuwarten. Zusammenfassend ist also die heutige Intervention im Kosovo demnach völkerrechtswidrig, sie basiert nur auf einer möglichen Interpretation des bestehenden Völkerrechtes, mit dem Anspruch, dass sich das Völkerrecht dorthin entwickeln sollte?

Die internationale Rechtsordnung ist mit dem Problem konfrontiert, dass keine oberste Instanz existiert, die in allen Fällen verbindlich sagt, was Völkerrecht ist und was nicht. Deshalb müssen wir, wenn wir nicht naiv rechtspositivistisch argumentieren wollen, die gegenwärtige Problematik in einer zeitlichen Perspektive sehen. Es wird sehr wichtig sein, wie die Uno in den nächsten Wochen und Monaten reagiert. Möglicherweise wird sich im SR auch bei Russland und China die Auffassung durchsetzen, dass angesichts gravierendster Menschenrechtsverletzungen auf der Seite von Serbien und wegen des Ausmasses der humanitären Katastrophe im Kosovo auf eine Verurteilung der Nato verzichtet werden soll, auch wenn deren Vorgehen nicht legal war. Eine solche Haltung könnte Ausgangspunkt für eine Weiterentwicklung des Völkerrechtes hin zu einem Interventionsrecht der Staaten zum Schutz der Opfer schwerwiegendster Menschenrechtsverletzungen sein. Möglich ist aber auch, dass die Nato kurz- oder mittelfristig ausserhalb der westlichen Staaten auf scharfe Kritik stossen wird, weil Staaten der Dritten Welt befürchten, das Argument, man dürfe in solchen Fällen militärisch intervenieren, könnte allzu leicht missbraucht werden. Der Begriff der humanitären Intervention ist historisch negativ vorbelastet. Er stammt aus dem 19. Jahrhundert, wo er v.a. dazu diente, die Verfolgung von Christen im osmanischen Reich zum Vorwand für militärische Aktionen zu nehmen, bei welchen imperialistische Interessen in Wirklichkeit wichtiger als der Schutz verfolgter Menschen waren. Aus Angst vor solchem Missbrauch humanitärer Argumente wird deshalb zumindest ein Teil der Staaten daran festhalten, dass auch für Interventionen zum Schutz der Menschenrechte eine Autorisierung durch den Sicherheitsrat nötig bleibt. Damit kommen wir allerdings zur Frage: Was ist zu tun, wenn der SR nicht entscheidfähig ist?

Illegal aber legitim ist eines der Argumente, die man für die Intervention gibt, auch weil es wahrscheinlich war, dass Russland und China im SR ihr Veto einlegen würden. Es gibt aber noch weitere Beispiele für andere Möglichkeiten: War eine Selbstmandatierung der Nato wirklich der einzige gangbare Weg?

