Politik im Koma

Die Suche nach einem Ende des Krieges im Kosovo stellt auch die Frage nach der Politik der albanischen Kräfte. Je näher ein Ende der Kämpfe kommt, um so offener tritt der inneralbanische Konflikt um die Macht in der Nachkriegsordnung zutage

Die Internationalisierung des Krieges im Kosovo hat unerwartete Folgen gezeigt: Die kosovoalbanische Politszene ist völlig zusammengebrochen. Repression, die Liquidierung prominenter Intellektueller und politischer Aktivisten sowie die Massendeportation ethnischer Albaner in Nachbarländer zerstörten die Kommunikationszusammenhänge unter den Leuten und verhinderten die Weiterführung aller “parallelen” Institutionen und Organisationen der albanischen Gesellschaft im Kosovo Es zeigte sich, dass dieser kosovarische “Parallelstaat” nicht auf den Krieg vorbereitet war.
Der zehn Jahre dauernde zivile, gewaltlose Widerstand im Kosovo hatte keinerlei paramilitärischen Strukturen oder Komitees für einen Kriegsfall gebildet. Die Spaltung der ethnisch-albanischen Bewegung im Frühjahr 1998 wurde nicht überwunden. Damals trennte sich der moderate politische Flügel von den militanten Gruppen um die Kosovarische Befreiungsarmee U«K. Obwohl die Kosovo-Delegation für die Konferenzen von Rambouillet und Paris von beiden Fraktionen gebildet wurde, blieben im Kosovo selber die Einflussbereiche der Politiker und der Rebellen klar getrennt.
Als die Bombardierungen auf die Bundesrepublik Jugoslawien durch die Luftkräfte der Nato begannen, lag die kosovarische Politiszene im Koma. Die Verhandlungsteilnehmer von Rambouillet waren zum grössten Teil isoliert. Ibrahim Rugova, der gewählte Präsident und Chef des Demokratischen Bundes des Kosovo (LDK), blieb in Pristina. Andere beschlossen unterzutauchen, weitere schlossen sich der U«K an, einige schafften es, im Schutz der Kolonnen deportierter Menschen der Falle zu entkommen. Nur wenige Tage, bevor der Massenexodus begann, appellierte der Politiker Rexhep Qosja noch an die Leute, um jeden Preis im Kosovo zu bleiben. Als der Pogrom begann, war er unter den Ersten, die die mazedonische Grenze passierten, erniedrigt und mit geschorenem Kopf. Seither hat er geschwiegen. Andere führende Personen wurden entweder daran gehindert, sich zu äussern, oder sie beschlossen von sich aus zu schweigen. Rugova wurde von Milosevics Regime manipuliert.

Neue und alte Regierungen – blockiert und betäubt
Diese politische Lähmung dauerte mehr als einen Monat. Nur die U«K rief ungeduldig, und nach Meinungen vieler Beobachter auch verfrüht, eine neue Regierung im Kosovo aus. Die neue Regierung vergab zwar wohlklingende Titel, verfügte aber kaum über politische Erfahrung oder Einfluss auf ausländische Regierungen. Unterstützt wurde sie nur gerade von Albanien. Versuche, ein Übereinkommen über eine Koalition oder eine enge Zusammenarbeit mit der bereits existierenden LDK-Exilregierung unter Bujar Bukoshi zu erreichen, waren ergebnislos. Bukoshi, dessen sehr schwache Regierung die Kontrolle über bedeutende Mittel der Kosovo-Emigration hat, kritisiert die selbsternannte Regierung der U«K, die sich ohne Konsultation mit seiner eigenen Regierung und der legal gewählten Verwaltung des Kosovo gebildet hat.
Es schien, die kosovo-albanische Politszene sei blockiert oder betäubt. Vielen erscheint die Gesellschaft des Kosovo als Patient, den die Nato-Intervention vor der bösartigen serbischen Aggression retten sollte. Seine politische Stimme werde er erst wieder vernünftig erheben können, wenn die Operation vorüber sei.
Die Dinge änderten sich etwas, als Rugova mit seiner Familie am 5. Mai in Rom ankam. Vorerst war noch nicht klar, ob Belgrad ihn noch immer in der Hand hatte oder ob seine Ausreise eine signifikante Änderung in Milosevics Politik bedeutete. Zwei Tage später ermordete die serbische Polizei Fehmi Agani beim Versuch, den Kosovo zu verlassen. Agani galt als Vordenker der LDK und wichtigster Verhandlungsteilnehmer auf Seiten des Kosovo.

