Krieg dem Kriege

In den meisten neuen Publikationen über den Ersten Weltkrieg kommen die Friedensbewegten und die meuternden Soldaten zu kurz – ein kritischer Überblick.

Ende 1914 geschah an der Westfront etwas Unerhörtes: Deutsche, britische, französische Soldaten und Offiziere legten ihre Waffennieder, sangen Weihnachtslieder, begruben gemeinsam ihre Toten und spielten danach gegen einander Fussball. Die entsetzten Heerführer und Kriegsminister taten darauf alles, um das Bekanntwerden und die Wiederholung eines solchen Skandals zu verhindern. Besonders skandalisiert über den kleinen Frieden im Grossen Krieg zeigte sich ein Gefreiter namens Adolf Hitler, dessen bayerisches Regimentsich am Waffenstillstand beteiligt hatte. Was sagt uns diese Geschichte, die im Buch «Der kleine Frieden im Grossen Krieg» von Michael Jürgs erzählt wird? Die Kriegsbegeisterung, die bereits im Sommer 1914 kleiner gewesen ist, als allenthalben behauptet wird, war ein halbes Jahr nach Kriegsbeginn an den Fronten verschwunden. Dass das Morden weiter ging, lässt sich nur mit den militärischen Untugenden Gehorsam und Disziplin erklären. Hätten die Soldaten und nicht die Generäle, Diplomaten und Minister das Sagen gehabt, wäre der Krieg nach einem halben Jahr zu Ende gegangen. Hitlers Entsetzen über die Meuterei seiner Einheit enthüllt den innersten Kern seiner Ideologie, die sich damals heraus zu bilden begann: Krieg statt Frieden! Das am meisten gefeierte Buch der vergangenen Monate, Herfried Münklers «Der Grosse Krieg», bringt es auf seinen 924 Seiten fertig, den «kleinen Frieden» in keinem einzigen Wort zu erwähnen. Auch die Friedensbewegungen vor dem Krieg, die Antikriegsaktivitäten während desselben und die Meutereien, insbesondere die französischen im Mai 1917, werden nur marginal gewürdigt. Ähnlich verhält es sich beim anderen Wälzer, der in den Schweizer Medien höchst unkritisch besprochen wurde. Christopher Clarks «Die Schlafwandler» interessiert sich sehr wenig für die Friedenskundgebungen in den Jahren 1912 bis 1914.Angesichts der 20 Millionen militärischen und zivilen Todesopfer sowie den 21 Millionen Verwundeten, ist die Kühle der Herren Münkler und Clark beachtlich. Während sich Clark fast ausschliesslich auf die Mächtigen fokussiert und dabei betont, dass sie all das nicht wollten, beschreibt Münkler das Leiden und (Ver-)Zweifeln der Soldaten in ihren Schützengräben sehr eindrücklich. Aber er sieht in ihnen keine potentiellen politischen Subjekte. Das hat zu tun mit seiner höchstobrigkeitlichen Weltsicht, der er auch in der aktuellen Tagespolitik huldigt. Seine mangelnde Distanz zum Militärischen hat zur Folge, dass er die strukturelle, kulturelle und intellektuelle Militarisierung Deutschlands und ganz Europas als Kriegsursachen völlig unterschätzt. Der Erfolg des prophetischen Romans «Das Menschenschlachthaus – Bilder vom kommenden Krieg» von Wilhelm Lamszus, der1912 innert wenigen Monaten 70 Auflagenerreichte, dessen englische Ausgabe 1913 in einer Auflage von 100’000 Exemplaren erschien und der in viele andere Sprachen übersetzt wurde, wird von Münkler und von Clark gänzlich ausgeblendet.

