Vor den Waffen nicht die Waffen strecken

Sie ging mitten in einem Krieg nach Somalia und gründete ein Quartierspital: «Wir sind kein Hilfswerk, sondern eine Genossenschaft», sagt Vre Karrer selbstbewusst. Zu ihrem Projekt befragten sie Stefan Luzi und Renate Schoch.

Vre, du kamst wenige Wochen nach dem Beginn der Uno-Mission nach Somalia. Was waren deine Eindrücke?
Lasst mich dazu ein Erlebnis erzählen: In einem Dorf in der Nähe von Merka war damals die Cholera ausgebrochen. 31 Menschen starben in einer Nacht. Ich hatte einen Kommandanten der Blauhelme kennengelernt, und ich forderte ihn auf, mit seiner Gruppe mitzukommen. Zuerst fanden sie es lächerlich, aber ich sagte ihnen, ihr könnt jetzt nicht da rumstehen und warten, ich kann das nicht allein machen. Der Kommandant stellte mir Medikamente zur Verfügung und ich fuhr mit sieben Leuten seiner Einheit zu diesem Dorf. Zuerst mussten wir die Kranken waschen, die Räume von den Exkrementen reinigen und Infusionen verabreichen. Jeder hat gemacht, was ich ihm zeigte. Wir arbeiteten vom Morgen bis in die Nacht hinein, ohne Pause.
In der Nacht fuhren wir nach Merka zurück, und der Kommandant sagte, das sei der beste Tag seines Einsatzes gewesen, das vergesse er nie. Er meinte, die Uno müsse sich eigentlich auf diese Art engagieren, sie hingegen würden angewiesen, mit dem Gewehr herumzustolzieren und die Leute einzuschüchtern. So habe ich das auch wahrgenommen: Das Volk hatte Angst vor den Uno-Soldaten.

Wie hätten die Streitigkeiten der Clans anders gelöst werden können? Greifen unsere «europäischen» Rezepte wie Aufbau einer Demokratie überhaupt?
In Somalia müsste zuerst etwas gegen die Armut getan und eine bescheidenen Infrastruktur aufgebaut werden. In der landwirtschaftlichen Genossenschaft haben wir beispielsweise ein Bewässerungssystem gebaut, mit ganz einfachen Mitteln. Das hat sehr viel gebracht, denn das Land ist fruchtbar. Aber den Nomaden kannst du nicht mit Demokratie kommen. Da gibt es einen Mann, der die ganze Grossfamilie leitet. Es gab natürlich auch schon früher Interessenkonflikte, bei denen Leute getötet wurden, aber niemals so wie heute mit dieser Verbreitung von sogenannten Kleinwaffen. Mit einem Maschinengewehr bringst du viel leichter jemanden um.

Bist du auch mit dieser Art Gewalt konfrontiert?
Es kommt ab und zu vor. Einmal verbarrikadierten sich vier Banditen im Ambulatorium und drohten, alles in die Luft zu sprengen, wenn sie keine Arbeit bekämen. Ich ging also zu ihnen, unter der Tür bekam ich zuerst einen Gewehrlauf an den Kopf. Ich hatte einen Übersetzer dabei und sagte, ich wolle mit ihnen reden. Ich verhandle nicht, solange du eine Knarre in der Hand hast. Wir wurden hereingelassen, ich setzte mich in eine Ecke und schaute die Banditen einfach an. Ich fühlte mich zwar hilflos, aber auch sie wurden langsam unruhig. Schliesslich sagte einer: Du bist doch gekommen, um zu verhandeln. Da antwortete ich: Ich verhandle nicht, solange du eine Knarre in der Hand hast. Sie stellten die Gewehre beiseite und ich fragte: Wann habt ihr zum letzten Mal etwas gegessen? Denn sie waren seit vier Tagen in diesem Raum und hatten nichts mehr zu essen. Darauf vereinbarten wir ein Gespräch mit zwei Respektspersonen aus Merka. Das Resultat dieser Verhandlung war, dass die Genossenschaft die vier als unbewaffnete Wächter anstellte. Drei davon sind geblieben und selbst Genossenschafter geworden.
Später wurden wir noch einmal überfallen, und wir machten dasselbe. Die ehemaligen Banditen sind jetzt unsere Wächter, und sie versehen ihren Dienst unbewaffnet. Wir wissen, dass es unsere Genossenschaft nicht mehr gäbe, wenn wir Waffen hätten. Der Begriff der sozialen Verteidigung, den ich durch die GSoA kennengelernt habe, wurde in Somalia direkt umsetzbar. Oft hat einer, der zu Gewalt greift, einfach Hunger. Soziale Verteidigung bedeutet für mich, denjenigen, der mit dem Gewehr vor mir steht, zu fragen, wann er zum letzten Mal etwas gegessen hat.
Es gibt jedoch Konflikte, die nicht gelöst werden können, das musste ich auch lernen. Aber man kann eine Situation schaffen, in der beide Parteien leben können.

Wie reagieren die internationalen Hilfswerke auf das Problem mit den Überfällen?
Sie heuern bewaffnete Sicherheitsleute an. Die MitarbeiterInnen der internationalen Hilfswerke werden in Somalia für drei Monate eingesetzt. Sie wohnen in separaten Häusern, verbringen die Freizeit ausschliesslich untereinander. Kontinuität ist in der Friedensarbeit jedoch sehr wichtig, man muss eine Beziehung aufbauen können, miteinander essen, miteinander leben, das ist ein wichtiger Faktor. Ich habe von Anfang an mit den GenossenschafterInnen zusammengelebt, was mir einen gewissen Schutz gibt. Ich wollte mich nie dieser Angst vor den Waffen unterwerfen, denn ich weiss: Es steht ein Mensch hinter den Waffen, und ich muss diesen Menschen ansprechen.