Die Frage der Selbstmandatierung beim Einsatz von Gewalt zum Schutze hochwertiger Interessen kann so oder so nur ultima ratio sein. Das hat auch einen verfahrensrechtlichen Aspekt: Es müssen zuerst alle anderen Mittel vollständig ausgeschöpft sein. Im Fall Kosovo wurden nicht alle Mittel ausgeschöpft. Man musste zwar ein Veto im SR erwarten, hat die Frage diesem Organ aber gar nicht vorgelegt. Dabei wären die Argumente für ein Veto interessant gewesen; sie hätten gezeigt, ob die Verhinderung einer Resolution über den Waffeneinsatz gegen Serbien im Sinne einer bewussten Schonung eines Rechtsbrechers rechtsmissbräuchlich gewesen wäre, oder ob Russland und China für ihre Opposition tragfähigere Begründungen gehabt hätten. Bei einem Veto hätten die Nato-Staaten im Sinne der sog. "Uniting for Peace"-Resolution der GV aus dem Jahre 1950 an die GV gelangen können. Diese Resolution hielt fest, die GV habe das Recht, Empfehlungen für Kollektivmassnahmen inklusive des Einsatzes bewaffneter Gewalt abzugeben, wenn der Sicherheitsrat wegen Uneinigkeit seiner ständigen Mitglieder handlungsunfähig sei. Unmittelbarer Anlass für diese Resolution war die Blockierung des Sicherheitsrates in der Korea-Krise. Natürlich ist offen, wie die Generalversammlung reagiert hätte. Ich kann mir gut vorstellen, dass viele Staaten der Dritten Welt befürchtet hätten, eine positive Stellungnahme hätte den USA zusammen mit der Nato das Recht verschafft, in verschiedenen Teilen der Welt legal zu intervenieren. Das ist aber bloss eine Vermutung, und wir wissen nicht, wie der Entscheid tatsächlich ausgefallen wäre. Diese Unterlassungen stören mich nicht in einem formalen Sinn. Das Konzept der Uno-Charta macht vielmehr in der Sache sehr viel Sinn. Längerfristig gesehen ist es ein Spiel mit dem Feuer, leichtfertig den SR zu umgehen. Die Welt ist nun einmal so, dass sich unter Umständen Recht nur mit Gewalt durchsetzen lässt. Wir kennen das innerstaatlich bei der Polizeigewalt, die Opfer von Verbrechen oft zu schützen vermag. Die Monopolisierung der Gewalt bei einem offiziellen Organ macht Sinn, weil sie konfliktmindernd und friedensstabilisierend wirkt; solche Gewalt ist legitim, wenn ihr Einsatz auf Entscheiden von Organen beruht, welche in den dafür vorgesehenen Verfahren und auf der Basis von Grundsätzen ergangen sind, die im Voraus rechtlich verankert wurden. Diese Überlegungen haben nun ganz praktische Konsequenzen. Greift man militärisch ein, ohne diese Legitimation durch Verfahren zu besitzen, ist man rechtlich gesehen in einer Defensivposition: Dies ist im konkreten Fall wörtlich zu verstehen: Jene zehn Nato-Staaten, die am 29. April von Serbien beim Internationalen Gerichtshof (IGH) wegen Verletzung des Völkerrechts eingeklagt worden sind, werden sich vor dieser Gerichtsinstanz zu verteidigen haben. Politisch droht eine gewisse Isolation, weil wichtige Unterhändler, wie im Fall Kosovo Russland, am Rande stehen und wie man in den letzten Tagen und Wochen sah nur mit viel Mühe wieder ins Spiel gebracht werden können. Das schadet nicht nur der Sache, das schadet letztlich auch dem Recht. Dazu kommt ein zweiter Punkt: Auch wenn der IGH als oberste Instanz in gewissen Fällen entscheiden kann, bleibt das Völkerrecht eine stark dezentralisierte Rechtsordnung, in welcher die Staaten als Hauptakteure das Recht schaffen und es auch durchsetzen. Hier ist nur tragfähig, was sich nicht an abstrakten Vorstellungen orientiert, sondern durch einen effektiven breiten Konsens getragen wird. Diese Legitimationsgrundlage wird natürlich gefährdet, wenn genau dasjenige Forum, das für die Konsenssuche in Fragen von Krieg und Frieden zuständig ist, geschnitten wird. Die Verhandlungen im SR sind oft zäh und langwierig, oft undurchschaubar für Nicht-Diplomaten, aber letztlich macht der Weg diplomatischer Verhandlungen Sinn: Bei aller Macht, die mitspielt, finden sich darin Elemente von Verfahren, die zwar sicher nicht dem Ideal des Habermasschen Diskurses entsprechen, aber trotzdem ein Mindestmass an Rationalität erlauben, und sei es auch nur eine Verfahrensrationalität, die zur gemeinsamen Erkenntnis führt, dass im Angesicht schwerster Menschenrechtsverletzungen keine andere Möglichkeit als der Waffeneinsatz gegen den Rechtsbrecher besteht. Diese Chancen gefährdet leichtfertig, wer die Uno umgeht.

Welche Interessen stehen hinter den Rechtsbeugungen und Interpretationen?

Im Kosovo gibt es kein Öl und auch sonst wenige Ressourcen; es ist schwierig, dahinter wirtschaftliche Interessen zu suchen. Sie spielen aber sicher eine Rolle; so ist die Destabilisierung im Balkan für Europa zu einer Last geworden, die sich in Euros und Dollars ausdrücken lässt; denken wir an den Wiederaufbau, denken wir an die Kosten der Absicherung des Waffenstillstandes in Bosnien. Im Vordergrund sehe ich vor allem europäische Interessen daran, den primären Störenfried Milosevic auszuschalten und seine Armee zu zerstören. Daneben gibt es aber naheliegendere, nicht wirtschaftliche Interessen. Auf europäischer Seite steht das Flüchtlingsproblem weit im Vordergrund. Auch wenn der Krieg möglicherweise zusätzliche Flüchtlingsströme ausgelöst hat, war bereits nach dem Scheitern der Verhandlungen in Rambouillet offenkundig, dass die Vertreibungen aus dem Kosovo wenn auch langsam, so doch bewusst voranschreiten und die Zahlen der Flüchtlinge und MigrantInnen zunehmen würden; dem wollte man mit einer Militäraktion den Riegel schieben. Das drohende Flüchtlingsproblem darf als Kriegsursache nicht unterschätzt werden.

