Jüdische Stimme

Juden und Jüdinnen in der Schweiz sind besonders durch den Konflikt im Nahen Osten betroffen. Dies einerseits, weil viele von ihnen Verwandte in Israel haben, andererseits aber dadurch, dass man ihnen oftmals mit einer grossen Erwartungshaltung begegnet. Stefan Luzi sprach mit zwei Mitgliedern der Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden zwischen Israel und Palästina (JVJP).

Was ist die Jüdische Stimme für einen gerechten Frieden zwischen Israel und Palästina und was sind ihre wichtigsten Ziele?

Daniela: Die Jüdische Stimme ist ein Zusammenschluss von Juden und Jüdinnen in der Schweiz, grösstenteils aus Zürich. Wir haben uns im Frühjahr 2002 zusammengeschlossen aus grosser Besorgnis über die Lage in Israel / Palästina und mit dem Willen, unsere Stimme zu erheben und uns aktiv zum Konflikt zu äussern. Die israelische Regierung beruft sich in ihren Handlungen oftmals auf den allgemeinen Willen aller Juden und Jüdinnen. Daher ist es wichtig zu sagen, dass die Politik der Regierung Sharon nicht in unserem Namen erfolgt.

Die wichtigsten Ziele von uns sind die Sensibilisierung der Öffentlichkeit – dies einerseits unserer Kolleginnen und Kollegen in der jüdischen Gemeinschaft der Schweiz wie auch der Schweizer Öffentlichkeit generell – sowie die Unterstützung von Nichtregierungsorganisationen in Israel und Palästina.

Raffael: Und das übergeordnete Ziel dieser Anstrengungen ist eine gerechte Lösung des Konfliktes auf der Basis einer Zwei-Staaten-Lösung…

Mit welchen Mitteln versucht ihr die genannten Ziele zu erreichen?

Daniela: Ein grosser Teil unserer Arbeit ist Öffentlichkeitsarbeit: Wir laden Menschen aus beiden Teilen des Konfliktgebiets in die Schweiz zu Vorträgen und Diskussionsrunden ein, um ein genaueres Bild der Situation in Israel und in Palästina zu vermitteln. Ein anderer Teil unserer Arbeit ist die Mitarbeit in einem europäischen Rahmen: Wir haben regen Austausch mit jüdischen Gruppierungen in Europa, die in ähnlicher Form wie wir zum Konflikt Stellung nehmen. Zusammen mit ca. 15 anderen jüdischen Gruppen aus zehn verschiedenen europäischen Ländern bilden wir ein Netzwerk mit dem Namen European Jews for a Just Peace EJJP und arbeiten so auch auf der europäischen Ebene.

Zudem versuchen wir auch, in der Schweiz Kontakt mit Gruppierungen zu schaffen, die sich ebenfalls für einen gerechten Frieden in Nahost einsetzen.

Raffael: Vernetzung ist das A und O unserer Arbeit. Das kann sich auch auf die Zusammenarbeit mit offiziellen Behörden beziehen. Und wir möchten auch die Zusammenarbeit mit palästinensischen Gruppierungen verbessern.

Ist die Jüdische Stimme auch als Reaktion auf die Diskussion entstanden, wie sie in der Schweiz zum Nahost-Konflikt geführt wurde und wird?

Raffael: Nein, die Jüdische Stimme ist in erster Linie aus einer Ohnmachtssituation von Juden und Jüdinnen entstanden. Dabei spielt auch eine Rolle, dass sich viele von uns bereits kritisch gegen den Libanonfeldzug der israelischen Armee und die Erste Intifada gewandt haben. Nach der Ersten Intifada und Oslo meinten wir, wir wären einem Ende des Krieges im Nahen Osten einen Schritt weiter – und doch wurde die Situation im Gegenteil immer schlimmer.

