Atlantische Tiefausläufer

Unter den argwöhnischen Blicken der USA sucht die Europäische Union EU nach ihrer <Verteidigungsidentität>. Wird bald ein <Eurokorps> die Nato beerben?

>Transatlantische Differenzen> rumoren zwischen der EU und den USA, seit die Staatsoberhäupter und Militärs Europas entschlossen sind, ihre eigene militärische Interventionsstreitmacht zu entwickeln. Im Dezember hatte der EU-Gipfel von Helsinki entschieden, ein Eurokorps zur Krisenreaktion aufzubauen – der bisher weitreichendste Schritt hin zu einer <Stärkung der europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik> oder – im Klartext – einer Militärgrossmacht EU. Neu ist nicht die Absicht, sondern jener frische Schwung, der seit dem Krieg gegen Jugoslawien die praktische Umsetzung prägt. Dabei lässt das <Pro und Contra> über eine <europäische Verteidigungsinitiative> allzu leicht übersehen, wie weit die strategische Vorarbeit bereits gediehen ist.


Sorgfältiger Aufbau

Schon im Vertrag von Maastricht (1992) und noch prononcierter im Amsterdamer Vertrag (1997) war davon die Rede, dass die EU eine <Gemeinsame Aussen- und Sicherheitspolitik> GASP entwickeln müsse, die in eine möglichst geschlossene Verteidigungspolitik münden solle. Seit dem Jugoslawien-Krieg ist die Union dabei erkennbar enger zusammengerückt. Signifikant wird das nicht zuletzt durch die britisch-französische Annäherung. Das ist bemerkenswert, da die Briten angesichts der <special relationship> mit den USA und ihrer traditionell transatlantischen Sichtweise einer Europäisierung von Sicherheits- und Militärpolitik nur bei fortwährender Dominanz der Nato und damit der USA zustimmen wollten. Frankreich dagegen liebäugelte in Treue zum Gaullismus stets mit einer (weitgehend) Amerika-unabhängigen <Militärgrossmacht Europa>.
Doch ist es besonders der rot-grünen deutschen Bundesregierung zu danken – allen voran Aussenminister Joschka Fischer – , wenn 1999 die Militarisierung der EU einen spürbaren Schub erfahren hat. Entgegen allen Beteuerungen grüner Parteiprogramme, man sehe Vorzug und Stärke der EU gerade darin, dass sie <Zivilmacht> sei und dies auch so bleiben solle, wurde von deutscher Seite während der eigenen Ratspräsidentschaft im ersten Halbjahr 1999 ein ausgefeilter Plan vorgelegt, der sich als Leitfaden zur <Stärkung der gemeinsamen europäischen Sicherheits- und Verteidigungspolitik> verstand.
Man liess sich dabei von dem Gedanken leiten, eine solche Politik müsse sich <auf glaubwürdige operative Fähigkeiten stützen können, wenn die Europäische Union in der Lage sein soll, auf der internationalen Bühne uneingeschränkt mitzuspielen>. Dazu brauche man <autonome Handlungsfähigkeiten, die sich auf glaubwürdige, militärische Fähigkeiten und geeignete Beschlussfassungsgremien stützen>, so aparte Strukturen wie einen <EU-Militärstab einschliesslich eines Lagezentrums>, <ein Satellitenzentrum>, einen <EU-Militärausschuss>, ein <ständiges Gremium in Brüssel bestehend aus Vertretern mit politischer/militärischer Expertise>. Klare Voraussetzungen, um die sogenannten <Petersberger Beschlüsse> erfüllen zu können. Auf dem Bonner Petersberg hatte sich bereits 1992 eine Konferenz der Westeuropäischen Union WEU zuständig erklärt für <humanitäre Aufgaben und Rettungseinsätze, friedenserhaltende Aufgaben sowie Kampfeinsätze bei der Krisenbewältigung, einschliesslich friedenschaffender Massnahmen>.
In Weiterführung dieser Philosophie geht es inzwischen darum, die auf dem Petersberg definierten Fähigkeiten so zu entwickeln, dass sie <auch für Krisenbewältigungsoperationen geeignet sind>. Man will Streitkräfte aufbauen, die sich durch <Dislozierungsfähigkeit, Durchhaltevermögen, Flexibilität und Mobilität> auszeichnen. Diese Orientierung zielt auf einen eindeutig offensiven Gebrauch militärischer Mittel – nicht zur Verteidigung von Territorium der EU, sondern zum Einsatz ausserhalb der Union.

Trennbar, jedoch nicht getrennt
Hierfür wiederum kommen zwei Varianten in Betracht: <EU-geführte Operationen unter Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der Nato> oder aber <EU-geführte Operationen ohne Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der Nato>. Variante eins beschreibt den Status quo. Während der vergangenen Jahre haben sich die USA und die EU in zähem Ringen darauf geeinigt, Westeuropa die Möglichkeit zu eigenständigen militärischen Interventionen ohne Teilnahme der USA zu verschaffen – allerdings nur unter Rückgriff auf Strukturen und Potenziale der Nato. Das 1998 von der Nato in Berlin abgesegnete Konzept der Combined Joint Task Forces (CJTF) setzt diese Regelung operativ um: Nato-Stäbe können von Fall zu Fall für spezifische Nato- oder EU/WEU-geführte Operationen herangezogen werden. Die Formel, die hierfür gefunden wurde, lautet: <Trennbar, jedoch nicht getrennt>. Das heisst, einheitliche (nicht getrennte) Militärstrukturen und -potenziale können von Fall zu Fall separat zum Einsatz gebracht werden, je nachdem, ob es sich um eine Nato-Operation unter Beteiligung der USA oder um eine europäische Aktion ohne die USA handelt. Auf diese Weise sollten Überlappungen militärischer Anstrengungen vermieden werden. Den USA war diese Regelung recht, weil so zum einen keine Parallelstruktur neben der (und letztlich in Konkurrenz zur) US-domininierten Nato aufgebaut wurde – die Nato also die einzige militärisch handlungsfähige Instanz blieb – und zum anderen eine gewisse Entlastung der USA erreicht werden konnte.
Brisant ist Variante zwei: <EU-geführte Operationen ohne Rückgriff auf Mittel und Fähigkeiten der Nato>. Sie verlässt den Boden des mühsam ausgehandelten transatlantischen Kompromisses. Hier plant man eigenständige, von der Nato und damit den USA unabhängige militärische Interventionskapazitäten. Ob das realisierbar ist und von allen EU-Mitgliedern im Konsens angestrebt wird, ist noch offen. Vorerst hat man sich im EU-Kontext auf Massnahmen verständigt, die in den Rahmen von Variante eins eingepasst sind, aber zu Variante zwei führen können. Diese Doppelwertigkeit ist politisch gewollt, um den Konsens zu wahren, sich aber alle Optionen offen zu halten.