Aber worin besteht denn die Motivation der USA? Sie erscheint ja als treibende Kraft.

Sind die USA wirklich die treibende Kraft? Ohne die Europäer und ohne ihre Einigkeit wäre die Intervention meiner Meinung nach nicht zustande gekommen. Natürlich hatte der amerikanische Präsident in seiner unangenehmen innenpolitischen Situation und angesichts des langen Engagements der USA in Bosnien ein Interesse daran, die Situation mit Gewalt zu bereinigen. Aber wir haben hier angesichts der wichtigen politischen Rolle der Europäer kaum ein Paradebeispiel eines amerikanischen Imperialismus vor uns.

Es wird behauptet, eine nachträgliche Mandatserteilung durch die Uno würde auch im Nachhinein die Intervention legalisieren und völkerrechtlich absichern. Ist eine solche nachträgliche Legalisierung völkerrechtlich möglich?

Völkerrecht ist sehr deutlich geschichtlich bedingtes Recht. Häufig ist es erst im Nachhinein zu beurteilen, was legitim wie auch legal gewesen ist. Nachträgliche Legalisierungen gibt es im Völkerrecht immer wieder. So hat, wie bereits erwähnt, der SR den nicht über alle Zweifel erhabenen Einsatz von ECOWAS-Truppen in Liberia nachträglich gebilligt. In der aktuellen völkerrechtlichen Diskussion hat etwa der ehemalige Präsident des Kriegsverbrechertribunals für Ex-Jugoslawien, Prof. Cassese, die Meinung vertreten, der Fall Kosovo könnte der Ausgangspunkt für die Bildung von neuem Gewohnheitsrecht sein, welches Staaten erlaubt, angesichts schlimmster Menschenrechtsverletzungen militärisch zu intervenieren. Ich zweifle daran, dass die Entwicklung so verlaufen wird. Allerdings wird man erst rückblickend beurteilen können, ob genügend viele Staaten diese neue Position übernommen haben, oder ob die Abweichung vom geschriebenen Recht als Rechtsverletzung eingestuft werden wird. Dies ist für mich aber nicht die Kernfrage. Vielmehr sollten wir uns fragen, welche Fehler zur heutigen Situation geführt haben. Meines Erachtens hat die Staatengemeinschaft dem Treiben von Milosevic viel zu lange zugeschaut. Die Möglichkeit, am Ende des Bosnienkrieges ihn als Kriegsverbrecher anzuklagen, hätte bestanden, auch wenn es wie bei Karadzic wohl kaum zu einer Verhaftung gekommen wäre. Gerade Karadzic zeigt aber etwas ganz klar: Die Brandmarkung des politisch Hauptverantwortlichen und die daraus resultierende Konsequenz, dass ihn auf internationaler Ebene niemand mehr als Gesprächspartner anerkennen kann, öffnet innerhalb der betroffenen Staaten oder politischen Gebilden gewisse Spielräume für PolitikerInnen, die vorher im Hintergrund standen. Es gab in Serbien eine demokratische Bewegung; auch wenn nicht alle ihre Führer über alle Zweifel erhaben sind, befanden sich dabei echte DemokratInnen. Milosevic jegliche Anerkennung zu versagen hätte vielleicht eine Chance für eine andere Entwicklung geboten. Weitere Fehler wurden gemacht. Sicher richtig war es, OSZE-Beobachter nach Kosovo zu schicken; richtig war auch, sie zurückzuziehen als man ihre Machtlosigkeit sah; richtig war auch, die Serben an den Verhandlungstisch zu zwingen. Ich frage mich aber, ob es klug war, damals gleich mit dem Einsatz von Militärschlägen zu drohen. Mit Camp David und dem Dayton-Übereinkommen kennen wir den Typus erfolgreicher Konferenzen, welche wenigstens eine Reduktion von Menschenrechtsverletzungen und Gewaltanwendung zu bewirken vermögen. Wie die beiden Beispiele zeigen, bestehen solche Chancen aber eher in der Auslaufphase eines Konfliktes. Bei der Kosovo-Krise waren wir noch in einer Anlaufphase; die Vorstellung, hier innerhalb von vierzehn Tagen oder einem Monat zu vollständiger Autonomie und zu Zusicherungen für durchaus berechtigte Forderungen zu kommen, war ein Stück weit naiv. Die Verknüpfung der Verhandlungen mit der Kriegsdrohung brachte die Nato-Staaten in eine Zwangssituation: sie hätten ihre Glaubwürdigkeit verloren, hätten sie nicht zu den Waffen gegriffen. Aus dem Blickwinkel des ethnischen Säuberers war damit auch der Vorwand für den Einmarsch im Kosovo gegeben.