Was die Diskussion in der Schweiz angeht, so müssen wir klar feststellen: Wir befinden uns in einem Propagandakrieg und wir arbeiten in einem Propagandaumfeld. Da wir nicht selber an Ort und Stelle sind, sind wir alle auf die Berichterstattung von Medien angewiesen. Wie heikel das ist, hat der Fall «Jenin» gezeigt, als man im ersten Moment von unsäglichen Greueln berichtet hat, die sich dann nachher als Falschmeldungen herausgestellt haben – wobei die Realität natürlich noch immer schlimm genug war. Die Diskussion in der Schweiz wird also bestimmt durch Propaganda – von israelischer wie auch von palästinensischer Seite.

Die Diskussion um den Nahost-Konflikt hat auch in der Schweizer «Linken» zu Auseinandersetzungen geführt. Linken Organisationen wurden vorgeworfen, sie stellten sich zu einseitig auf die Seite der PalästinenserInnen. Wie habt ihr selber diese Diskussion in der Linken erlebt?

Raffael: Vereinheitlichen kann man nicht. Trotzdem gab es natürlich auch in der Linken Ereignisse, die zu denken gaben. Ein Beispiel war die Antirassismus-Konferenz von Durban, als eine Rednerin nur aufgrund ihrer jüdischen Herkunft angegriffen wurde und wo eine Schlusserklärung verabschiedet wurde, die antisemitische Gefühle zumindest bediente.

Auch in der Schweiz ist es leider so, dass viele Linke einfach die Gleichung «Zionismus gleich Rassismus» machen, ohne weiter zu überlegen. Auf der anderen Seite gibt es aber auch linke Schweizer Organisationen, wie die GSOA, die versuchen, eine differenzierte Auseinandersetzung um den Konflikt zu führen und sich der Diskussion zu stellen.

Man sollte auch nicht vergessen, dass wir in der Schweiz in einem Milieu aufwachsen, das leider immer noch antisemitisch geprägt ist, leider auch in der Linken. Darum ist eine Sensibilisierung dieses Themas weiterhin dringend notwendig.

Andererseits dürfen die Versuche der israelischen Regierung und ihrer UnterstützerInnen auch in der Linken, die versuchen, die berechtigte Kritik an der israelischen Politik mit dem Antisemitismus-Vorwurf zu delegitimieren und mundtot zu machen, nicht unterschätzt werden.

Daniela: Die Gefahr bei Linken ist die gleiche wie auch bei anderen Menschen: Man steht für ein «grosses» Ziel ein, wie «Frieden», «Gerechtigkeit» oder «Solidarität». Vor der Bedeutung des Zieles geht manchmal die Differenziertheit verloren. Hintergründe werden nicht mehr gekannt oder hinterfragt, man argumentiert oberflächlich und mit Schlagwörtern. Das ist gefährlich. Wir von der Linken kritisieren diese «Untugenden» oftmals bei der politischen Rechten: Aber sie kommt oft genug auch in der Linken vor.

Raffael: …das heisst aber nicht, dass eine klare und ausdrückliche Solidarität mit den Unterdrückten im Nahost-Konflikt nicht legitim ist.

Womit wir Juden und Jüdinnen allerdings grössere Probleme haben, ist die Gleichsetzung des Nahost-Konfliktes mit der Shoa oder auch die Verwendung des Wortes Genozid im Zusammenhang mit der Unterdrückung der PalästinenserInnen. Das ist eine Gleichsetzung, die unverhältnismässig ist, den Holocaust als industrielle Vernichtungsmaschinerie banalisiert und jüdische Gefühle verletzt.

In den letzten Jahren wurde häufig darüber gesprochen, dass der Antisemitismus – als Folge der zweiten Intifada – in Europa wieder zugenommen hat. Was sind eure diesbezüglichen Erfahrungen?

Raphael: Generell stellen wir eine Zunahme von Rassismus fest. Und eine Zunahme von Rassismus hat immer auch eine Zunahme von Antisemitismus zur Folge.