Die Genossenschaften, die ihr gegründet habt, beruhen auf dem gleichen Recht für alle. Funktioniert das nur im Kleinen?
Es war ein langer Weg. Ich weigerte mich beispielsweise, allein über das Geld zu verfügen. Die Genossenschaft hat ein Budget, das auch für mich gilt. Ich bin sozusagen Gastarbeiterin dort. Die Idee der Genossenschaft muss sich selber weiterverbreiten. Wir EuropäerInnen können sie den SomalierInnen nicht aufpropfen. Wir sollten partnerschaftlich zu ihnen stehen und helfen, gerechtere Verhältnisse zu schaffen, aber unsere Idee der Demokratie kann man den SomalierInnen nicht einpflanzen. Sie haben ihre eigenen Gesetzmässigkeiten in ihrer Kultur. Ich darf mich als Hebamme auch nicht einfach über die Sitten der Frauen stellen.

Wie geht es in Merka und mit eurer Genossenschaft weiter?
Leider gibt es auch jetzt noch keinen stabi- len Frieden im Land. Kürzlich kamen jedoch über 50 Regierungsvertreter und besichtigten unsere Genossenschaft, sie interessierten sich auch sehr für die Berufsmittelschule und die Waisenschule, in der wir 130 Kinder betreuen.
Auch die technische Weiterbildung der Genossenschafter, die im Büro arbeiten, ist wichtig. Vier davon besuchen einen Computerkurs. Allerdings bin ich im Zwiespalt, denn Friedensarbeit in Somalia heisst für mich auch Arbeitsplätze schaffen. Momentan beschäftigt das Ambulatorium zwei Sekretäre, aber mit einem Computer müssten wir dann vielleicht nur noch einen haben. Diese Entwicklung kann und will ich jedoch nicht stoppen. Die GenossenschafterInnen sind stolz auf ihre Kenntnisse und wollen sich persönlich weiterentwickeln. Es gehört für mich zur Menschenwürde, dass sie sich so entwickeln, wie sie wollen. Es wäre verdeckter Rassismus, wenn man sagen würde, Weiterbildung sei in Somalia nicht nötig. Wir laufen oft Gefahr, unsere Wünsche nach einer heilen Welt des einfachen Lebens auf eine Gesellschaft wie die in Somalia zu projizieren.

 

Als Verena (genannt Vre) Karrer, Jahrgang 1932, Hebamme, Krankenschwester und Dozentin für Krankenpflege, im Januar 1992 erstmals ihren Fuss auf somalischen Boden setzte, gab es in diesem Gebiet ausserhalb von Merka keine medizinische Versorgung. Damals herrschte in der 100 Kilometer südlich von Mogadischu gelegenen Stadt Bürgerkrieg – wie im übrigen Somalia auch. Vre gründete zusammen mit Einwohnern Merkas die Krankenstation «Neue Wege», benannt nach der schweizerischen Geberorganisation. Neben dem Ambulatorium umfasst die Genossenschaft inzwischen eine Landwirtschaftskooperative, eine Schule für Krankenpflege und eine Primarschule für Kriegswaisen. Neu hinzugekommen ist zudem eine Berufsmittelschule. In der gesamten Genossenschaft arbeiten heute über 100 Menschen aus verschiedenen Clans zusammen – ein kleines Wunder im Land der verfeindeten Sippen. (Quelle: Nominationsschreiben Prix Courage, Beobachter)
Spenden werden sehr gerne entgegengenommen: Hilfe für Somalia, PC 80-53042-7.
Rundbriefe von Vre werden regelmässig in der Zeitschrift «Neue Wege» publiziert. Die Zeitung kann unter 032’342 48 03 (S.Trummer) bestellt werden.

Medienwirksam inszeniert landeten Ende 1992 Uno-Truppen in Somalia – mit dem Ziel, den Bürgerkrieg der Warlords einzudämmen, der nach der Vertreibung des Diktators Siad Barre unter den Kriegsfürsten ausgebrochen war und der das Land in eine Hungersnot stürzte. Die Intervention hätte das Musterbeispiel einer ersten «robusten» friedenserzwingenden Blauhelmintervention auf der Basis von Kapitel VII der Uno-Charta werden sollen. Als Leichname getöteter US-Soldaten vor laufenden Kameras durch die Strassen geschleift wurden, zog sich Amerika Hals über Kopf zurück, die Mission wurde einige Monate später abgebrochen. Noch Monate später erschütterten Berichte von Übergriffen der UN-Soldaten die Weltöffentlichkeit.
Aus der nationalen Konferenz für Frieden und Versöhnung, der Friedenskonferenz von Arta, ging letztes Jahr ein 245-köpfiges Übergangsparlament für Somalia hervor. Im März dieses Jahres schlossen sich die wichtigsten Warlords mit Unterstützung Äthiopiens zu einer gemeinsamen Front gegen die Interimsregierung zusammen. Die unstabile politische Situation und Raubüberfälle, Einschüchterungen durch Clanmilizen gehören daher – genau wie auch eine desolate wirtschaftliche Situation und eine galoppierende Inflation – weiterhin zur Realität für die Bewohner Somalias.

 

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