Wehrpflicht ohne Zukunft – auch in Deutschland

Die aktuelle Debatte um die Abschaffung oder Umwandlung der allgemeinen Wehrpflicht in der Schweiz erinnert in zahlreichen Elementen – zum Beispiel der Forderung nach einem «sozialen Pflichtjahr&raquo, – an die Diskussion über die Wehrpflicht in Deutschland.

Peter Tobiassen und Stefan Philipp* nehmen dazu aus Sicht der deutschen Friedensbewegung Stellung.

Nicht mehr «ob», sondern nur noch «wann» die Wehrpflicht fällt, ist in Deutschland die Frage. Verteidigungsminister Peter Struck hat bei der Vorstellung seiner Reformpläne für die Bundeswehr im Januar 2004 zwar noch einmal ein klares Bekenntnis zur Wehrpflicht abgelegt. Aber: Die derzeit noch knapp 70’000 Wehrpflichtigen in seiner «neuen» Bundeswehr werden aus den normalen Truppenteilen ausgegliedert und zu besondern Ausbildungseinheiten zusammengefasst. Militärisch spielen sie damit überhaupt keine Rolle mehr, sie kosten nur noch. Weil aber sogar für Militär und Kriegszwecke das Geld nicht einfach nur beliebig gedruckt werden kann, hat Struck sein Bekenntnis zur Wehrpflicht mit der Aussage verbunden, er habe keine Probleme damit, auch ohne sie auszukommen. Deshalb ist die offizielle Bundeswehrplanung so angelegt, dass spätestens zum Ende des Jahrzehnts auf die Wehrpflicht verzichtet werden kann. Spätestens.

Denn zusammen mit Struck am Kabinettstisch sitzt mit Renate Schmidt eine ausgewiesene Wehrpflichtgegnerin, die als Jugendministerin zudem für den anderen – und grösseren – Teil der Wehrpflichtigen zuständig ist, für die Zivildienstleistenden. Als sie Anfang des Jahres den Bericht «Perspektiven für Freiwilligendienste und Zivildienst in Deutschland» präsentierte, den die von ihr eingesetzte Kommission «Impulse für die Zivilgesellschaft» erarbeitet hat, wurde klar: Die Wohlfahrtsverbände, grösster «Arbeitgeber» und auch Nutzniesser des Zivildienstes, rechnen für 2008 mit dem Wehrpflicht-Ende. Jedenfalls haben sie dieses Jahr genannt, bis zu dem aus ihrer Sicht eine reibungslose Umstellung der Arbeitsstrukturen möglich sei.

Die kühle Art, mit der Struck faktisch ohne Wehrpflicht plant, und die aufgeregte öffentliche Diskussion in Deutschland über den ohne Zivildienst scheinbar zusammenbrechenden Sozialstaat mit Forderungen nach einem «sozialen Pflichtjahr» oder dem Ruf nach Dienstverpflichtungen von Arbeitslosen in Pflegeheimen, machen deutlich: Ohne die Gewöhnung an das «Heer» hunderttausender, vermeintlich billiger Zivis wäre die Abschaffung der Wehrpflicht vermutlich längst erfolgt. Immerhin stellt der Zivildienst mit 93’000 Arbeitskräften bei den Dienstleistern im Sozialbereich eine scheinbar erhebliche Mitarbeitergruppe. Wenn man allerdings weiss, dass allein bei den Verbänden der freien Wohlfahrtspflege 1,2 Millionen Menschen arbeiten, dann schrumpft die Bedeutung der Zivildienstleistenden – sie machen nämlich nur rund fünf Prozent aller Mitarbeiter in sozialen Einrichtungen aus, die entweder staatlich oder von freien Trägern organisiert werden. Ausserdem ist ihre Zahl seit 1999 bereits um ca. 60’000 zurückgegangen, ohne dass der soziale Bereich zusammengebrochen wäre. Da wurde anscheinend erfolgreich Konversion betrieben.

