Eine bundesrätliche Verordnung hat auf den 1. April 1996 (!) in der ganzen Schweiz bei Discos, Konzerten usw. Lautstärkelimiten von 93 Dezibel (dB) im Stundenmittel festgelegt. Das Bundesamt für Gesundheitswesen und die Schweizerische Unfallversicherungsanstalt (Suva) haben den inneren Feind rasch ausgemacht: Nicht etwa überlaute Kanonen und berechtigter Überdruss sind schuld, wenn Offiziere bei Untergebenen zunehmend auf taube Ohren stossen, sondern gewissenlose DJs, Heavy Metal-Bands und andere vaterlandslose Gesellen. Die machen nämlich die Ohren unserer Jugend kaputt mit teuflischem Lärm und infernalen Technobässen, jawohl. Ausserdem sind sie erst noch beliebter als das Militär.
Seelenlos/SSI Der kleine Hirnfick
Der Bundesrat hat hüftschussmässig auf den 1. April die «Verordnung zum Schutz des Publikums von Veranstaltungen vor gesundheitsgefährdenden Schalleinwirkungen und Laserstrahlen» erlassen. Diese gilt für alle Veranstaltungen, «bei denen elektroakustisch erzeugter oder verstärkter Schall auf das Publikum einwirkt» mit einer kitzekleinen Ausnahme: «militärische Veranstaltungen mit zivilem Publikum».
Im Innenohr, wo der Hörverlust letztlich entsteht, kommen nicht alle Töne gleich laut an. Während sehr hohe und tiefe Töne nur sehr
abgeschwächt hineingelangen, werden die mittleren Frequenzen zwischen 1000 und 8000 Hertz (Hz) durch Aussen- und Mittelohr mehrfach
verstärkt (Resonanz) und richten folglich umso verheerendere Schäden an in einem Frequenzbereich, der für die menschliche
Kommunikation essentiell ist! (vgl. Grafik)
Zwar wird versucht, diesem Umstand im Gesetz Rechnung zu tragen durch die Verwendung der sogenannten dB(A)-Kurve, welche dem
menschlichen Gehörgang etwas angepasst ist jedoch bei weitem nicht genug. So werden in der Verordnung ausgerechnet die schädlichsten
Töne um 4000 Hz um gut 8 dB zu wenig streng bewertet. Hingegen werden Bässe unter 100 Hz um über 8 dB mehr beschnitten, als dies
vom medizinischen Standpunkt überhaupt zu rechtfertigen wäre.
Davon können Rock- und Techno-Fans nur träumen: Jenseitige 187 dB beträgt der Schalldruck einer Armeehaubitze 10,5 cm am Standort
der Bedienung! Eine Kanone gleichen Kalibers sowie der Rak.-Werfer Dragon erreichen 185 dB, ein Sturmgewehr am Ohr des Schützen
immerhin noch respektable 170 dB. Letzeres entspricht einer Spitze von 167 dB (A) und einem auf 1 Sekunde gemittelten
Schallexpositionswert( SEL) von 129 dB (A); bei 40 Schuss summiert sich der SEL bereits auf 145 dB (A). Einzelne Schallimpulse über 125
dB (A) SEL können laut Suva bleibende mechanische Schäden im Innenohr bewirken. (Von den anderen Waffen sind leider keine dB (A)
-Werte erhältlich.) Bereits etwas abgeschlagen, doch immer noch satt über der Schmerzgrenze von 130 dB (A) rangiert ein Jetprüfstand etwa
für F/A-18-Triebwerke mit einer auf 1 Stunde gemittelten Dauerschallbelastung (LEQ) von 140 dB (A).
Vergleichsweise harmlose Dauerwerte von durchschnittlich 100 bis 110 dB (A) LEQ erreichten bis vor kurzem Discos, Rockkonzerte und
Raves die gleiche Lautstärke, die auch ein voll aufgedrehter Walkman heute noch legal liefert, wenn auch mit wesentlich schädlicherem
Höhenanteil.
Bei solchen Werten sind empfindliche Hörschäden speziell beim Militär vorprogrammiert, zumal laut Suva-Recherchen gegen 10 Prozent der
Wehrmänner den Gehörschutzbefehl zu überhören pflegen und sich den «lautesten Sound der Schweiz» lieber unverdünnt reinpfeifen. Die
Quittung: Schweizer Männer haben mit 40 Jahren bei höheren Tönen (3000 bis 8000 Hz) durchschnittlich einen Hörverlust von -8 bis -20
dB, während er bei gleichaltrigen Frauen nur etwa die Hälfte beträgt.
Mit der Anwendung des neuen Lautstärkegesetzes fehlt, wie die eine oder der andere vielleicht bereits am eigenen Leib erfahren hat, vor
allem bei Musikstilen wie Techno, Jungle, aber auch Speed Metal und Trash plötzlich der gewisse, oftmals entscheidende Kick. Trotzdem
wird die Verordnung erst recht zu zusätzlichen Hörschäden führen: die DJs und Mischer werden die Einschränkungen im Bassbereich mit
mehr Power in den schädlicheren Mittel-Frequenzen auszugleichen versuchen.
Auch wenn die Verantwortlichen den Begriff Kulturzensur nicht schätzen, ist er schlicht zutreffend: Mit der faktischen Diskriminierung von
Techno, Rap und Jungle hat behördliche Ignoranz wieder einmal eine ganze und zudem vergleichsweise gehörfreundliche Jugend- und
Musik-Kultur zum Abschuss freigegeben.
GSoA-Zitig, September 1996, Nr. 66