Welche Mittel kann sich das Völkerrecht geben, ohne den Regress auf Gewalt völkerrechtliche Normen durchzusetzen, auch gegen Mächte, die stärker sind als das heutige Völkerrecht?

Ob das eine berechtigte oder aber eine völlig naive Frage ist, wird sich erst weisen. Laufen die Dinge schlecht, werden wir nach der Kosovo-Intervention mit einer Welt konfrontiert sein, in welcher die Uno kaum mehr eine Rolle spielt, und die Regionalorganisationen für sich beanspruchen, selber ihre hochwertigen Interessen zu definieren und militärisch durchzusetzen. Dann ist es eine Frage der Zeit, bis wir beispielsweise ein ostasiatisches Verteidigungsbündnis mit China haben, das für seine hochwertigen Interessen, z.B. die Erhaltung weitgehendster staatlicher Souveränität, kämpft; eine solche Welt wäre wenig friedlich und Ihre Frage, wie sich der heutige Zustand verbessern lässt, würde müssig. Vielleicht lernen aber auch alle Beteiligten, dass der Einsatz militärischer Gewalt zum Schutz der Menschenrechte zwar unter Umständen nötig bleibt, aber unbedingt der Legitimation durch Verfahren bedarf. Dann müsste die Diskussion über die Reform des SR (die im Gang ist), unter diesem Gesichtspunkt angegangen werden. Es gibt tatsächlich einen Konstruktionsfehler im SR, der mit seiner historischen Entstehung zu tun hat. Die Alliierten des Zweiten Weltkriegs wollten gegenüber neuen Aggressoren ausserhalb ihres Kreises gewappnet sein, mit dem Vetorecht der ständigen Mitglieder des SR wurde aber verhindert, dass dieses Gremium handeln kann, wenn dadurch wesentliche Interessen einzelner Vetomächte beeinträchtigt würden. Deshalb wird der SR immer wieder handlungsunfähig. Was aber ist zu tun, wenn der SR beim Kerngehalt der internationalen Gerechtigkeit: kein Genozid, keine Apartheid, keine Kolonialherrschaft, usw., untätig bleibt? Eine mögliche Lösung sehe ich nicht in der Aufhebung des Vetos; das Veto hat eine positive Funktion, indem es anzeigt, dass ein weltweiter Konsens besteht, wenn es, wie beispielsweise in der Allianz gegen Saddam Hussein, nicht ergriffen wird. Nötig ist aber eine repräsentativere Zusammensetzung der ständigen Mitglieder des SR und ein Verzicht auf das Veto als absolute Schranke: Das Veto sollte mit qualifiziertem Mehr überstimmt werden können. Es gibt nationale Rechtsordnungen, wo sich solches bewährt hat. Mit einer solchen Reform liesse sich das Völkerrecht stärken und besser durchsetzen. Allerdings braucht es für eine so weitreichende Reform die Initiative der Staaten wie auch den Druck der Zivilgesellschaft. Gerade in der Schweiz sollten wir uns bewusst werden, wie wichtig solche Mechanismen sind, auch für uns.

Die Stärke des Völkerrechts hängt in der Zukunft also davon ab, wie weit es partizipatives Recht ist, respektive seine Schwäche davon, wie weit es monopolisierte Rechtsetzung ist?

Genau. In diesem Punkt unterscheidet sich Völkerrecht nicht vom innerstaatlichen Recht. Partizipation legitimiert auch innerstaatliches Recht und rechtfertigt damit seine zwangsweise Durchsetzung durch die Staatsgewalt.

Der internationale Ordre public steht für die Nato als schlussendliche Legitimation da. In der Türkei wird dieser Ordre public aber massiv verletzt; hier wird aber nicht eingegriffen. Hier gibt es eine offenkundige Differenz der Kriterien für diesen Legitimationsgrund.