Aganis Ermordung – Milosevics Kalkül
Warum liess man Rugova gehen und ermordete Agani? Was waren Milosevics Absichten? Wollte er sich unter den Kosovo-AlbanerInnen denjenigen Partner suchen, der ihm am besten passten? Oder wollte er einfach Verwirrung stiften und die Albaner unter sich weiter entzweien?
Seit Beginn der diplomatisch-politischen Verhandlungen hat Milosevic immer wieder in die Zersplitterung der Kosovo-albanischen Führung investiert. Rugova war in der albanischen Bewegung umstritten, Fehmi Agani hingegen hat eine sehr wichtige Rolle bei der Annäherung und der Zusammenarbeit der Parteien gespielt. Wahrscheinlich wollte Belgrad nicht zusehen, wie Agani in den politischen Prozess zurückkehrt. Er wurde als Schlüsselfigur für die Wiedervereinigung des kosovarischen Verhandlungsteams betrachtet. Agani genoss den Ruf, ein dialogbereiter, moderater und kompromissfähiger Politiker zu sein, und galt als sehr erfahrener und geschickter Unterhändler. Er hat während dreissig Jahren mit grosser Raffinesse am Projekt der Unabhängigkeit Kosovos gearbeitet, indem er einerseits die legalen Einflussmöglichkeiten nutzte, andererseits die Menschen für diese Sache mobilisierte.

Autonomie oder Befreiungskrieg
Agani war wahrscheinlich der einzige eingefleischte Institutionalist in der politischen Szene des Kosovo. In der LDK verteidigte er die These, dass der Status des Kosovo in der früheren jugoslawischen Föderation vorteilhaft gewesen sei. Im früheren Jugoslawien verfügte der Kosovo über den Status einer föderalen Einheit mit dem Recht, gegen Entscheidungen der Bundesregierung das Veto einzulegen. Damit hatte es auch Anrecht auf die Ausrufung einer eigenständigen Republik. Agani war der Ansicht, die sogenannten parallelen Institutionen im Kosovo der 90er-Jahre seien in Wirklichkeit nichts anderes als Institutionen des früheren Systems.
Die Kritiker Aganis auch in seiner eigenen Partei zogen es vor, die Idee einer Diskontinuität der Institutionen zu vertreten. Einige von ihnen sprachen den parallelen Institutionen schlichtweg die Existenzberechtigung ab. Deshalb sollte auf Grundlage des ethnischen Selbstbestimmungsprinzips ein radikaler Schnitt gemacht und sollten neue Institutionen geschaffen werden. Später übernahmen die meisten militanten Organisationen das Prinzip des revolutionären nationalen Befreiungskrieges.
Nach der Ermordung Aganis bleiben nur zwei ernstzunehmende Kräfte auf der politischen Szene des Kosovo übrig: die U«K um Hashim ThaÁi und die LDK um Ibrahim Rugova. Während seines Hausarrestes in Pristina glich Rugova einer vom serbischen Regime gelenkten Marionette. Politisch schien er erledigt. Er schaffte es aber, sich politisch allmählich zu „erholen”. Heute vertritt er wieder dieselben Positionen wie früher. Es ist zwar nicht klar, ober er sein frühere Stellung wird zurückgewinnen können, aber er geniesst immer noch das Vertrauen eines Teils der Kosovo-AlbanerInnen. Nach Schätzungen würde er bei Wahlen heute zwischen 25 und 50 Prozent der Stimmen gewinnen. Das ist gleich viel oder sogar etwas mehr als sein Hauptgegner Hashim ThaÁi.
Doch die Hauptarbeit, über den Kosovo-Status nachzudenken, haben die Nato und die Diplomaten der Grossmächte übernommen. Der Konflikt zwischen den beiden Kosovo-albanischen Parteien kann in diesem Kontext als blosses Einnehmen strategischer Positionen im Kampf um die Kontrolle der lokalen Szene betrachtet werden. Denn ein Protektorat wird im Kosovo so oder so eingerichtet.

* Shkelzen Maliqi ist einer der führenden Intellektuellen und Publizisten des Kosovo Heute lebt Maliqi als Flüchtling in Mazedonien. Er ist Redaktor der Zeitschrift ZÎri, die von der Zürcher Medienhilfe Ex-Jugoslawien unterstützt wird. Sein Beitrag wurde geschrieben am 21. Mai 1999. Vermittelt und übersetzt wurde er von Florian Wick und Roland Brunner für die Medienhilfe Ex-Jugoslawien in Zürich.