Über einen Bürgerkrieg, der keiner war

Im vergangenen Jahrhundert erlebte Nicaragua Besatzung, Diktatur, Revolution und Bürgerkrieg. Langsam versucht das Land, sich von den Traumata der Vergangenheit zu erholen. Eine Reportage.

Von Jeannette Büsser*

Als neunjähriger Bub schaute Vicente zu, wie sein Vater bei lebendigem Leib von Leuten des Somoza-Regimes verbrannt wurde. Es war der 14. April 1979, kurz vor dem Sturz der Diktatur. Überlebt hatte sein Vater die Bombenanschläge der «Guardia Nacional» und den Septemberaufstand von 1978 in seiner Heimatstadt Estelí, bei dem 5000 Menschen ermordet wurden. 80 Prozent der Bevölkerung floh darauf in die umliegenden Wälder; die kriegsfähigen Männer schlossen sich der sandinistischen Befreiungsarmee an.

Am 19. Juli 1979 übernahmen die Sandinisten die Macht. Nicaragua wurde zum Symbol einer anderen Welt, fern des kapitalistischen oder sowjetischen Vorbildes. Viele Europäer, darunter unzählige Schweizer, reisten nach Nicaragua, um eine Idee zu unterstützen, einen Traum zu verwirklichen. Einen Traum, der zum Albtraum wurde. Zehn Jahre Bürgerkrieg in Nicaragua, zehn verlorene Kinderjahre für Vicente. Wie schon sein Vater, wuchs nun auch er mit militärischen Uniformen, Entbehrungen und Gewehren auf. Mit 14 Jahren wurde er Mitglied des sandinistischen Militärs und sein Hass auf die Mörder seines Vaters war vorerst kanalisiert. «Der Bürgerkrieg war ein Missverständnis, die Regierung hat mit der Unwissenheit der einfachen Leute gespielt» meint Vicente heute und geht sehr weit zurück, um die Ereignisse zu erklären.

Von 1912 bis 1925 besetzen US-Truppen Nicaragua. General Augusto Sandino widersetzt sich der US-Armee und damit dem «Ausverkauf» seines Landes. 1933 verlassen die US-Truppen das Land, nicht ohne vorher einen ihnen genehmen Oberbefehlshaber – Anastasio Somoza Garcia – eingesetzt zu haben. Sandino ist daraufhin bereit, einen Friedensvertrag zu unterschreiben und den bewaffneten Kampf aufzugeben. Auf dem Weg ins Haus des damaligen Staatspräsidenten Sacasa wird er jedoch in einen Hinterhalt gelockt und ermordet. Drei Jahre später flieht Sacasa vor den Drohungen seines Militärchefs Somoza, der die Präsidentschaft an sich reisst. Knapp zwanzig Jahre später wird Somoza vom Dichter Rigoberto López Pérez ermordet, doch die Diktatur wird noch unerbitterlicher von seinen zwei Söhnen weiter geführt. Der Widerstand des Volkes manifestiert sich in der Frente Sandinista, die mit der Revolution von 1979 die Macht übernimmt.

Interessen der USA

Vicente

(Foto: jb)

Mit dem Machtwechsel verlieren die USA einen Verbündeten und sehen ihre wirtschaftlichen Interessen bedroht. Nicaragua eine Bedrohung für die USA? Vicente bringt diese Vorstellung noch heute zum Lachen. US-Präsident Reagan meint es 1985 jedoch ernst und ruft den nationalen Notstand aus. Zwischen 1983 und 1986 bewilligt der amerikanische Kongress insgesamt 144 Millionen Dollar zur Unterstützung der Contrarevolution. Ein Wirtschaftsembargo und die CIA sollen die US-Bevölkerung vor einem nicaraguanischen Angriff schützen. Nicaragua mit seiner sandinistischen Armee, wird dagegen von Kuba unterstützt und mit Waffen aus der Sowjetunion beliefert. Ein Freund von Vicente ist hilflos im Umgang mit seiner Kalaschnikow, es löst sich ein Schuss und so verliert Vicente mit vierzehn Jahren seinen linken Arm.

Für Vicente war es kein Bürgerkrieg. Es war ein Krieg zwischen den Ideologien der Weltmächte und «wir waren dumm und haben geschlafen». Er legt Wert darauf zu erklären, dass die Sandinisten nicht ein kommunistisches Weltbild vertreten hätten, sondern ein kommunitaristisches. Die Amerikaner hätten diese Differenzierung einfach nicht verstanden. Am 27. Juni 1986 verurteilen die Richter am internationalen Gerichtshof in Den Haag die USA wegen einer Reihe von Verletzungen der Menschenrechte und des Völkerrecht zur sofortigen Beendigung des Verbrechens und zu 17 Milliarden Dollar Reparationsleistungen. Die amerikanische Regierung kümmert es nicht. Die vom Gerichtshof verurteilte Terror-Politik kostete 60´000 Nicaraguaner und Nicaraguanerinnen das Leben.