Schon in der bipolaren Welt des Kalten Krieges konnten die Grossmächte ihre eigenen Klienten schützen; in einer hegemonialen Welt mit einer einzigen militärisch führenden Macht ändert sich hier kaum etwas. Verschärft wird das Problem durch das Fehlen einer überzeugenden völkerrechtlichen Antwort auf das Problem der Selektivität. Der internationale Ordre public schafft zwar Rahmenbedingungen für Politik, determiniert diese aber nicht in dem Sinn, dass Politik bloss noch Vollzug von Rechtsnormen bedeutet. Im Bereich der militärischen Interventionen gegen Menschenrechtsverletzungen hat die Uno zwar die Kompetenz, Gewaltanwendung zu autorisieren, eine Pflicht dazu lässt sich aber aus der Charta oder anderen Quellen des heutigen Völkerrechts nicht ableiten. Wir sind sogar auf innerstaatlicher Ebene erst am Anfang einer Diskussion, ob die Betroffenen bei Grundrechtsverletzungen, die nicht durch den Staat, sondern durch Private verübt werden, Schutzansprüche gegenüber dem Staat besitzen (sog. Drittwirkung von Grundrechten). In jüngster Zeit hat der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte in Strassburg solche Schutzansprüche im Zusammenhang mit dem Recht auf Leben und dem Verbot unmenschlicher Behandlung bejaht. Wohin diese Rechtsprechung aber im Einzelnen führen wird, ist weithin unklar. Es wird jedenfalls noch lange dauern, bis die Uno hier nachzieht und eine Interventionspflicht bei schweren Menschenrechtsverletzungen bejahen wird. Auch hier würde eine Reform des SR ein Stück weit Verbesserungen bringen. Eine repräsentativere Zusammensetzung des SR und die Möglichkeit, ein Veto mit qualifiziertem Mehr zu überstimmen, erhöht die Chance, dass auch gegen den Willen einer Grossmacht die nötigen Massnahmen ergriffen werden können, um gegen einen Staat vorzugehen, welcher zentralste Menschenrechtsgarantien auf gröbste Weise verletzt.

Wer würde denn intervenieren, wenn ein qualifiziertes Mehr sagen würde, die USA verletzen Menschenrechte in Lateinamerika?

Wir dürfen nun nicht in eine Interventionseuphorie verfallen. Die Intervention mit Waffengewalt zum Schutze der Menschenrechte kommt wirklich nur in allerschlimmsten Situationen infrage. Wird wie im Kosovo ein Volk zu 50, 70 oder gar 100 Prozent aus seinem Gebiet vertrieben, haben wir so einen Fall. Bürgerkriege mit Interventionen Dritter fallen trotz aller Grausamkeiten in der Regel nicht in diese Kategorie, und es wäre, selbst wenn der SR sich reformieren würde, nicht damit zu rechnen, dass sich in solchen Fällen eine qualifizierte Mehrheit für bewaffnete Massnahmen der Uno gewinnen liesse. Natürlich besteht zwischen Recht und Macht immer ein Spannungsverhältnis. Ist die Macht zu einseitig, wird das Recht zurückgestutzt. Gewisse Leute sehnen sich deshalb nach einer Rückkehr einer bipolaren Welt, in welcher ein Gleichgewicht des Schreckens Macht in die Schranken weist. Ich würde hier eher auf den Abbau von Machtgefällen, d.h. die "Demokratisierung" der internationalen Beziehungen setzen. Eine ausgeglichenere Verteilung der militärischen Mittel gehört ebenfalls dazu, daraus sollte allerdings nicht der Schluss gezogen werden, dass jetzt alle Staaten aufzurüsten hätten. Wir müssen schliesslich bescheiden genug sein, auf perfekte Rechtsdurchsetzung zu verzichten. Diese verlangt den Aufbau eines Zwangsapparates, womit man in letzter Konsequenz beim Polizeistaat endet. Es gilt, die Balance zu finden zwischen angemessener Rechtsdurchsetzung und dem Verlust der Freiheit durch den Zwangsapparat.

Fehlt denn eine Weltinnenpolitik, die die ultima ratio der Gewalt überflüssig macht?

Wenn wir utopisch werden wollen, dann müssten wir mehr Weltinnenpolitik fordern. Utopie deshalb, weil die Gefahr einer gegenläufigen Entwicklung real ist, dass die Regionen zunehmend das Recht in ihre eigenen Hände nehmen wollen. Die asiatischen Staaten sind sich beispielsweise trotz aller politischen Unterschiede sehr einig, dass die Souveränität der Staaten ein Wert ist, den es zu verteidigen gilt. Auch das Wettrüsten zwischen Pakistan und Indien ist nicht nur im Lichte einer Rivalität der beiden Staaten zu sehen, sondern auch als Ausdruck eines gemeinsamen Strebens, die Idee des Nationalstaates, der seine Interessen mit Waffengewalt verteidigt, zu stärken und gegenüber der Weltöffentlichkeit zu betonen.

