Strudel der Gewalt

«Jetzt ist Brazzaville dran», betitelte der Tages-Anzeiger Anfang Juni einen Artikel über Unruhen im zentralafrikanischen Staat Kongo-Brazzaville. Nun sei auch dieser Staat «in den Strudel der Gewalt geraten», lesen wir weiter. Ein nervöses Augenzwinkern blickt hinter solchen Schlagzeilen hervor: ‹Da draussen› wütet ein gewaltiger Strudel, der eine Weltgegend nach der anderen mit sinnloser Gewalt überzieht. Kongo, Zaire, Albanien, Burundi, Ruanda, Bosnien, Somalia, Haiti, nochmals Albanien …

Es ist dies ein einfacher Blick – ein stumpfer Reflex der ‹Domino-Theorie› aus dem Kalten Krieg. Damals wollte der freie Westen verhindern, dass ein Land nach dem anderen – Domino-Steinen gleich – in den Rachen des Totalitarismus falle. ‹Containment›, also Eindämmung, nannte sich die Gegenstrategie. Auch heute noch ist der Westen bedroht, droht ein Land nach dem anderen zu kippen, ist Containment angesagt.

Und doch ist alles anders. Die Bedrohung trägt täglich ein neues Gesicht, das heisst, sie hat ihr Gesicht verloren, ihre Geschichte, ihre Struktur, ihre Ordnung. Wir – einige Hundert Millionen Glückliche – leben in einer Oase der Ordnung. Gemeinsam schalten wir die Abendnachrichten ein, um zu erleben, wie sich der Rest der Welt in eine endlose Kette von Katastrophen verwandelt – in eine einzige Katastrophe, die wir nur nur noch in ‹jetzt› und ‹nicht mehr› unterteilen können.

Es ist ein ohnmächtiger Blick. Aus dieser Ohnmacht schöpfen die militärischen ‹Friedensinterventionen› ihren zynischen Zauber. Zauber? In Somalia landeten 1992 Friedenssoldaten im Scheinwerferlicht der CNN-Kamerateams – fünf Jahre später ist das Land zerrissener denn je, und Blauhelme aus Italien und Kanada werden als Folterer überführt. 1994 verliessen Uno-Blauhelme fluchtartig Ruanda und gaben damit den Startschuss zu einem der grössten Massaker der neueren Geschichte, während französische Eingreiftruppen eine ‹Schutzzone› für die Täter errichteten. Dieselben Massenmörder spielten in den letzten Monaten eine wichtige Rolle im zairischen Flüchtlingsdrama. Diesmal einigten sich die USA mit dem neuen Kriegsherrn Kabila über die – auch rüstungstechnisch bedeutsame – Verteilung der dortigen Bodenschätze und verhinderten dafür eine weitere ‹humanitäre› Intervention.

Trotz alledem scheinen die militärischen Interventionen das Containment-Bedürfnis des Nordens am besten zu erfüllen. Zum Beispiel Albanien: Der Westen erkor das autoritäre Berisha-Regime schon 1992 zum Stabilitätsanker auf dem Balkan. Zwei Jahre später trat Albanien als einer der ersten Staaten der Nato-Partnership for Peace bei. Die USA spendeten militärisches Material im Wert von 100 Millionen Dollar. Nur Wochen nachdem die Wahlen 1996 aus Albanien de facto einen Einparteienstaat gemacht hatten, führte die Nato das bisher grösste gemeinsame Manöver in Albanien überhaupt durch.

Und jetzt stehen also wieder Eingreiftruppen aus der ‹zivilisierten› Welt mitten im Chaos, und spenden uns das Gefühl von Ordnung. Wenn wir schon nicht zwischen ‹guten› und ‹schlechten› AlbanerInnen unterscheiden können, wollen wir uns wenigstens in unseren eigenen Ordnungskräften ‹dort unten› spiegeln können.

Genau das meint Verteidigungsminister Adolf Ogi, wenn er von einer Nato-Tagung frohlockend die Einsicht heimbringt, man dürfe nicht nur «Konsument des Friedens sein» – und mit einer militärischen Berufsformation mehr Präsenz «auf der Grossbaustelle der internationalen Friedenssicherung» zeigen will. Auch Ogi möchte bei den Ordentlichen mittun.

Es ist ein gewalttätiger Blick, der die Menschen ‹da draussen› nur als chaotische Mörder oder als namenlose Opfer wahrnehmen will. Dieser Blick verunmöglicht Solidarität, denn wer ist schon mit Mördern oder Leichenbergen solidarisch? Er pervertiert die Idee des Friedens, weil ‹Frieden› nur noch als von aussen aufgezwungener Waffenstillstand denkbar ist, und nicht mehr als ein Prozess des dauernden Ausgleichs. Er zerstört den Gedanken der Entwicklungshilfe. Wen und was soll man denn in dieser Katastrophe ohne Ende entwickeln? Langfristiges Handeln weicht zusehends lärmiger Symptombekämpfung, und diese wiederum kann von Gewalttätern für ihre Zwecke instrumentalisiert werden. Beim Uno-Kinderhilfswerk Unicef zum Beispiel ist der Anteil der kurzfristigen Nothilfe am Gesamtbudget von acht auf heute 25 Prozent gestiegen. Jetzt soll Unicef in eine Superabteilung für ‹humanitäre Angelegenheiten› integriert und aufgelöst werden.

Das blinde Blinzeln ins Chaos hinaus ist Ausdruck einer gigantischen, ideologischen Abwertung. Menschen und Organisationen, die sich auf die Gedanken der Solidarität, der kooperativen Entwicklung und des Friedens beziehen, sollten dem eine andere Sicht entgegensetzen.

Das können wir nur, indem wir uns gegenseitig unterstützen, indem wir voneinander lernen – wir, die ‹OasenbewohnerInnen› und die vielen Menschen, die mitten im vermeintlichen Chaos nach gewaltfreien Formen der Verständigung und des Handelns suchen. Dazu brauchen wir politische Räume über unsere nationalen Grenzen hinaus, in denen wir uns ermutigen und unterstützen können. Verschiedene Ansätze sind denkbar.

Die Diskussion um zivile Friedensdienste ist für mich eine der vielversprechendsten.