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Positives FeedbackStrukturelle Gewalt ist der Hintergrund für schwere Konflikte in nordamerikanischen Indianer-Reservaten. Gewaltfreie Konfliktintervention erfordert unter diesen Bedingungen nicht zuletzt politische Öffentlichkeitsarbeit Von Martin Fischer |
Das Nordamerikaprojekt ist das einzige Projekt von Peace Brigades International (PBI) in der ersten Welt. Im Gegensatz zu den meisten anderen Ländern, in denen PBI aktiv ist, gibt es in Nordamerika praktisch keine Todesdrohungen, Entführungen oder Morde an politischen AktivistInnen. Deshalb spielt hier eine sonst typische PBI-Aktivität - die Schutzbegleitung direkt bedrohter Menschen - nur eine untergeordnete Rolle. Der Schwerpunkt der PBI-Arbeit in Nordamerika liegt daher in der Berichterstattung über die Auswirkungen struktureller Gewalt.
Nach der gewaltsamen Vertreibung in kleine Reservate, der Landenteignung und der politischen Entmündigung der IndianerInnen im letzten Jahrhundert, war es das erklärte Ziel der US-Regierungen, die IndianerInnen an die angelsächsische Kultur zu assimilieren. Mehr noch als die Zwangsumsiedlungen führten die systematische Unterdrückung ihrer Kultur, ihrer Identität und der sozialen Netzwerke zu einer Entwurzelung der indianischen Völker. Die Folgen dieser tief in der nordamerikanischen Gesellschaft verankerten Gewaltstrukturen sind drastisch: In vielen Reservaten liegt die Lebensqualität weit unter dem US-amerikanischen oder kanadischen Durchschnitt. Es herrscht eine Atmosphäre von Angst und Gewaltbereitschaft. Alkoholismus, innerfamiliäre Gewalt gegenüber Frauen und Kindern, hohe Selbstmordraten und extreme Arbeitslosigkeit prägen den Alltag vieler indianischer Gemeinschaften.
Im Nachgang der schwarzen Bürgerrechtsbewegung und auf Druck von Menschenrechtsgruppen unternahmen die Regierungen in den siebziger und achtziger Jahren einige Schritte, um vergangenes Unrecht wiedergutzumachen. Das Selbstbewusstsein vieler IndianerInnen wuchs und indianische Gemeinschaften begannen sich politisch zu engagieren. In jahrelangen Auseinandersetzungen mit Behörden, Politikernnen und dem Justizsystem versuchten sie Rechte, die ihnen im Zuge der Kolonisation genommen worden waren, wieder zurückzugewinnen. Besonders dort, wo handfeste ökonomische und politische Interessen im Spiel sind, etwa Rohstoffvorkommen oder die Kontrolle über grosse Landgebiete, waren diese Anstrengungen wenig erfolgreich. Die Unterdrückungsmechanismen der Kolonialisierung funktionieren in solchen Fällen praktisch ungehemmt.
Die meisten indianischen Nationen Nordamerikas wünschen, sich selber regieren zu können. Die Bundesregierungen der USA und Kanadas stimmen zwar einer teilweisen indianischen Souveränität verbal zu, unternehmen aber kaum etwas, um diese zu ermöglichen. Das schürt unter jungen IndianerInnen die Bereitschaft, Veränderungen mit gewalttätigen Mitteln einzufordern. Viele indianische Führer und Stammesälteste betonen demgegenüber die Notwendigkeit, den Kampf für die Unabhängigkeit gewaltfrei zu führen.
Die Innu-Indianer von Neufundland im Nordosten Kanadas sind ein Beispiel dafür, wie sich die Kolonisation ausgewirkt hat, wie sich indianische Gemeinschaften heute wehren und auf welche Widerstände sie dabei stossen. Anfang 1994 erreichte PBI ein Notruf der Innu Nation, der Dachorganisation der Innu-Indianer. Einige Wochen zuvor hatte eine Gruppe von Innu-Frauen einen kanadischen Richter samt Polizeieskorte verjagt, weil sie der Ansicht waren, das kanadische Justizsystem schade ihrer Gemeinde mehr als es helfe. Nun befürchtete die Innu Nation gewalttätige Übergriffe der kanadischen Bundespolizei auf das Reservat Davis Inlet. In den beiden folgenden Wochen knüpfte ein PBI-Team vor Ort Kontakte mit indianischen FührerInnen und Regierungsstellen. Zusätzlich bot es Workshops in gewaltfreier Konfliktlösung an. Im August desselben Jahres eskalierte die Situation mit der Regierungsankündigung, die Bundespolizei wieder ins Reservat zu schicken. Die Innu-Gemeinde bereitete sich darauf vor, gegen die Polizei Widerstand zu leisten. PBI schickte ein weiteres Team, das für zwei Wochen blieb, bis sich die Situation entspannt hatte.
Die Innu Nation richtete beide Anfragen an PBI, um Raum für einen Heilungsprozess zu schaffen - Raum, der vom kanadischen Rechtssystem nicht geboten wurde. Im Frühling 1995 erarbeitete ein kleines PBI-Team - wiederum auf Anfrage - während dreier Monate einen Bericht über die soziale Zerrüttung in den Innu-Reservaten von Neufundland und über die Auseinandersetzungen der Innu mit der strukturellen Gewalt der kanadischen Gesellschaft. Neben den Innu besuchte das Team die verschiedenen Polizeiorgane, das Militär, Vertreter des Justizsystems, SozialarbeiterInnen, Kirchenleute und nicht-indianische BürgerInnen. PBI erhielt für den Report, der die Perspektive aller Konfliktparteien dokumentiert und kommentiert, viel positives Feedback von den Betroffenen und Experten.
