Migrationsabwehr und «humanitärer Krieg»

Die Lage in Libyen ist unübersichtlich. Doch eines hat sich während der Kriegswirren nicht verändert: Das europäische Anliegen, «illegale» MigrantInnen bereits auf dem afrikanischen Kontinent abzufangen.

Noch im Oktober 2010 gab die Europäische Kommission bekannt, «gute Fortschritte» bei bilateralen Verhandlungen mit dem Gaddafi-Regime zu machen. Einer der Punkte, über die Konsens bestehe: «Die Einrichtung eines integrierten Überwachungssystems entlang der libyschen Landgrenze, mit einem Fokus auf Gegenden, die für irreguläre Migrationsflüsse anfällig sind.»

Unterdessen haben sich die Zeiten geändert. Zahlreiche europäische Staaten beteiligen sich an einer militärischen Intervention gegen Gaddafi, die langsam aber sicher in einen anhaltenden Bürgerkrieg abzugleiten droht. Die Verhinderung von Einwanderung geniesst derweil weiterhin höchste Priorität in der europäischen Libyen-Politik. Nach einem Gespräch mit dem Interims-Premier des oppositionellen Übergangsrates liess EU-Kommissar Štefan Füle am 14. Juli verlauten, die EU könne den Gaddafi-Gegnern im Osten des Landes «fein abgestimmte Hilfe» bieten. Unter anderem im Bereich «Migration und Grenzmanagement».

Noch während im Namen des Schutzes der Zivilbevölkerung die Bomben fallen, lotet Europa also aus, wie die vorgelagerte Migrationsabwehr auf dem afrikanischen Kontinent unter neuen Machtverhältnissen fortgeführt werden kann.

Eine Frage der Glaubwürdigkeit

Wer für sich in Anspruch nimmt, aus humanitären Gründen militärisch zu intervenieren, nimmt eine hohe Rechtfertigungslast auf sich. Es gibt keinen Krieg ohne «Kollateralschäden», auch nicht in Libyen. Will die Militärkoalition von der Bevölkerung dennoch als Befreierin wahrgenommen werden, so muss sie deutlich machen, dass ihr die afrikanischen Menschen wirklich etwas wert sind.

In der Migrationspolitik tut Europa zur Zeit das bare Gegenteil. Ein Beispiel dafür sind die gut hundert Flüchtlinge, die in einem maroden Boot von Libyen aus nach Europa aufgebrochen waren und am 11. Juli von einer spanischen Fregatte aufgegriffen wurden. Fünf Tage lang wurde darüber verhandelt, was mit ihnen anzufangen sei. Am Ende wurden sie nach Tunesien abgeschoben. Hauptsache, sie gelangen nicht nach Europa.

Das Hochkommissariat für Flüchtlinge der Vereinten Nationen schätzte bereits im Mai, dass seit Beginn des Konflikts rund 1’000 Menschen im Mittelmeer ertrunken waren beim Versuch, von Libyen nach Europa zu gelangen. Was im Burggraben der «Festung Europa» geschieht, ist der wunde Punkt im Verhältnis Europas zum Aufbruch in der arabischen Welt. Daran entscheidet sich, was die wortreichen Solidaritätsbekundungen wirklich wert sind.

Eine humanere Migrationspolitik im Mittelmeerraum ist deshalb nicht nur ein Gebot der Gerechtigkeit, sondern auch eines der politischen Vernunft: Will die Militärkoalition in Libyen Erfolg haben, so muss sie glaubwürdig sein in ihrem Bekenntnis zum Schutz der Zivilbevölkerung. Das beinhaltet auch den Schutz derer, die in der Hoffnung auf ein besseres Leben zu neuen Ufern aufbrechen.

Quellen:

European Commission and Libya agree a Migration Cooperation agenda during high level visit to boost EU-Libya relations

Statement by Commissioner Štefan Füle following his meeting with Dr Mahmoud Jibril, Chairman of the Executive Board of the Libyan Transitional National Council

Der Spiegel: Exodus übers Mittelmeer

Tragedy at Sea: UNHCR Reports 1000 Possibly Dead After Being Forced Out of Libya

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