Das prangern wir an (III): Strategische Studienberichte, diverse

Reformhaus VBS?

«Öffnung», «Kooperation», «Reform» – aus dem VBS tönt es wie im Managementseminar. Die Frage nach Anlass und Richtung der Armeereform droht dabei hinter der militärischen Forschrittsrhetorik zu verschwinden.

Düstere Sorgenfalten unter steifem Hut: «Verunsicherung, Selbstzweifel, Selbsterniedrigung und politische Unrast prägen das aktuelle Bild», orakelt Werner Hungerbühler, Chefredaktor des Schweizer Soldat (in Nr 3/98). Und: «Bei dieser Verunsicherung wird auch der Wehrwille in Frage gestellt. Das Milizsystem, auf dem unser Staat aufgebaut ist, droht einzustürzen.» Auch der Thurgauer SVP-Nationalrat Otto Hess sieht schwarz. Zur Zeit entwickle «jeder Bürger in diesem Land sein eigenes Konzept über unsere künftige Sicherheitspolitik und die Armee im Jahr

200X. Das ist der beste Nährboden für eine totale Verunsicherung. Unsicherheit schadet in jedem Fall der heutigen und künftigen Armee.»

Militärische Globalisierung

Diese Unsicherheit in der offiziellen Militärpolitik der Schweiz ist nur im Kontext des globalen Umbruchs nach dem Ende des Kalten Krieges verständlich: Wirtschaftliche Interessen sind immer weniger an die politische Beherrschung eines bestimmten Territoriums gebunden. Sie müssen sich vielmehr standortunabhängig im globalen Wettbewerb und möglichst kosteneffizient durchsetzen. Das zentrale Ordnungsproblem dieser neoliberalen Globalisierung besteht im möglichst kostengünstigen Ausschluss ‹überflüssiger› Arbeitskraft. Nationalstaatliche Grenzen spielen dabei – zumindest im reichen Norden – eine immer untergeordnetere Rolle. Konflikte und ihre gewalttätige Abwehr entwickeln sich daher immer mehr entlang sozialer Grenzen (die nach Bedarf mit ethnischer oder kultureller Bedeutung aufgeladen werden können).

Dieser Prozess bringt das politische Koordinatensystem durcheinander, das in den vergangenen zwei Jahrhunderten den Rahmen für Kriege beziehungweise für deren Vorbereitung abgegeben hat. Das Konzept ‹Verteidigung› verändert radikal seinen Sinn, wenn in einem Konflikt ‹Innen› und ‹Aussen› nicht mehr eindeutig unterschieden werden können – etwa beim ‹Krieg› gegen Drogen oder gegen das Verbrechen. Ebenso verliert der Begriff ‹Sicherheit› seine nationale Indentitätsfunktion, wenn die Sicherheit eines Teils der Gesellschaft immer repressiver gegen andere Teile (die Ghettos, die Armen, die Arbeitslosen, die Minderheiten) durchgesetzt wird.

Die Folgen: Private Sicherheits- und Söldneragenturen bieten sich langfristig als flexiblere Instrumente an. Und internationale Militärbündnisse entwickeln eine Eigendynamik, welche weit über den Handlungshorizont kleiner und mittlerer Nationalstaaten hinausreicht. Die teuren, auf eine Konfrontation mit einem ebenbürtigen Gegner ausgerichteten Wehrpflichtigenarmeen der Nationalstaaten stehen offensichtlich schief in dieser Landschaft.

Neue Militärdoktrin

Das alles bedeutet nicht, dass konventionelle Armeen automatisch an Bedeutung verlieren oder sich sogar selbst abschaffen werden. Einerseits ist das politische Stehvermögen der Militärapparate nicht zu unterschätzen: Obwohl 1989 das Bedrohungsbild einer ganzen Epoche quasi über Nacht zusammenbrach, reduzierten die westlichen Länder ihre Militärausgaben bis heute nur unwesentlich. Und andererseits arbeiten die Denkfabriken der Generalstäbe weltweit an einer neuen Militärdoktrin, welche ein Mindestamss an Glaubwürdigkeit besitzt und daher auch als innergesellschaftliche Disziplinierungsideologie taugt.

