Rote Bomber und grüne Kämpfer

Ernüchterung macht sich breit in der deutschen Friedensbewegung. Der grüne Aussenminister Joschka Fischer und der rote Verteidigungsminister Rudolf Scharping setzen auf Kontinuität und Nato-Politik. Rot-grüne Kriegspolitik für Europa?

„Deutsche Aussenpolitik ist Friedenspolitik“ – mit dieser Feststellung beginnt der aussenpolitische Teil der Koalitionsvereinbarung zwischen SPD und Bündnis 90/Die Grünen. So ist die neue Regierungsmehrheit angetreten, um eine neue Politik für Deutschland zu entwickeln.

Ein halbes Jahr ist die neue Regierung im Amt. Wenig Neues ist geschehen. „Kontinuität“, „Verlässlichkeit“, „Berechenbarkeit“ und „Bündnistreue“ sind die Begriffe, die rot-grüne deutsche Aussenpolitik prägen. Weiter wie bisher, nur schneller, scheint die Devise auf dem Weg der Bundesrepublik Deutschland zum „ganz normalen Land“, das – wie die Schweiz – seinen Sonderfallstatus endlich loswerden möchte. Und wie hierzulande bietet sich auch in Deutschland das Militär als Vorkämpfer für diese Normalität an.

Kontinuität und Krisenreaktion

Im „Koalitionsvertrag“ der neuen Regierung finden sich einige bescheidene Neuerungen: Friedensforschung soll gefördert werden, ein ziviler Friedensdienst und ein internationaler Sanktionshilfefonds sollen entstehen, von atomwaffenfreien Zonen, Rüstungskonversion sowie der Kontrolle und Begrenzung von Kleinwaffen ist die Rede. In der realen Politik hat Rot-Grün in den vergangenen Monaten aber ganz andere Akzente gesetzt: Am 16. Oktober 1998 stimmten fast alle Abgeordneten der neuen Bundesregierung für einen Kosovo-Kampfeinsatz der Bundeswehr, obwohl dieser dem Völkerrecht widerspricht. „Vom Steine- zum Bombenwerfer“ titelte entsprechend die Zeitung „graswurzelrevolution“ über Joschka Fischers realexistierende Aussenpolitik. Am 13. und 19. November gab die Regierung grünes Licht für die Teilnahme deutscher Einheiten an einer Luftoperation der Nato gegen Serbien und an der sogenannten „Extraction Force“, die inzwischen in Mazedonien stationiert wurde. Anlässlich des dritten Golfkrieges hat die deutsche Regierung bewiesen, dass sie die Luftschläge und Bombardierungen durch die USA und Grossbritannien loyal mitträgt.

Anfang dieses Jahres wurde immer klarer, dass sich Rot-Grün mit rund 800 deutschen Soldaten an einem Nato-Einsatz mit Bodentruppen in Kosovo beteiligen würde. Rot-Grün würde damit die zweifelhafte Ehre zukommen, den ersten deutschen Kriegseinsatz seit 1945 zu befehlen. Fischers Kommentar an der „Münchner Konferenz über globale Sicherheit“ von Anfang Februar: „Das Beispiel Kosovo zeigt, dass es Ausnahmebedingungen gibt, in denen militärisches Eingreifen zur Abwendung einer unmittelbar bevorstehenden humanitären Katastrophe als ultima ratio unabweisbar wird.“ Diese Ausnahmeformulierung erntete umgehend Lob vom deutschen Vorsitzenden im Militärausschuss der Nato, Klaus Dieter Naumann, und selbst Verteidigungsminister Scharping wurde mulmig. Er konstatierte, dass man vor einem Jahr jeden, der einen solchen Schritt einer rot-grünen Regierung prophezeit hätte, für einen Narren gehalten hätte…

Folgerichtig wird auch an den Rüstungsbeschaffungen nicht gerüttelt, die zur Erlangung einer weltweiten Einsatzfähigkeit dienen. Mindestens 150 Milliarden Schweizer Franken soll der Umbau der Bundeswehr zu einer Armee kosten, die im Nato-Verbund weltweit intervenieren kann und soll. Die „Verteidigungspolitischen Richtlinien“, welche als Grundlagendokument dienen, sehen die Bildung sogenannter Krisenreaktionskräfte KRK und eines Kommandos Spezialkräfte KSK vor. Auf der Einkaufsliste stehen neue Kampfhelikopter Tiger, gepanzerte Transportfahrzeuge sowie zusätzliche Kampfflugzeuge Eurofighter. SPD-Verteidigungsminister Scharping bestand seine Feuertaufe, als er den Militärhaushalt erfolgreich verteidigte und eine Bestandsgarantie von 340’000 Mann für die Bundeswehr durchsetzte. Es gelang ihm gar eine Aufstockung des Militärbudgets um vier Milliarden Mark! Auf eine rot-grüne Friedensdividende wird die Friedensbewegung wohl noch lange warten müssen.