Das Märchen von den billigen Arbeitskräften

Die Konversion konnte gelingen, weil die Annahme, Zivis seien «billige Arbeitskräfte», eine Mär ist. Ein besetzter Zivildienstplatz kostet im Jahr rund 15’000 Euro. Davon tragen der Bund gut 8’000 Euro und die Einsatzstellen knapp 7’000 Euro. Seit langem herrscht Einigkeit darüber, dass bei einem Ersatz der Zivildienstleistenden durch reguläre Dauerarbeitskräfte ein Verhältnis von drei zu zwei angenommen werden muss; drei Zivildienstleistende sind durch zwei Dauerarbeitskräfte zu ersetzen. Dieses Verhältnis ist möglich, weil durch die alle zehn, voraussichtlich ab Oktober alle neun Monate wechselnden Zivis erhebliche Arbeitszeit für Einarbeitung, Lehrgänge und fachliche Anleitung verloren geht, die bei Dauerarbeitskräften nur einmalig anfällt. 90’000 Zivildienstleistende könnten also durch 60’000 Dauerarbeitskräfte ersetzt werden. Auf Zivildienstplätzen arbeiten junge Männer ohne einschlägige berufliche Vorbildung und in der Regel ohne Arbeitserfahrung. Die Tätigkeiten sind so strukturiert, dass sie innerhalb weniger Wochen erlernt werden können. Die bei einem Wegfall des Zivildienstes neu zu schaffenden Arbeitsplätze sind somit in besonderem Masse geeignet für Menschen mit fehlender oder geringer Berufsqualifizierung, also für Menschen, für die auf dem derzeitigen Arbeitsmarkt kaum Arbeitsplätze angeboten werden.

Während für drei Zivis 45’000 Euro im Jahr ausgegeben werden, belaufen sich die Arbeitgeberlohnkosten für eine junge Hilfskraft auf deutlich unter 25’000 Euro pro Jahr. Zivildienstleistende können also durch reguläre Arbeitskräfte ersetzt werden, ohne dass Mehrkosten entstehen. Im Gegenteil: volkswirtschaftlich betrachtet werden Arbeitslosengeld und Sozialleistungen für 60’000 dann nicht mehr arbeitslose Menschen eingespart.

Allerdings wird in der Fachdiskussion nicht davon ausgegangen, dass sämtliche Zivildienstplätze durch reguläre Dauerarbeitskräfte ersetzt werden. Angenommen wird, dass sich in der Praxis ein «Mix» ergibt aus Vollzeitarbeitsplätzen, Teilzeitarbeitsplätzen und Mini-Jobs, Freiwilligendiensten und ehrenamtlichen Tätigkeiten.

Der Ruf nach dem Pflichtjahr: blanker Populismus

Wer sich dieser Diskussion entziehen will, der ruft populistisch – wie es in den letzten Monaten einige Ministerpräsidenten und Landesminister getan haben – nach dem «sozialen Pflichtjahr». Im Blick auf die bestehenden Probleme wird damit nur scheinbar eine Lösung präsentiert. Abgesehen von dem eindeutigen Verbot im Grundgesetz und vielen internationalen Vereinbarungen, die die Bundesrepublik zunächst kündigen müsste, gäbe es ganz praktische und unüberwindbare Schwierigkeiten. Rund 800’000 Männer und Frauen hat ein durchschnittlicher Geburtsjahrgang. Ca. 100’000 dürften – aus welchen Gründen auch immer – für eine Dienstpflicht nicht in Frage kommen. Jeweils 100’000 könnten die Bundeswehr und der bisherige Zivildienst aufnehmen, da es im Falle der Einführung einer allgemeinen Dienstpflicht wohl bei der faktischen Beibehaltung der Wehr- und Zivildienstpflicht bleiben würde. Wer ein «soziales Pflichtjahr» fordert, muss also ein Organisationsmodell entwickeln, das pro Jahr 500’000 junge Erwachsene zusätzlich zum bestehenden Wehr und Zivildienst für einen Zeitraum von rund einem Jahr unterbringt…

Bedacht werden müsste auch die finanzielle Seite eines «sozialen Pflichtjahres». Bereits der Blick auf den Zivildienst hat gezeigt, was dies auf staatlicher und der Seite der Träger kostet. Weitere 500’000 Dienstverpflichtete sind mit zusätzlichen ca. 7,5 Milliarden Euro zu veranschlagen, insgesamt mit den 100’000 Zivis also rund 9 Milliarden Euro. Zusammenfassend ist zu sagen: Naturalleistungen zwangsweise einzufordern wäre ein Rückfall in die Zeiten mittelalterlicher Frondienste. Der einzige Staat weltweit, der ein «soziales Pflichtjahr» praktiziert, ist das diktatorische Burma.