Autonom, jedoch nicht autark
Vor diesem Hintergrund müssen die Beschlüsse interpretiert werden, die auf dem Kölner EU-Gipfel Anfang Juni 1999 zur GASP getroffen wurden. Es heisst da: <Wir sind davon überzeugt, dass der Rat bei der Verfolgung der Ziele unserer gemeinsamen Aussen- und Sicherheitspolitik und der schrittweisen Festlegung einer gemeinsamen Verteidigungspolitik die Möglichkeit haben sollte, Beschlüsse über die gesamte Palette der im Vertrag über die EU definierten Aufgaben der Konfliktverhütung und der Krisenbewältigung, der sogenannten Petersberg-Aufgaben, zu fassen. Im Hinblick darauf muss die Union die Fähigkeit zu autonomem Handeln, gestützt auf glaubwürdige militärische Fähigkeiten, sowie die Mittel und die Bereitschaft besitzen, deren Einsatz zu beschliessen, um – unbeschadet von Massnahmen der Nato – auf internationale Krisensituationen zu reagieren>.
Der Gipfel in Köln brachte auch die Entscheidung, das Amt eines Hohen Repräsentanten der EU für die GASP zu schaffen und diesem ein effektives Lage- und Krisenzentrum an die Hand zu geben. Von hoher symbolischer Bedeutung war, dass sich der damalige Nato-Generalsekretär Javier Solana als erster <Mister GASP> präsentierte und in Personalunion zum Generalsekretär der WEU bestellt wurde. Schliesslich wurde in Köln auch das Ziel formuliert, bis Ende 2000 die WEU in die EU zu integrieren. Damit erhielte die EU klar eine militärische Komponente, und der Dauerdisput um die Rolle der WEU – europäischer Pfeiler der Nato oder eher militärischer Arm der EU – wäre zugunsten der zweiten Option entschieden.
Die Aussen- und Verteidigungsminister der EU konkretisierten auf ihrer Novembertagung die Kölner Beschlüsse, und der EU-Gipfel in Helsinki am 10./11. Dezember 1999 ging noch weiter: Beschlossen wurde, die EU <in die Lage (zu) versetzen, autonom Beschlüsse zu fassen und in Fällen, in denen die Nato als Ganzes nicht einbezogen ist, als Reaktion auf internationale Krisen EU-geführte militärische Operationen einzuleiten und durchzuführen>.
Bis 2003 sollen nun 50’000 bis 60’000 Soldaten für Krisenreaktionseinsätze der EU bereitstehen, einsatzbereit innerhalb von 60 Tagen, ausgestattet mit einem Durchhaltevermögen von mindestens einem Jahr. Freilich sollen keine neuen Verbände aufgestellt werden, sondern bereits der Nato zugewiesene Kräfte einen zweiten Auftrag bekommen.
Unklar ist noch die Finanzierung: Weitreichende Transportkapazitäten und die Logistik für ein EU-Interventionskorps sowie satellitengestützte Aufklärungs- und Kommunikationssysteme dürften Unsummen verschlingen. Den USA passt die skizzierte Entwicklung nicht im geringsten, wie der Auftritt von Verteidigungsminister Cohen auf der Münchner Sicherheitskonferenz spüren liess. Zwar sollten die Europäer im Rahmen einer <gerechteren Arbeits- und Lastenteilung> mehr Verantwortung übernehmen. Es hatte sich beim Krieg gegen Jugoslawien klar gezeigt, dass eine gemeinsame Operationsführung zuweilen unter den technologischen Defiziten der europäischen Streitkräfte litt. Aber diesbezügliche Anstrengungen sollten keine Dynamik entfalten, die der Kontrolle der Amerikaner zu entgleiten droht. Vize-Aussenminister Strobe Talbott befürchtet, dass die europäische Verteidigungsidentität <erst in der Nato entsteht, dann aus der Nato herauswächst und schliesslich sich von der Nato wegbewegt>. Es drohe eine militärpolitische Konkurrenz zwischen den USA und der EU. Daher fordert Washington die formale Festlegung einer Vorrangstellung der Nato gegenüber der EU bei der <Krisenbewältigung>, was zumindest auf verstärkten transatlantischen Abstimmungsbedarf hindeutet. Die EU-Staaten versuchen – noch – zu beschwichtigen; doch die Treueschwüre vermögen nicht mehr so recht zu überzeugen.

Volker Böge ist Vorstandsmitglied des Komitees für Grundrechte und Demokratie in Köln. Seinen Beitrag entnehmen wir in leicht gekürzter Fassung der deutschen Wochenzeitung <Freitag>, Nr. 2/2000.

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