Die soziale Situation, Bildung und Gesundheitswesen verbessern sich unter der sandinistischen Regierung. Zum ersten Mal in der Geschichte des Landes haben die Armen eine Stimme. Und doch: Die Menschen werden müde; die mangelnde Versorgung mit Gütern, die vielen Toten führen dazu, dass 1988 mit internationaler Unterstützung Friedensgespräche eingeleitet werden. Zwei Jahre später werden Wahlen durchgeführt und die Witwe eines von Somoza ermordeten Journalisten, Violeta Barrios Chamorro wird Präsidentin. Nur mit der Wahl einer für die USA akzeptablen Person kann den Angriffen aus dem Norden ein Ende gemacht werden. Chamorro verspricht, mit der sandinistischen Ära aufzuräumen. Die Revolution ist gescheitert. Die sandinistische Führung ist gescheitert.

Entwaffnung und Friedensförderung

Erklärtes Ziel der neuen Regierung ist es, die «Contra» zu entwaffnen und die nationale Armee zu verkleinern. Eine «Befriedung» unter wirtschaftlich erschwerten Bedingungen, die sich erfolgreich durchsetzt. Vicente, heute Präsident der ORD (Organización de Revolucionarios discapacidados: Organisation der behinderten Revolutionäre), nimmt an Seminaren teil, in denen er seine ehemaligen Feinde trifft und in denen sie gemeinsam ihre Geschichten aufarbeiten, «ihr Herz heilen». Es sei gelungen, meint er. Schliesslich seien sie alle einfach «verschaukelt» worden. Narben und Geschichten jedoch erinnern weiterhin an die Vergangenheit.

Vicentes Organisation kämpft um die Rechte der Kriegsbehinderten und arbeitet dazu mit anderen nationalen Behindertenorganisationen zusammen. Zurzeit sind die einzigen staatlichen Leistungen Rentenzahlungen. Für Körperbehinderte gibt es 36 Franken im Monat, für Kriegswaisen vier Franken und für Mütter, die ihre Kinder im Krieg verloren haben acht Franken monatlich. (Die Grundnahrungsmittel kosten in Nicaragua pro Person im Monat rund 150 Dollar.) Kriegsbehinderte, die nicht arbeiten können, leben meist in absoluter Armut ohne Unterstützung. Integrative Programme, wie im Gesetz vorgeschrieben, existieren nicht.

Vicente hat die Hoffnung nicht verloren. Einen PC besitzt er schon. Er möchte eine Beratungsstelle für Kriegsversehrte einrichten. Die meisten wüssten gar nichts über ihre Rechte. Auch sei es dringend, die Kinder der Kriegsbehinderten mit Stipendien zu unterstützen, damit sie die Schule besuchen können.

Wandbild in Esteli

(Foto: jb)

Die Hoffnung bleibt

Die Vergangenheit hat Spuren hinterlassen. Einige Menschen halten fest an ihrem sandinistischen Traum und reproduzieren täglich neu die alte Hoffnung. Aus einem von Touristen und Einheimischen oft besuchten Lokal in Estelí hört man revolutionäre Lieder, die Wände sind mit schwarzweissen Fotos von Helden der Revolution geschmückt. Flaggen verschiedener europäischer Länder – das schweizerische Rot leuchtet kräftig – die gemeinsam mit dem unterdrückten nicaraguanischen Volk eine Vision hatten, zeugen von der internationalen Unterstützung. Auch die verehrten Dichter sprechen in den selten gelesenen Büchern von der Vergangenheit. Viele Mauern sind nun farbig, doch die Einschusslöcher bleiben. Eine Bombe hat ihren Platz noch dort, wo sie heruntergefallen ist. Im ländlichen Norden wird mit Hinweistafeln vor Spaziergängen gewarnt, es sind noch nicht alle Minen entfernt.

Die Amerikaner werden noch immer Gringos genannt. Die USA wurden, um sich zu versöhnen, erneut zum gemeinsamen Feind. Und doch: Heute ist die USA eine der wenigen Hoffnungen auf ein anständiges Leben. Viele nehmen einen gefährlichen und beschwerlichen Weg auf sich, um illegal in das Land einzureisen, das so sehr ihr Schicksal, das ihrer Väter und Grossväter bestimmt hat. Wer kann, spickt seine Unterhaltung mit englischen Floskeln, sagt «brother» statt «hermano».

Soziale Probleme wie Armut, sexuelle und intra-familiäre Gewalt, Bandentum, Analphabetismus werden immer auch mit der kriegerischen Vergangenheit und der unverarbeiteten Trauer begründet. Die Menschen in Nicaragua, aufgewachsen in einer Diktatur, danach in einem so genannten Bürgerkrieg und schlussendlich unter einer neoliberalen Regierung, können nur gewinnen. Vertrauen vor allem. In sich und die eigene kulturelle Identität, in die Gemeinschaft und die Demokratie. Aber irgendwie scheint es noch nicht der Zeitpunkt zu sein. Die Fremdeinflüsse blieben bestehen, nennen sich heute Entwicklungshilfe, Globalisierung und Freihandelsverträge. Korruption und Vetternwirtschaft treiben ungehindert ihre Blüten. Doch vergessen wir nicht: Die Nicaraguanerinnen und Nicaraguaner haben die Welt schon einmal überrascht.


* Jeanette Büsser arbeitet in Estelí beim Programm «Erziehung zu Frieden und Gewaltfreiheit im Nachkriegs-Nicaragua» der dänischen NGO Ibis sowie bei weiteren Programmen der Entwicklungszusammenarbeit in Nicaragua. Mehr dazu unter www.pronica.ch

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