Ungewisse Zukunft

Das Schweizerische Arbeiterhilfswerk SAH leistet seit Kriegsbeginn humanitäre Hilfe im Irak. Rolf Stocker, Leiter der humanitären Hilfe SAH, bereiste vom 19. bis am 28. August das irakische Kurdistan. Er hat das SAH-Nothilfeprojekt in Sulaymaniyah zu Gunsten von Flüchtlingen besucht.

Stefan Gisler, SAH-Delegierter, begleitete die Hilfslieferung in die Provinzstadt an der syrisch-irakische Grenze.
Von Rolf Stocker und Stefan Gisler

Der Anschlag auf das UN-Hauptquartier am 19. August überschattete unsere Projektbesuche und die Bestrebungen des SAH, aktiv am Wiederaufbau und in der Friedensförderung in Irak mitzuwirken. Die UNO hat sämtliche internationale Mitarbeiter aus Irak abgezogen. Die Ermordung eines Delegierten zwang das IKRK, ihr internationales Personal um mehr als die Hälfte zu reduzieren. Internationale Hilfswerke folgten dem Beispiel. Es entstand ein wahrer Exodus von humanitären HelferInnen aus dem Irak. Es ist ein Dilemma: Je stärker sich die Interventionstruppen selbst schützen, desto eher werden zivile humanitäre Organisationen als «weiche Ziele» bewusst attackiert. Zivile nun militärisch verstärkt zu schützen, würde sie aber zu sehr als Einheit mit den Besatzer erscheinen lassen, was die humanitäre Arbeit korrumpiert. Die meisten humanitäre Aktivitäten können nur dank dem Engagement irakischer Mitarbeitender weitergeführt werden.

Die schlechte Sicherheitslage für die irakische Bevölkerung und für die humanitären HelferInnen ist das grösste Problem, mit dem sich der Irak und damit die USA als Besetzungsmacht auseinandersetzen muss. Dabei handelt es sich nicht nur um politisch motivierte Anschläge gegen Personen aus dem Westen oder gegen Irakis, die mit den US-Amerikanern zusammenarbeiten. Die «normale» Kriminalität hat sich massiv erhöht und die Gewaltbereitschaft ist stark angestiegen; gerade im Zusammenhang mit Plünderungen.

Die humanitäre Situation ist äusserst komplex und weist grosse regionale Unterschiede auf. Das totalitäre Regime Saddam Husseins, der Irak-Iran-Krieg sowie das 1991 nach dem Golfkrieg auferlegte UN-Embargo haben in grossen Teilen des Irak zu einer desolaten wirtschaftlichen und humanitären Lage geführt. Die Menschen verarmten, die Infrastrukturen waren am Boden. Im gesamten Irak funktioniert zur Zeit nur 20 Prozent der Wasserversorgung, bzw. der Abwassersysteme. Im zentralen und südlichen Teil Iraks ist seit der Besatzung die Stromversorgung an vielen Orten unterbrochen. Denn Plünderer reissen immer wieder Hochspannungsleitungen nieder, um das darin enthaltene Kupfer zu verkaufen. Die Wasser- und Stromproblematik war absehbar, da viele Anlagen im Iran-Irak Krieg und im Golfkrieg zerstört wurden. Das Embargo führte dazu, dass der Irak das marode System nicht zu reparieren vermochte.

Die jetzige Invasion hat weniger direkte Opfer als befürchtet gefordert. Doch die indirekten Folgen sind gravierend. Sie hat im Zentral- und Südirak die zivile Verwaltung zusammenbrechen lassen. So auch im 200’000 Einwohner zählenden Al Qaim an der syrisch-irakischen Grenze, wo das SAH als einziges Hilfswerk überhaupt tätig ist. Es gibt es keinen Stadtrat, kaum Polizei, die Lehrer geben keinen Unterricht mehr, der Zoll arbeitet erst seit Ende August wieder. Anders als früher kommen aus Bagdad nun weder Befehle noch Nachschub mit Gütern. Die Menschen überleben dank Landwirtschaft und Schmuggel. Sie sind verunsichert und wissen nicht, an wen sich wenden. Zukunfsprognosen wagt keiner. Die vor Ort stationierten US-Amerikaner sind zwar guten Willens, haben aber kein Konzept, kein Geld und als Besatzer keine Glaubwürdigkeit, um die grössten Probleme der Stadt langfristig zu beheben. Die Menschen leiden unter der schlechten Wasser-, Strom- und Gesundheitsversorgung. Immerhin: Ärzte und Pflegepersonal der Spitäler Al Qaims haben nie aufgehört zu arbeiten. Geplündert wurden «nur» der Zoll, die Polizei, Post und Militäranlagen.

Einigermassen gut funktioniert das irakische Kurdistan. Es wird seit 1991 von den Kurden selbständig verwaltet. Die Lebensumstände in den Städten dieses Territoriums sind so gut wie nie zuvor. Der wirtschaftliche Aufschwung ist unübersehbar; das UNO-Programm «Öl für Lebensmittel» hatte positive Auswirkungen. Ausserdem betreiben die Kurden einen regen Handel mit der Türkei. Über diese Grenze wurde während des UN-Embargos die meisten Güter in den Irak eingeführt. Wichtig war, dass die Kurden in den letzten zwölf Jahren Erfahrungen in den Bereichen Selbstverwaltung, Stärkung der Zivilgesellschaft, Demokratisierung und Achtung der Menschenrechte sammelten. Diese können nun im Aufbau eines neuen Iraks sinnvoll angewendt werden.

Die Situation im ländlichen Nordiraks ist deutlich schlechter. Die negativen Auswirkungen der diversen Militäraktionen der letzten Jahre sind drastisch. Minenfelder sind allgegenwärtig und eine permanente Gefahr. Minen wurden hauptsächlich während dem Irak-Iran-Krieg, aber auch später gelegt. Zehn verschiedene politische oder militärische Gruppen platzierten Minen. Diese Minen verstümmeln oder töten ZivilistInnen: Menschen, die auf dem Feld arbeiten oder Kinder, die spielen.

Die Herausforderung, die an Organisationen und Politiker, welche am Wiederaufbau eines demokratischen Iraks mitarbeiten wollen, gestellt wird, scheint unlösbar. Hinderlich sind …

  • der Verteilungsstreit um die immensen Ölvorkommen
  • die grosse Menge an vorhandenen Waffen
  • unterschiedliche ethnische, religiöse und soziale Gruppen mit ihren Machtansprüchen
  • der Mangel an Erfahrung der Irakis im Umgang mit demokratischen Instrumenten
  • die Naivität gewisser Mitglieder der provisorischen US-amerikanischen Zivilverwaltung
  • die weltpolitische und regionale strategische Bedeutung des Iraks

Ein friedliches und demokratisches Irak wird nur unter grössten Anstrengungen zu schaffen sein.

(Mehr Infos: www.sah.ch)


, ,