Versprach die Militärdoktrin im Kalten Krieg den Ausschluss der jeweils anderen (bedrohlichen) Hälfte der Menschheit aus der eigenen Welt, hantiert die neue Ideolgie mit der Vorstellung, gesellschaftliche Konflikte könnten nötigenfalls mit militärischer Repression feingesteuert werden. Der berechenbare Interventionskrieg, der ohne eigene Verluste geführt werden kann, ist eine Variante dieser Allmachtsphantasie – eine Phantasie, welche die Waffenschmieden zur Planung immer neuer High-Tech-Waffensysteme anregt.

«Richtige Marschrichtung»

Auch der ‹Chef Heer› der Schweizer Armee, Korpskommandant Jacques Dousse, spürt den Anpassungsdruck: «Die Schlussfolgerungen des Berichts Brunner unterstreichen als erstes die zwingende Notwendigkeit für unser Land und seine Armee, sich der Entwicklung anzupassen. … Wir sind mit der Aufgabe vertraut, die Armee mit der aktuellen geopolitischen, sozialen, wirtschaftlichen und finanziellen Wirklichkeit zu verknüpfen.» (Schweizer Soldat 6/98).

Tatsächlich sucht die militärische Elite unseres Landes – mit einiger Verspätung – den Anschluss an die oben skizzierte Globalisierungsprozess. Die Reaktion auf den Ende Februar 98 veröffentlichten sicherheitspolitischen Bericht der Komission Brunner zeigt dies deutlich: Zwar kritisierten ‹Sicherheitsexperten›, hohe Offiziere und die Schweizerische Offiziersgesellschaft den Bericht als streckenweise «oberflächlich» oder gar «widersprüchlich». Doch sogar der «Verein Sicherheitspolitik und Wehrwissenschaft» (VSWW) – eine Art Think-Tank hoher Offiziere um Daniel Heller, Gustav Däniker, Walter Dürig und Dominique Brunner – attestiert dem Bericht in einem von der Generalversammlung des Vereins am 11. Mai verabschiedeten Dokument «die richtige Marschrichtung».

Der Brunner-Bericht bietet tatsächlich eine gute Plattform für alle Versuche, die Doktrin und damit die langfristige Legitimation der Schweizer Armee den veränderten Rahmenbedingungen anzupassen. Nebst einer gehörigen Dosis Kontinuität (Beibehaltung der militärischen «Kernkompetenzen») versammelt der Bericht nämlich vor allem Feindbilder, Handlungsoptionen und organisatorische Vorschläge, welche ins globalisierte – nach innen und aussen entgrenzte – Denkmuster passen. Dazu gehören: die geforderte Annäherung an die Nato, der Vorschlag, bewaffnete Schweizer Soldaten in Konfliktgebiete zu entsenden, die in Aussicht gestellte Anschaffung von High-Tech-Waffen, die fortschreitende Differenzierung in Profi-Einheiten und Miliztruppen, die positive Einschätzung eines autoritären «Krisenmanagements» sowie die Ausdehnung des Aufgabenbereichs der Armee auf Konfliktfelder, die bislang der Polizei (Verbrechensbekämpfung), dem Grenzwachtkorps (Flüchtlingsabwehr) oder den Geheimdiensten vobehalten waren. Sowohl bei der laufenden Debatte um einen Armeeeinsatz an der Grenze als auch in verschiedenen thematischen Artikeln (vor allem in der NZZ und der Weltwoche) haben sich Militärexperten seitdem positiv auf Aspekte des Brunner-Berichts bezogen.

Linke Verunsicherung

Dies alles ist leicht nachvollziehbar. Um so erklärungsbedürftiger ist die abwartende bis positive Reaktion auf den Bericht von Teilen der armeekritischen Linken (z.B.: SP-Info vom 27.2.98). Mindestens drei Faktoren spielen dabei eine Rolle.