Abschaffung als erster Schritt

Für PazifistInnen und Kriegsdienstverweigerer und ihre Organisationen stellt sich die Frage, wie sie mit der Diskussion um die Wehrpflicht umgehen sollen. Dabei gilt es festzustellen, dass der Kriegseinsatz der Bundeswehr zur in den neunziger Jahren «Normalität» geworden ist – faktisch als Berufsarmee ohne den Rückgriff auf Wehrpflichtige. Die Kriegsdienstverweigerung, die ebenfalls zum «Normalfall» geworden ist, ist heute für die jungen Männer kaum mehr Anlass, sich über ihre Haltung zu Militär und Krieg auseinanderzusetzen. Die Frage nach dem Sinn einer Armee und den Gefahren der neuen Orientierung lassen sich mit einer Beibehaltung der Wehrpflicht daher nicht einfacher thematisieren.

PazifistInnen sollten sich freuen, wenn die Wehrpflicht abgeschafft wird – und die Diskussion mit ihren Beiträgen befördern. Es gibt für sie keinen Grund, an dem Zwangsinstrument festzuhalten, auch nicht den, dass die wahrscheinliche Folge der Abschaffung eine Freiwilligenarmee ist. Diese lehnen sie ab wie grundsätzlich jedes Militär als Kriegsführungsinstrument; aber dessen Abschaffung muss schrittweise als eigenständige politische Aufgabe durchgesetzt werden, die nichts mit der Wehrpflichtfrage zu tun hat.

Aktuelle Diskussion

(sl) Bewegung in die Wehrpflichtfrage bringen könnte in Deutschland ein Urteil, welches das Bundesverwaltungsgericht im Januar 2005 gefällt hat. Das Gericht hat die Klage eines 22-jährigen Studenten, der aufgrund der derzeitigen Einberufungspraxis die Wehrgerechtigkeit als verletzt ansah, zwar abgelehnt, den Gesetzgeber aber zum Handeln aufgefordert: Vermindere sich die Zahl der Einberufenen weiter, so sei die Wehrgerechtigkeit tatsächlich in Gefahr. Tatsächlich leisten heute in Deutschland nur noch 13 Prozent jedes Jahrganges den Militärdienst.

Zwei fragwürdige Beschlüsse des Bundestages erregten im Februar 2005 ebenfalls Aufmerksamkeit: Gemäss ihnen können im «Spannungs- und Verteidigungsfall» Reservisten künftig generell bis zum Ende des 60. Lebensjahres einberufen werden. Als «Spannungsfall» gilt dabei auch der «Bündnisfall»: eine Bedrohung der «Bündnispartner» NATO oder EU. Zudem kann die Bundesregierung in Zukunft schneller und einfacher Truppen ins Ausland schicken. Dies regelt das «Parlamentsbeteiligungsgesetz», wonach für Einsätze bis zu einer bestimmten Grösse ein vereinfachtes Verfahren eingeführt wird, bei dem für das Parlament eine Widerspruchsfrist von einer Woche gilt. Die Zustimmung gilt als erteilt, wenn nicht mindestens eine Fraktion oder fünf Prozent der Abgeordneten dem Einsatz widersprechen.


* Peter Tobiassen ist Geschäftsführer der Zentralstelle Kriegsdienstverweigerung; Stefan Philipp ist Chefredakteur der Zeitschrift ZivilCourage der Friedensorganisation Deutsche Friedensgesellschaft – Vereinigte KriegsdienstgegnerInnen (www.dfg-vk.de), in der dieser Artikel zuerst erschien.

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