Die grüne Parlamentarierin Angelika Beer, Mitglied im Verteidigungsausschuss des Bundestages, ist sich der Unzulänglichkeit der Koalitionsvereinbarung wohl bewusst. Unter dem Titel „Friedenspolitischer Aufbruch oder Kapitulation?“ gibt sie die Schuld allerdings allein der SPD und verweist darauf, dass das Kräfteverhältnis SPD-Grüne 6:1 sei. In einem Interview meint sie: „Wir mussten einige dicke Kröten schlucken, haben aber auch einiges durchgesetzt. Den grössten Kompromiss sind wir in Sachen Bundeswehr-Reduzierung, Abschaffung der Wehrpflicht und Abbau der Krisenreaktionskräfte eingegangen. (…) Unabhängig von Differenzen zwischen SPD und Grünen stehen wir real vor einer schwierigen Situation, da die alte Bundesregierung noch etliche Beschaffungsvorlagen kurz vor Torschluss durchgebracht hat und systematisch Mittel in Milliardenhöhe festgelegt hat. Es wäre illusorisch zu glauben, das alles könnte zurückgeholt werden.“

Eine rot-grüne Bundeswehr

„Panta rhei“, alles fliesst – so in letzter Zeit vor allem das Staats- und Politikverständnis der tonangebenden Figuren bei den deutschen Grünen. Angelika Beer verteidigt dies damit, dass grüne Konzepte nicht statisch seien, keine Glaubenssätze, sondern immer wieder neu vor dem Hintergrund von Veränderungen diskutiert werden müssten. Da hat dann eine neue Bundeswehr plötzlich Platz in der Vorstellungswelt der technokratischen Realpolitik, in der sich Bunderwehr-Modernisierer und PazifistInnen treffen. Aussenminister Fischer zumindest liegt die Schaffung einer „europäischen Verteidigungsidentität“ heute näher als die Entmilitarisierung.

Der Bonner Soziologe und Militärexperte Lutz Unterseher kritisiert die Sicht der Technokraten, „die den Zeit- mit dem Weltgeist verwechseln“, weil sie zwar eine Verkleinerung der Armee anstreben, aber die Grundsatzfrage nach Sinn und Unsinn dieser Armee nicht beantworten können: „Sie wollen eine Streitmacht, die klein, aber fein ist – nämlich hochbeweglich und von High Tech geprägt. Bereit zu beliebigen Interventionen im Rahmen der internationalen Gemeinschaft ñ gewissermassen im Sinne eines militaristischen Beitrags zur Globalisierungsdebatte.“ Als neue Legitimationsstrategien deutscher Militärpolitik listet Unterseher drei Optionen auf: weltweites Engagement, Wiederbelebung der Bündnisverteidigung und/oder die Katastrophenhilfe. Zu letzterer meint er: „Helfen ist einfach Christenpflicht, und von der Ausrüstung wie von der Ausbildung insbesondere ihrer Pioniere her ist die Bundeswehr dazu auch in der Lage. Entsprechend hat sie sich verhalten und dafür einen fetten Bonus kassiert.“

Die Chance nutzen

Eine Lehre ziehen Friedensbewegte aus der Politik von Schröder, Scharping, Fischer & Co.: Genau so wie sich die Gewerkschaften nicht auf „ihre“ Regierung verlassen können, bleibt auch Friedenspolitik ein Engagement, das nicht von einer Bewegung an eine Regierung delegiert werden kann – auch nicht an eine rot-grüne. „Für die Friedensbewegung hat sich noch nichts konkretes geändert. Das Gegenüber in den Schaltzentralen der Macht ist weiterhin sehr weit entfernt“, meint etwa Peter Betz, Geschäftsführer beim Bund für Soziale Verteidigung BSV. Uli Cremer, Sprecher des Fachbereichs Aussenpolitik beim Bündnis 90/Die Grünen, sieht gar die Gefahr, dass sich die Friedensbewegung gegen die neue Regierung stellen muss: „In den nächsten Monaten will die Nato der Uno einen weiteren Schlag versetzen, indem die Selbstmandatierung ý la Kosovo als Nato-Strategie beschlossen werden soll. Die rot-grüne Bundesregierung hat die Macht, derartiges zu verhindern. Das wäre in der heutigen Welt zumindest ein bescheidener positiver Ansatz, weil die Entwicklung zu immer mehr Machtkonzentration bei der Nato gestoppt würde. Knickt die rot-grüne Regierung an diesem Punkt ein, wäre die ernüchternde Schlussfolgerung, dass die rot-grüne Bundesregierung Gegnerin der Friedensbewegung wäre und als solche behandelt werden müsste.“

Laut Tobias Pflüger, Sprecher der Informationsstelle Militarisierung IMI, besteht aber immer noch eine Chance, die neue Regierungsmehrheit auch für eine neue Politik zu nutzen und gemeinsam friedenspolitische Ziele zu realisieren: „Noch ist die Nato-Strategie nicht unter Dach und Fach, noch ist der zweite Schritt der Neuausrichtung der Bundeswehr nicht vollzogen. Die Kommission Zukunft der Bundeswehr hat zwar eine klare Ausrichtung auf Effektivierung der Bundeswehr, aber es wird auch endlich wieder über die Bundeswehr diskutiert! Lasst uns das nutzen!“

* siehe auch den Beitrag „Friede an die Macht?“ von Lühr Henken in der letzten GSoA-Zitig.

Weitere Quellen und Informationen:

Rot-Grüne Aussenpolitik = Friedenspolitik? Stellungnahmen friedenspolitischer Initiativen und Forschungsinstitute zur neuen Bundesregierung; in: Antimilitarismus-Information ami, Januar 1999.

Angelika Beer: Von Kleinkummerfeld nach Berlin… Ein Interview. In: Antimilitarismus-Information ami, November 1998.

Lutz Unterseher: Deutsche Militärpolitik. Unauffällige Festlegungen für die Zukunft. In: Zoom 5/98.

Tobias Pflüger, Informationsstelle Militarisierung IMI: http://www.topf.notrix.de/