Erstens zeigt die mit der militärischen Neuorientierung verbundene Fortschritts- und Reformrhetorik vor allem bei progressiven Geistern Wirkung. Nicht von ungefähr nennt sich die laufende Armeereformphase «Progress». Verstärkt wird das Reformimage des VBS zusätzlich durch die innermilitärischen Verteilungskämpfe – Stichworte: geburtenschwache Jahrgänge, Spardruck, Bestandesreduktion. VBS-Chef Ogi, der die Sparpolitik des Bundesrates mittragen muss, gerät dabei in die Schusslinie der Milizorganisationen und der «Arbeitsgemeinschaft für eine wirksame und friedenssichernde Milizarmee» – eine mit dem VSWW verbandelte Hardliner-Truppe.

Zweitens wird diese Debatte um die Zukunft der Armee von derjenigen um die politische Zukunft des Nationalstaates Schweiz überlagert. Der Brunner-Bericht ist nicht zuletzt ein Dokument der sich herausbildenden Allianz von progressiven Europa-Befürwortern und anpassungsfähigen Militärs. Genau gegen diese Allianz veröffentlichte die Gallionsfigur der national-konservativen Bewegung, Christoph Blocher, im April diese Jahres einen sicherheitspolitischen Gegenbericht. Darin wendet er sich gegen die politische Öffnung der Schweiz. Die Beibehaltung der bisherigen Verteidigungsdoktrin der «bewaffneten Neutralität» ist für ihn die logische Konsequenz – ganz gleich, ob die Armee damit durchkommt oder nicht.

In der Armee ist diese Position inzwischen völlig chancenlos. Milliardenteure Fahnenschwinger für eine Anti-Europa-Politik würde sich auf Dauer niemand leisten wollen. Die Militaristen vom VSWW werfen Blocher daher gar «einen Rückschritt in die Zeiten von 1914/18, 1939/45 und des Kalten Krieges» vor.

Der Anti-Blocher-Reflex schafft aber umgekehrt bei ‹progressiv› Denkenden Akzeptanz für die ‹Ogi-Brunner-Reform› – obwohl es gar nicht um Europa-Politik, sondern schlicht um die Existenzberechtigung der Armee geht.

«… es stimmt ja gar nicht»

Der dritte Faktor der linken Verunsicherung heisst Andreas Gross. Dass sich die langjährige Identifikationsfigur des radikalen Pazifismus in der Schweiz zum Aushängeschild des Brunner-Berichts macht, hat politischen Signalcharakter für Friedensbewegte – wenn Gross mitmacht, kann es so übel nicht sein (vgl. auch Divisionär a.D. Gustav Däniker in der Allgemeinen Schweizerischen Militärzeitschrift, Beilage zu 3/98). Um so bedauerlicher ist es, dass Gross die Einladung zu einem Streitgespräch in der GSoA-Zitig abgelehnt hat – mit dem Argument, die Diskussion um den Brunner-Bericht sei nicht mehr aktuell.

Spätestens wenn sich Adolf Ogi wieder einmal öffentlich mit dem Argument gegen Blocher wehrt, es stimme ja gar nicht, dass «das Verteidgungsdepartement sehr viel Geld in internationale Aktivitäten investiere und im Gegenzug die Armee vernachlässige», das VBS wende «heute pro Jahr rund 0,8 Prozent der Gesamtausgaben für solche Aktivitäten auf» (NZZ, 27.4.98) – spätestens dann sollte allen klar werden: Der Kampf um die politische Öffnung der Schweiz ist nicht mit der Armee zu gewinnen.

Und die Anpassung der Schweizer Armee an die Kriegsszenarien des 21. Jahrhunderts mag man als «Reform» bezeichnen – mit einer zukunftsfähigen Sicherheits- und Friedenspolitik hat sie nichts zu tun.