Besuch an der syrisch-türkischen Grenze

Ende November reiste ich mit drei Freunden in die Türkei, um mir selber ein Bild von der Situation in den kurdischen Flüchtlingslagern zu machen und mit betroffenen Menschen direkt zu sprechen.

Bereits kurz nach unserer Ankunft konnten wir ein jesidisches Flüchtlingslager in Diyarbakir (etwa 200 Kilometer von der syrischen Grenze entfernt) besuchen. Die JesidInnen bilden eine eigene monotheistische Religionsgemeinschaft und werden von den Islamisten als Ungläubige und Teufelsanbeter bezeichnet und verfolgt. Die Geschichten, die wir dort zu hören bekamen, waren schockierend. Die Menschen erzählten uns von den Massakern des sogenannten «Islamischen Staats» (IS) und dass sie keine Zukunft für ihre Religionsgemeinschaft im Irak sähen. Sie schilderten, wie sich selbst ihre Nachbarn teilweise an den Verfolgungen beteiligten und zahllose Menschen hingerichtet wurden. Die sehr bildhaften Erzählungen liessen uns leer schlucken. Auf die Frage, weshalb sie sich nicht zur Wehr setzten, erklärten sie, dass das einige wenige tun. Diese Kämpfer versuchten aber nur, die verschleppten Frauen und Töchter zu befreien. Eine Zukunft sähen auch sie keine mehr. Den Menschen in diesem Camp stand die Hoffnungslosigkeit ins Gesicht geschrieben. Sie erhofften sich, dass wir uns in Europa für ihre Situation einsetzen würden, damit sie wieder in Frieden leben können. Am nächsten Morgen trafen wir in Suruç ein, einer kleineren Stadt nahe der Grenze zu Syrien. Dort besuchten wir Çavit, der mit seiner Familie in seinem Haus bis zu 200 Flüchtlingen Unterschlupf bot. Diese unmittelbare Hilfsbereitschaft beeindruckte uns tief. Eine solche Solidarität der Menschen untereinander bekamen wir in den wenigen Tagen unseres Besuchs allerdings noch öfters zu spüren. Die Menschen teilten mit uns, was sie hatten, auch wenn es nicht viel war. Wenn ein Flüchtlingskind einem «Westler» im Vorbeilaufen die Hälfte seiner Mandarine anbietet, erscheint dies fast surreal.

Kein ethnischer Konflikt
In den Flüchtlingslagern in Suruç bemerkten wir eine grössere Lebensfreude und Hoffnung der BewohnerInnen. So teilten uns alle Gesprächspartner mit, dass sie unmittelbar nach der Befreiung von Kobanê wieder zurückkehren werden und die momentane Situation nur vorübergehend sei. Die Unterstützung und das Feiern der YPG/YPJ (Volksverteidigungseinheiten und Frauenverteidigungseinheiten im kurdischen Syrien), der syrischen Ausgabe der PKK, war allgegenwärtig. So gab es des öfteren Schweigeminuten für die gefallenen Kämpfer oder Gesänge, Parolen und Feste zu ihrer Unterstützung. Da einer meiner Begleiter Arabisch sprach, konnten wir uns mit den syrischen und irakischen Flüchtlingen ohne lokalen Dolmetscher unterhalten. Im Vorfeld wurde uns davon abgeraten, Arabisch zu sprechen, da dies die Sprache des IS sei, und wir uns damit keine Freunde machten. Vor Ort jedoch war dies kein Problem. Es wurde uns auch ausdrücklich gesagt, dass kein Hass gegen die arabische Bevölkerung an sich bestehe. So sei dies ein Kampf von Freiheit und Unabhängigkeit gegen den Faschismus des IS und kein ethnischer Konflikt. In Suruç konnten wir uns mit einem türkischen Antimilitaristen treffen. Von ihm erfuhren wir, dass es auch in ihrer Organisation umstritten sei, ob eine bewaffnete Verteidigung moralisch legitim sei. Allerdings unterstützten viele AntimilitaristInnen die Flüchtlinge und die KurdInnen an sich. Das Hauptengagement liegt allerdings bei der Hilfe und Solidarität für Militärdienstverweigerer. Anders als bei uns gibt es in der Türkei keinen Zivildienst und hohe Gefängnisstrafen für Verweigerer. Zudem macht sich das Militär durch Repression und Unterdrückung besonders bei Minderheiten sehr unbeliebt. Trotzdem seien die meisten UnterstützerInnen ihrer Organisation ethnische TürkInnen, weil viele KurdInnen sich einen pazifistischen Befreiungskampf nicht vorstellen könnten. Dies deckte sich mit unseren Gesprächen mit anderen Menschen, die den bewaffneten Kampf der YPG/YPJ und der PKK in der Türkei für den richtigen Weg hielten.

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