In verschiedenen Berichten kommt die Denkfigur des "gerechten Krieges" wieder zum Ausdruck. Laden die Staaten den Krieg wieder mit Moral neu auf?

Diese Denkfigur erlebt eindeutig eine Renaissance. Das klassische Völkerrecht hatte darauf verzichtet, den Krieg moralisch zu bewerten, und damit folgerichtig das ius ad bellum, das Recht auf Kriegführung zum Attribut des souveränen Staates erklärt. Dieses Konzept löste mittelalterliche Vorstellungen über den gerechten Krieg ab, welche die Kriegführung auf Fälle beschränken wollten, in welchen die Akteure sowohl aus einem objektiv gerechten Grund als auch subjektiv in gerechter Absicht in den Kampf zogen. Spätestens nach der Reformation und dem Zerfall des deutschen Reiches gab es keine moralische Instanz mehr, die hätte bestimmen können, was gerecht und was unrecht ist, weshalb der Übergang zum Konzept des Rechts auf Krieg leicht fiel. Die Uno-Charta ist eindeutig ein Schritt hin zur Wiederbelebung von Vorstellungen über den gerechten Krieg, wenn auch dahinter natürlich nicht mehr die mittelalterlichen Vorstellungen stecken. Nach der Charta ist Krieg als Mittel der Politik nicht mehr zulässig, sondern er wird durch das Gewaltverbot ausgeschlossen. Die Uno kann aber militärische Gewalt zur Durchsetzung hochrangiger Werte wie Selbstbestimmung der Völker, Menschenrechte, Gleichheit aller Staaten, Weltfriede, usw. erlauben. Mit dem Ende des Kalten Krieges drangen viele moralische Argumente in die Politik der Uno ein, und zwar sowohl von militärischer Seite wie auch vonseiten der Zivilgesellschaft. In einem nächsten Schritt beginnen jetzt die Staaten selber zu definieren, was ein gerechter Krieg ist. Es ist dieses Selbstdefinierungsrecht, das mir gefährlich erscheint, weil die Konkurrenz zwischen verschiedenen Wertsystemen konfliktfördernd wirkt. Daher ist die leichtfertige Umgehung der Uno ein Fehler. Hier tragen die USA eine besondere Verantwortung. Mit ihren noch laufenden Angriffen im Irak haben sie gezeigt, dass sie sich nicht mehr besonders um die Zuständigkeiten der Uno kümmern. Formaljuristisch besteht für diese Angriffe zwar eine gewisse Grundlage, politisch haben die USA sich aber offenkundig dafür entschieden, ausserhalb der Uno zu agieren.

Agieren die Nato, die EU und die USA nicht vorzüglich auch geostrategisch, lassen wir die Flüchtlingsfrage einmal zur Seite?

Geostrategisch ist zu sagen: Der Balkan liegt mitten im EU-Europa, wenn wir an Griechenland oder die Türkei als EU-assoziierten Staat denken. Offenkundig geht es den EU-Mitgliedstaaten auch darum, in ihrer Interessensphäre Einfluss auszuüben. Eine andere, ebenso wichtige Frage ist aber: wie geht Europa mit seiner wiedergewonnenen militärischen Macht um? Und: wie definieren wir legitime Interessen und wo wird die militärische Durchsetzung von Interessen illegitim? Auch da fehlt heute die Diskussion.

Wie steht es mit der OSZE? Warum mussten ihre Beobachter aus dem Kosovo heraus? Und welche Rolle kann die OSZE im zukünftigen Völkerrecht spielen?

Die Beobachter mussten wegen der akuten Bedrohungssituation unmittelbar vor Kriegsausbruch gehen. Sie waren ungenügend bewaffnet und es bestand die Gefahr von Geiselnahmen. In diesem Zusammenhang darf man die OSZE nicht überschätzen. Sie ist aus einer ad-hoc-Situation heraus entstanden: wie bringt man den Kalten Krieg zu Ende? Es brauchte damals ein blockübergreifendes Diskussionsforum, das die KSZE (Konferenz für Sicherheit und Zusammenarbeit in Europa) war. Bis 1989 war sie, vereinfacht gesagt, ein in eine besondere Form gekleideter diplomatischer Verhandlungsprozess. Sie wurde nach dem Kalten Krieg in eine internationale Organisation umgewandelt, die wenige Kompetenzen und fast keine Mittel hat. Bedeutung hat sie im Bereich des Minderheitenschutzes (beispielsweise in den baltischen Staaten) erlangt, wo wiederum Mittel der Diplomatie gewisse Verbesserungen bewirkten. Ein ehemaliges Diplomatenforum kann nicht so einfach in eine schlagkräftige Organisation umgewandelt werden. Die OSZE ist ein sinnvolles Dienstleistungsunternehmen der Staaten, mehr aber nicht.