Kriegsgegner aller Länder

In einem Punkt liegen Münkler und Clark richtig: Alle Kriegsregierungen tragen Mitschuld. In der Konsequenz, die sie nicht ziehen, heisst das: Alle Kriegsgegner aller Länder waren im Recht. Die falsche These, dass Deutschland die Allein- oder Hauptschuld trägt, hatte zur Folge, dass die französischen, britischen oder US-amerikanischen Friedensbewegten immerzu wenig gewürdigt wurden. Allerdings gehen die beiden Autoren zu weit, wenn sie im Kaiserreich einen Staat wie die meisten anderen sehen. Im ostelbischen Preussen gab es eine historisch überholte soziale Klasse, das Junkertum, die extrem militaristisch und antidemokratisch war. Diese feudalen Gutsbesitzer, die als Militäradel die Armee völlig und die Staatsbürokratie weitgehend kontrollierten, aber den eigenen Untergang befürchteten, haben 1912 nach einem Linksrutsch bei den Reichstagswahlen den Bürgerkrieg gesucht. Nachdem die Arbeiterbewegung sich nichtprovozieren liess, blieb ihnen im Bündnis mit den rheinischen Schwerindustriellen nur noch der Krieg nach aussen. Heiner Karuscheit beschreibt diese innenpolitische Kriegslogik sehr schlüssig in seinem Buch «Deutschland 1914». Seine Theorieweicht ab von der berühmten Fischer-These, welche die deutsche Kriegstreiberei hauptsächlich mit dem «Griff nach der Weltmacht» erklärt. Dass aussenpolitische Gründe, insbesondere Wirtschaftsinteressen, die deutsche Eskalation bestimmten, widerspricht der Tatsache, dass in der südlichen Hemisphäre gar nicht mehr viel zu gewinnen war und dass der Militäradel viel mehr auf das Innere orientiert war. Die Überzeugung aller Strömungen der Sozialdemokratie, dass es beim drohenden Krieg primär um die imperialistische Aufteilung der Welt ging, hat es der Mehrheit im August 1914 erleichtert, den Kriegskrediten für die «Landesverteidigung gegen Russland» zuzustimmen. Da in diesem Feldzug kaum Wirtschaftsinteressen auf dem Spiele standen, musste es doch um die Verteidigung deutscher «Kultur» gegen den «russischen Despotismus» gehen. Selbst Karl Liebknecht, der sich anfänglich der Fraktionsdisziplin fügte, und sogar Rosa Luxemburg schwankten am Anfang, weil sie unsicher waren, ob es angesichts des Fehlens ökonomischer Motive nicht doch ein Verteidigungskrieg war. In Frankreich, das militärisch vom verhassten Preussen angegriffen wurde, war die Linke noch schlechter vorbereitet. Aber auch in diesem Land zogen die Mächtigen in den Krieg, um die tiefe Spaltung des Landes und die gesellschaftliche Schwächung der Armee aufgrund des Dreyfus-Prozesses zu überwinden. Auch hier spielten imperialistische Interesseneine zweitrangige Rolle. Wegen der Besetzung von Elsass-Lothringen und der stärkeren Integration der Sozialdemokratie in den Staatsapparat gewann der Widerstand gegen den Krieg nie die gleiche Kraft wie in Russland oder Deutschland. Dass es ihn trotzdem gab, schildert André Loez in seiner Geschichte der Meutereien («Les refus de la guerre»). Der bekannte Comic-Zeichner Jacques Tardi und der Historiker Jean-Pierre Verney gaben gleichsam als Beigabe den lesens- und sehenswerten Band «Elender Krieg 1914-1919» heraus. Stärker als in Frankreich war die Friedensbewegung in Grossbritannien, wo sie eng mit der Frauenbewegung verbunden war. Der US-amerikanische Historiker Adam Hochschildräumt ihr in seinem Buch «Der Grosse Krieg» den ihr gebührenden Platz ein. Er zeigt, wie auch die Oberschichten, deren Söhne einen besonders hohen Blutzoll zahlten, durch den Krieg erschüttert wurden. Einen eindrücklichen Überblick über das geistige Panorama des Ersten Weltkriegs liefert der Nazismus Kenner Ernst Piper mit seiner «Kulturgeschichte im Ersten Weltkrieg». Dieses Buch erklärt am besten, warum der Grosse Krieg zur Urkatastrophe des 20. Jahrhunderts wurde.