PBIs Unparteilichkeit und Offenheit für alle Parteien ist in dieser Form einzigartig in Nordamerika. Durch die Präsenz einer unparteilichen Organisation werden die gewaltfreien Verhandlungen der Konfliktparteien unterstützt, indem alle Beteiligten zur Anerkennung der komplexen Situation und zur Rechenschaft für ihre Aktivitäten angehalten werden. PBIs detailliertes Wissen über alle involvierten Gruppen trägt oft zur Verständigung zwischen den Parteien bei - diese wüssten sonst wenig über die Ängste und Erfahrungen, die hinter den Entscheidungen und Aktivitäten der anderen Parteien stehen.
Um zu garantieren, dass ein PBI-Einsatz auch wirklich gewünscht wird, geht PBI nur auf Anfrage von Betroffenen in ein Konfliktgebiet. Aber gerade Krisensituationen gefährden den Konsens in der Gemeinschaft. PBI-Aktivitäten können daher bei einem Teil einer indianischen Gemeinschaft auf Skepsis oder Widerstand stossen. Manchmal sind sich indianische Gemeinschaften auch nicht einig, welchen Auftrag sie einem PBI-Team in ihrem Gebiet erteilen wollen. Daher muss das Mandat eines Teams immer wieder abgesprochen werden. Wenn keine Einigkeit erzielt wird, zieht sich PBI zurück, um bestehende interne Konflikte nicht zu verschärfen.
Nur der längerfristige Kontakt zu einer ganzen Gemeinde kann die Vertrauensbasis für die fruchtbare Arbeit eines Teams schaffen. Das Kennenlernen der oft sehr komplexen Geschichte und der Hintergründe eines Konflikts, der Konfliktparteien und schliesslich einzelner Personen beansprucht viel Zeit. Es wäre daher wünschenswert, kleine Langzeit-Teams in verschiedene Regionen schicken zu können. Angesichts der hohen Reise- und Lebenskosten in diesem riesigen Gebiet ist es dem Nordamerika-Projekt (im Unterschied zu den anderen PBI-Projekten) allerdings nicht möglich, ein ständig einsatzbereites Vollzeit-Team zu unterhalten. Nur der unermüdliche Einsatz von Freiwilligen und die Entwicklung von Kurzzeit-Einsätzen auf Abruf haben es PBI ermöglicht, trotzdem den meisten indianischen Anfragen Folge zu leisten.
Kenner der indianischen Realität in Nordamerika erwarten eine Eskalation der Konflikte. Besonders junge Indianer haben bereits in den vergangen Jahren vermehrt zu Waffen gegriffen. Das Verständis für indianische Anliegen in der Bevölkerungsmehrheit schwindet, und damit wird der Handlungsspielraum der demokratisch gewählten Regierungen noch mehr eingeengt. Räume für Verständigung und Konfliktlösung werden daher noch dringender gebraucht.
* Martin Fischer, 27, ist seit 5 Jahren aktives PBI-Mitglied. 1994 weilte er ein halbes Jahr als Freiwilliger in Nordamerika.
(ha) Im April 1991 wurde das Nordamerika-Projekt (NAP) der Peace Brigades International gestartet, um den gewaltfreien indianischen Kampf für soziale Gerechtigkeit zu unterstützen. So organisiert PBI auf Anfrage indianischer Organisationen Trainings in gewaltfreier Konfliktlösung oder die Präsenz internationalen BeobachterInnen bei konkreten Anlässen.
Das NAP war in den vergangenen Jahren auf Anfrage folgender indianischer Nationen aktiv: Innu von Utshimassits (Davis Inlet, Neufundland), Innu von Sheshatshi (Goose Bay, Neufundland), Innu von Maliotenam/ Uashat (Sept Îles, Quebec), Algonquin (Barriere Lake, Quebec), Saugeen Ojibway (Bruce Peninsula, Ontario) und Western Shoshone (Nevada). Auf Anfrage der Dineh (Navajos) von Big Mountain in Arizona entsandte das NAP im Mai dieses Jahres ein dreiköpfiges Erkundungsteam. Das Gebiet des Big Mountain ist sowohl für die Dineh wie für die Hopi heiliges Territorium. 1974 wurde das Gebiet gegen den Willen der Ältestenräte beider Völker durch ein Bundesgesetz geteilt und mehr als 10'000 IndianerInnen umgesiedelt. Neue Umsiedlungspläne der Regierung - Dineh-Familien sollen auf einem wahrscheinlich radioaktiv verseuchten Gebiet angesiedelt werden - verschärfen nun die seither bestehenden Spannungen. Zusätzlich beauftragte die an der Nutzung der dortigen Kohlevorkommen interessierte Pealbody Coal Company eine Public-Relations-Firma, den Landkonflikt zwischen den Hopi und den Dineh zu schüren.
Die knappen personellen und finanziellen Ressourcen verunmöglichen dem NAP zur Zeit allerdings die positive Beantwortung weiterer Anfragen. Spenden sind erwünscht auf das PBI-Postchequekonto, 80-20957-8, Vermerk: «NAP».
Die Dokumentation «Justice and Healing» zum Konflikt um die neufundländischen Innu-Reservate ist erhältlich bei: PBI Schweiz, Quellenstr. 31, 8005 Zürich (Tel: 01/272 27 76), Internet: http://www.peacebrigades.org/nap/nap95-02.htm (fixed 3.4.2003)