Ich arbeite in meiner Arbeit mit Kindern von ultraorthodoxen Juden. Und hier stelle ich doch klar fest, dass diese Kinder vermehrt Opfer von antisemitischen Äusserungen werden. Diese Kinder «schützen» sich vor solchen Angriffen, indem sie halt eine Baseball.Mütze über die Kippa tragen oder ihre Schläfenlocken verstecken.
Und auch persönlich habe ich schon den Eindruck, dass man heute offener zum Antisemitismus steht…

Daniela: Auch ist es so, dass viele Menschen einfach keinen Unterschied zwischen Juden und Israelis machen. Und wer antiisraelisch ist, ist so schnell auch im antisemitischen Fahrwasser.

Vielfach begegnet man uns Juden/Jüdinnen sowohl mit Vorurteil wie auch Kritik: Erstens setzen viele Menschen, wenn sie erfahren, dass man Jüdin ist, einfach voraus, dass man Israel vorbehaltslos unterstützt. Gleichzeitig aber wird man kritisiert, wenn man nicht Stellung bezieht.

Raphael: Das kommt mir dann manchmal vor wie der Witz mit der Krawatte: Eine Mutter schenkt ihrem Sohn zwei Krawatten, eine unifarbene und eine gestreifte. Als der Sohn die Mutter einmal zum Abendessen einlädt, zieht er dafür die gestreifte Krawatte an. Fragt die Mutter: «Was, du trägst die gestreifte Krawatte. Hast du denn die unifarbene nicht gerne?» Mit anderen Worten: Manchen Menschen kann man es als Jude in der Schweiz einfach nicht recht machen.

Wenn ihr, im Februar 2004, die Situation im Nahen Osten betrachtet – was macht euch Hoffnung auf ein Ende des Blutvergiessens und auf einen gerechten Frieden?

Daniela: Für mich gab es trotz aller schrecklichen Ereignisse in den letzten Jahren auch Zeichen von Hoffnung. Auf der Ebene der Basisbewegungen hat die zweite Intifada einiges ausgelöst: Wenn man heute sieht, welche und wie viele Bewegungen sich auf israelischer Seite sowie auf palästinensischer Seite als Antwort auf die Gewalt gebildet haben, so ist das ein starkes Zeichen der Hoffnung. Ich denke da beispielsweise an die DienstverweigerInnen auf israelischer Seite. Diese Verweigerer sind eine Erschütterung für die israelische Gesellschaft, die so vor fünf Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Ich denke aber auch an Frauengruppen und diejenigen – zwar wenigen aber mutigen Gruppierungen – in denen Israelis und PalästinenserInnen zusammenarbeiten.

Raffael: Die Entwicklungs- und die Solidaritätsarbeit in Palästina, die in den letzten Jahren erfolgt ist, war sehr wichtig. Sie hat nicht nur den PalästinenserInnen gezeigt, dass sie in ihrer Not nicht alleine sind, sondern auch die Selbständigkeit der Menschen gefördert. Gerade darum ist es aber entscheidend, dass die Entwicklungshilfe in die zivilgesellschaftlichen Organisationen fliesst, genauso, wie es die von PalästinenserInnen und JüdInnen mitgetragene «Kampagne Olivenöl», ganz bewusst macht – und nicht einfach zur palästinensischen Autonomiebehörde. Die Entwicklungshilfe ist auch wichtig, um den Menschen neben den islamistischen Versprechungen der Hamas eine andere Perspektive und Existenz zu schaffen. Damit wird eine zivile palästinensische Perspektive jenseits von Arafat und Hamas geschaffen.

Raffael Ullmann, in Zürich aufgewachsen, ist Ergotherapeut. Er war Mitglied der POCH, Gründungsmitglied der kritischen Juden und Jüdinnen KJJS und ist aktives Mitglied der Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden zwischen Israel und Palästina JVJP.

Daniela F. Vorburger lebt in Zürich und arbeitet für das Schweizerische Arbeiterhilfswerk SAH. Sie ist aktives Mitglied der Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden zwischen Israel und Palästina JVJP und Mitglied des Exekutivkomitee der European Jews for a Just Peace EJJP.

Die Stellungnahmen und Forderungen der Jüdischen Stimme für einen gerechten Frieden zwischen Israel und Palästina JVJP sind unter www.jvjp.ch zu finden. Die Homepage von EJJP kann unter der Adresse www.ejjp.org abgerufen werden.