Anleitung für eine andere Welt

Beinahe zwei Jahre ist es her, dass die Friedensaktivistin Vre Karrer in Somalia ermordet wurde (siehe Nachruf in der GSoA-Zitig Nr.103/ 2002). Im August 2003 erschienen ihre Briefe nun als Buch im eFeF-Verlag: Das Zeugnis einer Frau, die den Slogan “Think globally, act locally” beispielhaft umsetzte.

Vre Karrer, Hebamme in Zürich, entschloss sich kurz vor ihrer Pensionierung, ihr Leben umzukrempeln. Sie reiste mit dem Geld aus ihrer Pensionskasse ins Bürgerkriegsland Somalia und gründete dort eine Gesundheitsstation für die Ärmsten, als gerade Uno-Blauhelme unter dem Kommando der USA die Lage noch verschlimmerten und alle internationalen Hilfswerke das Land verlassen hatten. Das Besondere an diesem Ambulatorium war, dass es als Genossenschaft organisiert war, deren Mitglieder ausschliesslich Somali waren – mit Ausnahme von Vre, der einzigen Gastarbeiterin, wie sie sich bezeichnete. Vre behandelte zusammen mit den beiden somalischen Ärzten und dem Pflegepersonal (letzteres bildete sie selber aus) alle Menschen, die an ihre Tür klopften: unterernährte Mütter und Kinder, Menschen mit Schussverletzungen, Schlangenbissen, Wunden von Minen und alle Krankheiten, die Folgen von Unterernährung sind. Und natürlich war sie Hebamme und reiste mit einem Eselswägelchen in den Busch, um Gebärenden zu helfen.

Was “ganzheitlich” wirklich bedeutet

Nach wenigen Monaten in der somalischen Kleinstadt Merka, wo das Ambulatorium mitten in einem Armenquartier steht, war Vre klar: Was vermag eine Gesundheitsversorgung, wenn die Menschen nichts zu essen haben? Flugs gründete sie zusammen mit einigen Bauernfamilien zwei landwirtschaftliche Genossenschaften, denen sie eine finanzielle Starthilfe gab. Im Gegenzug gaben die Genossenschafter einen Teil der Ernte ans Ambulatorium ab. Doch was nützen Gesundheit und Nahrung, wenn die Kinder keine Zukunft haben? Vre suchte somalische LehrerInnen und gründete eine Primarschule, später erweiterte sie das Bildungsprogramm auf eine Berufsmittelschule.

Das vorliegende Buch fasst die Briefe zusammen, die Vre Karrer aus Somalia an ihre wichtigsten GeldgeberInnen aus dem Umfeld der Religiös-sozialen Bewegung und der Zeitschrift Neue Wege sowie an ihre FreundInnen schrieb. Ergänzt werden die Briefe von einem Überblick über die Geschichte und politische Lage Somalias und von kurzen Texten, die Vres Leben schildern.

Pazifistin im Bürgerkrieg

Vre berichtete in ihren Briefen über das tägliche Leben in Merka, ihre Arbeit, die Schwierigkeiten und Gefahren ihrer Situation in einem Land, in dem es keinerlei staatliche Strukturen mehr gab. Obwohl das Ambulatorium öfter von marodierenden Banden überfallen wurde, weigerte sich Vre, bewaffnete Wächter anzustellen. Sie war überzeugte Pazifistin, Waffen duldeten sie und die Genossenschafter nicht. Vre äusserte sich kritisch gegenüber dem Einsatz bewaffneter Uno-Blauhelme und berief sich immer wieder auf die Forderungen der GSoA nach einem zivilen Friedensdienst, der im Dienst der Bevölkerung steht. Sie prangerte die Verbreitung von Waffen ebenso an wie die aggressive Machtpolitik der USA in Somalia – auch nach dem 11. September, als sich Anti-Terror-Spezialisten überall in Somalia herumtrieben und den Konflikt wieder anheizten. Im Februar 2002 wurde Vre Karrer in ihrem Zimmer in Merka von zwei Männern niedergeschossen. Liest man die letzten Briefe, so kann man sich des Eindrucks nicht erwehren, dass dieser Mord die gezielte Rache eines ehemaligen Mitarbeiters der Schule war, den die Genossenschaft kurz zuvor entlassen hatte, weil erhebliche Differenzen bezüglich des Arbeitsstils nicht behoben werden konnten.

Reden und Handeln sind eins

Vre Karrer war sich der Gefahren ihrer Tätigkeit in einer Bürgerkriegsgesellschaft sehr wohl bewusst. Doch sie wusste auch, dass sich mit einem bewaffneten Leibwächter an der Seite ihre Ziele nicht verwirklichen liessen. Ihre Briefe erzählen von dem täglichen Bemühen, das menschliche Zusammenleben ohne Gewalt und deren Androhung zu organisieren. Mit einer Waffe an der Seite kann frau nicht vom Frieden reden, jedenfalls nicht im Armenviertel einer somalischen Stadt. Vre Karrer lebte, was sie vertrat. Diese Übereinstimmung von Botschaft und Handeln macht die Faszination ihrer Briefe aus: Hier schreibt eine Frau, die jeden Tag soziale Gerechtigkeit und Gewaltfreiheit gemeinsam mit anderen Frauen und Männern umsetzt – praktisch, pragmatisch, wirkungsvoll.

Das Werk lebt fort

Nach Vres Tod führten die GenossenschafterInnen das Ambulatorium und die Schulen weiter. Das Projekt lebt. Der Förderverein Neue Wege in Somalia sammelt nach wie vor Spenden in der Schweiz, damit die Löhne sowie das medizinische und pädagogische Material bezahlt werden können. Jenny Heeb, Präsidentin des Vereins, besucht Merka regelmässig. Sie lobte gegenüber der GSoA-Zitig den verantwortungsvollen Umgang der Genossenschaft in Somalia mit den Finanzen. Nach wie vor sei jedoch die Lage im Land angespannt, weil die Zentralregierung nicht funktioniere. Das Misstrauen unter den Clans verhindere die Entwicklung tragfähiger Strukturen. Und die Lage der Frauen sei desolat. Die Arbeit bei NGOs sei häufig die einzige Möglichkeit für ein eigenes Einkommen. Auch da tragen das Ambulatorium und die Schulen zur Verbesserung bei…

Elisabeth Bäschlin (Hg.): Und grüsse euch mit dem Lied des Regenvogels. Vre Karrer – Briefe aus Somalia EFeF-Verlag, 2003

Spendenkonto: Förderverein Neue Wege in Somalia, Zürich 80-53042-7 (Kontakt: Merka02@bluewin.ch)