Kürzlich gab es eine Tagung zu Möglichkeiten zielspezifischer Sanktionen, d.h. Sanktionen spezifisch auf verantwortlich gemachte Figuren. Fliessen solche Überlegungen ins Völkerrecht ein?

Ob sie bisher eingeflossen sind, wage ich zu bezweifeln. Aber es gibt das Einfallstor von Kapitel VII der Uno-Charta; dort ist vorgesehen, dass der Sicherheitsrat auch zu nichtmilitärischen Zwangsmitteln greifen kann. Unter diesem Aspekt wäre ein gezielterer Einsatz von Sanktionen ohne weiteres möglich. Die Frage der Gezieltheit stellt sich auch bei der militärischen Gewalt. Hat man beispielsweise wie in Kosovo/Serbien das militärische Ziel, den Gegner mittels eines Luftkrieges zu besiegen, ist die Zerstörung von Infrastruktur ein Mittel. Will man primär humanitäre Zwecke fördern, müssten wohl andere Massnahmen ergriffen werden. Ansätze dazu gab es bei den Uno-Aktionen in Somalia und Bosnien, z.B. mit der militärischen Absicherung humanitärer Transporte oder der Schaffung von sicheren Zonen für Flüchtlinge, die in Bosnien allerdings wegen zu geringem Truppeneinsatz scheiterten. Bei einem solchen Ansatz würde das Szenario in Serbien/Kosovo wohl anders aussehen: Statt Brücken zu sprengen, würde man humanitäre Korridore schaffen oder grenznahe Sicherheitszonen für Flüchtlinge im Inneren des Kosovo schaffen und verteidigen. Konzepte, wie militärische Einsätze zu humanitären Zwecken sinnvoll ausgestaltet werden können, fehlen aber noch weitgehend.

Wie sehen Sie die Rolle der Schweiz als Nichtmitglied der Uno? Was ist die Rolle der Zivilgesellschaft?

Bezüglich der Uno hat die Schweiz direkt eine bescheidene Rolle zu spielen, es steht uns als Nichtmitgliedstaat nicht an, hier Initiativen zu ergreifen. Von der Zivilgesellschaft her gesehen, ist die Uno immer noch die bestmögliche Lösung; daher muss auf einen Uno-Beitritt hingewirkt werden. Die beste Haltung der Schweiz, denke ich, ist momentan die militärische Neutralität. Nicht, weil sie ein Mythos ist, sondern, wie der Bundesrat seit 1848 bis heute immer wieder betont hat, weil sie ein taugliches Instrument der Aussenpolitik sein kann. Diese Tauglichkeit ist für mich heute gegeben: Es ist durchaus denkbar, dass in einer späteren Phase der Krise z.B. im Zusammenhang mit humanitärer Hilfe oder diplomatischen Bemühungen die Schweiz gerade wegen ihrer militärischen Neutralität eine gewisse Rolle spielen kann, die wichtiger ist als Überflugrechte für die Nato. Deshalb befürworte ich die Überflugverbote; auch richtig sind die klaren Worte des Bundes.

