Wehrpflicht, lange Männerhaare und Frauenstimmrecht

Warum waren die Männer erst bereit, den Frauen das Stimmrecht zuzugestehen, als sie selber begannen, lange Haare zu tragen?

Die allgemeine Wehrpflicht ist eine erfundene Tradition wie beispielsweise die Heimabgabe der Ordonnanzwaffe samt Munition. Erst seit ungefähr 1900 leisten mehr als die Hälfte der Männer Militärdienst. Umso grösser war die symbolische Bedeutung der Wehrpflicht, die weit über das Militärische hinausging.

«Wehrlos» gleich «ehrlos»

Dazu ein Staatsrechtler aus dem Jahre 1932: «Politische Rechte und Wehrfähigkeit gehörten schon in der altgermanischen Demokratie so wie auch in der schweizerischen von jeher eng zusammen. Mit dem Jahre, in welchem der junge Landmann wehrpflichtig wurde, erhielt er auch das Stimmrecht an der Landsgemeinde. Der allgemeinen Wehrpflicht entsprach ebenso ein allgemeines Wehrrecht. Und zwar galt dieses als ein Ehrenrecht. Wie ‚ehr- und wehrhaft‘ ein Begriff war, so auch ‚ehr- und wehrlos‘. Das Sinnbild für die bürgerliche Ehre, für den Besitz aller politischen Rechte, und die Wehrhaftigkeit zugleich war das Seitengewehr, der Degen.»

In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts wurde die Verbindung von Wehrhaftigkeit, Männlichkeit und Bürgerrecht zusätzlich zugespitzt. Der Generalstabsoberst Gustav Däniker meinte 1938: «Soldatentum ist höchst potenzierte Männlichkeit. Die Erziehung zum Soldaten ist Erziehung zum Manne.»

Kollektiver Staatskrüppel

Noch 1957 hielt der Bundesrat gegen das Frauenstimmrecht folgendes fest: «Das Stimmrecht wird als das Korrelat der Wehrpflicht aufgefasst. Das entspricht denn auch einer alt überlieferten Anschauung, die schon in der alten Landsgemeinde zum Ausdruck kam. An ihr konnte nämlich nur der waffenfähige Bürger mitreden. Da als waffenfähig der Mann allein galt, konnte nur er als stimm- und wahlberechtigt angesehen werden. Wie sehr dieser Gedanke bei uns noch heute lebendig ist, zeigt die Tatsache, dass in beiden Appenzell nur Bürger mit dem Schwert zum Landsgemeindering zugelassen waren.»

Männer, die keinen Wehrdienst leisteten, galten als ehrlose «Staatskrüppel». Frauen waren deshalb eine Art kollektiver Staatskrüppel, dem mindestens die Ehre der Staatsbürgerschaft nicht zustand. Dieser Zusammenhang zwischen Militärpflicht und Stimmrecht war den ersten Frauenrechtlerinnen sehr klar. Deshalb suchten sie nach Möglichkeiten, sich für die Armee nützlich zu machen. Genützt hat es ihnen nichts – weder im Ersten noch im Zweiten Weltkrieg. Erst als sich ab den späten 1960er-Jahren eine wachsende Zahl von Männern nicht mehr für die Armee nützlich machen wollte, war die Zeit reif für das Frauenstimmrecht.

Glaubenskrieg gegen lange Haare

Und hier gibt es einen spannenden Sachverhalt: In keiner Armee des Westens war die Frage der Haarlänge eine derart dramatische wie in der Schweizer Armee der 1970er Jahre. Für diesen Glaubenskrieg gibt es nur eine Erklärung: Lange Männerhaare symbolisierten den Abschied der Männer von soldatischen Werten, die in keinem anderen Land derart stark mit männlichen Werten konnotiert waren. Deshalb meine Doppel-These: Die Schweizer Männer wurden reif für das Frauenstimmrecht, als sie begannen, lange Haare zu tragen. Und dieser Reifeprozess in Sachen Gleichberechtigung verlief parallel zur Trennung der staatsbürgerlichen Rechte von der Wehrplicht. Mit der Einführung des Frauenstimmrechts verschwand auch der Begriff des «Staatskrüppels» aus der Alltagssprache.

Jetzt kann man sagen, das sei Geschichte. Zu dieser Geschichte gehört aber, dass die Wehrpflicht seit den 70er Jahren in einer Krise steckt. Es ist kein Zufall, zeigt keine Frage derart deutlich, dass die Wehrpflicht am Ende ist, wie die folgende: Warum sollen die Männer, aber nicht die Frauen zum Militärdienst verpflichtet werden? Dass eine Ausweitung der Wehrpflicht auf Frauen völlig undenkbar ist – für die härtesten Verteidiger der Wehrpflicht erst recht – zeigt, dass die vorher erzählte Geschichte nicht einfach vergangen ist. Wenn sich aber die Wehrpflicht nicht auf die Frauen ausdehnen lässt, wird es immer schwieriger, sie für die Männer zu rechtfertigen.