Zur Geschichte des Gewaltverbots

fw; Vor Beginn des 20. Jahrhunderts existierte das Prinzip des Gewaltverbotes nicht. Gewalt, auch Angriffskriege, waren im Staatenverkehr gestattet. Das Recht, Kriege zu führen, war ein wichtiges völkerrechtliches Element für souveräne Staaten. Die Frage, ob überhaupt Gewalt gerechtfertigt sei, war von untergeordneter Bedeutung. Viel wichtiger war die Frage nach dem gerechten Krieg (bellum iustum). Gibt es eine iusta causa, die einen Krieg rechtfertigt? Mittels des Konstruktes des gerechten Krieges versuchte diese mittelalterliche, moraltheologisch und naturrechtlich geprägte Lehre (Augustinus, Thomas von Aquin u.a.), den Krieg in gewissen Schranken zu halten. Das allmähliche Aufkommen souveräner Staaten in der Neuzeit verdrängte diese Lehre. Über den gerechten Krieg ging man allmählich zum "freien Recht zum Krieg" über (ius ad bellum). Damit wurde souveränen Staaten das unabdingbare Entscheidungsrecht zur Erstanwendung von Waffengewalt, zum Angriffskrieg zugesprochen. Erste Versuche, dieses Recht einzuschränken, wurden an den Haager Friedenskonferenzen (1899 und 1907) unternommen. Dort wurde zum Beispiel festgehalten, dass Feindseligkeiten zwischen Staaten ohne eine Kriegserklärung nicht beginnen dürfen, oder es wurden "die Verwendung von Gift oder vergifteten Waffen" namentlich untersagt, ein Plünderungsverbot wurde erlassen usw. Auch wurden in bilateralen Verträgen Kriegsführungsregeln eingeführt, die Parteien verpflichteten, Streitigkeiten einer Untersuchungskommission vorzulegen und für eine bestimmte Zeit kriegerische Handlungen zu unterlassen (zum Beispiel sog. Bryan-Verträge). Der Erste Weltkrieg führte zur Völkerbund-Satzung (1919), die auch Massnahmen zur Kriegseindämmung vorsah. Der Völkerbund sollte eine umfassende Friedensordnung errichten und eine Einschränkung der staatlichen Souveränität zugunsten der Staatenorganisation erreichen. Das Recht auf Krieg existierte aber weiterhin, ein generelles Kriegs- und Gewaltverbot wurde erst nach den Schrecken des Zweiten Weltkrieges erlassen. Es wurden nur sog. Aufschubbestimmungen erlassen, die, ähnlich den erwähnten bilateralen Verträgen, Mitgliedstaaten verpflichteten, ihre Streitigkeiten einem gerichtlichen Verfahren, einer Schiedsgerichtsbarkeit oder dem Völkerbundsrat zu unterbreiten. Akzeptierte ein Staat ein Urteil solcher Instanzen, durfte gegen diesen Staat kein Krieg geführt werden. Der Kongress der USA ratifizierte den Vertrag allerdings nie, Japan und Deutschland traten 1933, Italien 1937 aus. Den Mängeln der VB-Satzung versuchte das Genfer Protokoll zur friedlichen Beilegung internationaler Streitfälle von 1924 zu begegnen; es auferlegte den Vertragsparteien die Pflicht "in keinem Fall zum Kriege zu schreiten", unter Ausnahme der Selbstverteidgung und der Ergreifung kollektiver Zwangsmassnahmen. Das Protokoll wurde jedoch nie geltendes Recht. Auch der Locarno-Pakt (1924), der Angriff, Einfall und Krieg verbot, verlor 1936 seine rechtliche Wirksamkeit. Ein allgemeines Kriegsverbot wurde schliesslich zum ersten Mal in Paris mit dem Kellogg-Briand-Pakt von 1928 formuliert. Krieg wurde nur im Rahmen der Selbstverteidigung zugelassen, denn die Parteien wollten auf den Krieg "als Werkzeug nationaler Politik in ihren gegenseitigen Beziehungen verzichten". Alle Streitigkeiten sollten sie "niemals anders als durch friedliche Mittel" lösen. Nach vorherrschender Meinung führte dieser Pakt schon 1945 zu einem gewohnheitsrechtlichen Verbot von Angriffskriegen. Allerdings sah der Pakt keine Sanktionen vor und das Verbot erstreckte sich nicht auf Gewalt in einem weiteren Sinn, was einige Staaten auszunutzen wussten. Universal statuierte ein allgemeines Kriegsverbot erst die Charta der Vereinten Nationen 1945 (Art. 2, Absatz 4). Ausnahmen sieht das Konfliktverhütungs- und Friedenssicherungssystem nur in drei Fällen vor: Recht auf Selbstverteidigung eines Staates im Rahmen eines bewaffneten Angriffs (Art. 51); kollektive Zwangsmassnahmen (Art. 42 und 53); Ausübung von Sonderrechten gegen ehemalige Feindstaaten (heute ohne faktische Bedeutung). Zur (heiklen) Auslegung des Gewaltverbotes werden häufig zwei GV-Resolutionen herangezogen, die hier der Vollständigkeit halber erwähnt seien: die sogenannte Friendly Relations-Deklaration (1970) und die Resolution über die Definition der Aggression (1974). Das Gewaltverbot wird heute als Völkergewohnheitsrecht angesehen, das u.a. auch Nichtmitgliedstaaten der Uno bindet (nur wenige...), das Verbot des Angriffskrieges gehört zudem zum zwingenden Völkerrecht.

 

30. Mai 1999/uh,
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