Der Krieg in Bosnien ist dank der freundlichen Präsenz von Ifor-Soldaten zum Stillstand gekommen. Doch ein echter Frieden ist nicht in Sicht. Unterdessen sitzen die Kriegsverbrecher immer noch an den Schaltstellen der Macht und die ethnischen Säuberungen gehen in kleinerem Massstab weiter.
Von Jasna Bastic*
Ifor aus Bosnien abzieht, werden die Kämpfe am darauffolgenden Tag wieder beginnen! - mit diesem Satz kommentieren ganz gewöhnliche BosnierInnen den instabilen Frieden in ihrem Land. Die meisten von ihnen glauben, dass nur die Ifor-Soldaten wenigstens ihre physische Sicherheit garantieren. Die Leute sehen Ifor als Besatzungsmacht, aber sie freuen sich darüber - nur eine der vielen Absurditäten im heutigen Bosnien.
Weit verbreitet ist die Ansicht, weder internationale Diplomaten noch einheimische Politiker (geschweige denn man selbst) könnten irgendwelchen politischen
Einfluss ausüben. Die organisierte Friedensbewegung existiert praktisch nicht mehr, die grössten Pazifisten findet man heute unter den Kriegsveteranen. Mehr als
400 internationale, staatliche und regierungsunabhängige Missionen unterhalten in Sarajevo ein Büro mit ausländischen Angestellten, die zigfach mehr verdienen als
die wenigen BosnierInnen, die eine Arbeit haben. In den Strassen von Sarajevo hört man inzwischen mehr Englisch als Bosnisch. Dabei geniesst nur die Arbeit des
UNHCR und einiger humanitärer Hilfsmissionen einen guten Ruf. Über die OSZE lacht man seit den September-Wahlen nur noch. Kein Wunder, haben die
BewohnerInnen ihr Sarajevo inzwischen in Anspielung an den gleichnamigen Film in Casablanca umbenannt; kein Wunder, geht das geflügelte Wort von der
Friedens- und Menschenrechtsindustrie um.
Mit der Unterschrift unter das Dayton-Abkommen vor einem Jahr wurden viele Menschenleben gerettet. Das ist wichtig. Aber der sogenannte Frieden ist,
vorsichtig ausgedrückt, eine bizarre Geschichte ohne Ende. Die Septemberwahlen haben wieder einmal gezeigt, dass eine tragfähige politische Friedenslösung auf
der Basis ethnischer Trennung und mit den nationalistischen Kriegsverantwortlichen an den Schaltstellen der Macht nicht zu haben ist.
Das Hauptproblem, an dem sich der Konflikt jederzeit wieder entzünden kann, ist die Rückkehr der Flüchtlinge. Dayton hat allen Flüchtlingen ein Rückkehrrecht
garantiert. In der Realität funktioniert das schlicht nicht. Die ethnischen Säuberungen gehen im Gegenteil weiter, und Ifor schaut zu. Bis jetzt gibt es nur eine wichtige
Ausnahme davon: Im nordbosnischen, in der serbischen Entität liegenden Dorf Jusici hat Ifor bisher die Rückkehr von 350 muslimischen Flüchtlingen gegen den
Widerstand der serbischen Polizei durchgesetzt.
Neben der fehlenden Bewegungsfreiheit ist die bisherige Straffreiheit für Kriegsverbrecher wie Radovan Karadzic und Ratko Mladic eines der Hauptthemen in
Sarajevo. Viele hofften, dass Ifor die Täter dingfest machen würde. Doch inzwischen musste auch das Haager Kriegsverbrechertribunal die Passivität von Ifor
geisseln. Die Regierungen der entscheidenden Nato-Staaten - genannt werden vor allem die westlichen Mitglieder der Kontaktgruppe, also Frankreich, England,
Deutschland und die USA - sind offensichtlich nicht an einer Verhaftung von Karadzic und Konsorten interessiert.
Das Verhältnis von Ifor und Bevölkerung ist unterschiedlich. Die italienischen Truppen beispielsweise haben in Sarajevo einen sehr schlechten Ruf. Sie profilieren
sich vor allem als Verursacher von Unfällen im Strassenverkehr. Häufig sieht man auch Ifor-Soldaten beim Fototermin vor den Gedenkstätten, die an die
Bombenopfer des Krieges erinnern; die sarkastischen Bemerkungen der PassantInnen verstehen sie nicht.
Die besten Kontakte zu lokalen Instanzen und Bevölkerung unterhalten die US-Truppen. Sie gelten als professionell und effektiv. Die US-Soldaten unterliegen
einem so strengen Reglement, dass sie von ihren Alliierten ausgelacht werden. Sie dürfen keinen Alkohol trinken - nicht einmal Bier in der Freizeit - und erhalten
keinen Ausgang, um sich abends in der Stadt zu amüsieren. Ihre Unterkunft dürfen sie nur in voller Montur verlassen, weil sonst die Versicherungsgesellschaften
keine Schadendeckung übernehmen.
Ich erinnere mich gut an Thomas und Chuck, zwei nette amerikanische Soldaten, die ich in Brcko kennengelernt habe. Vor bald einem Jahr wurden sie aus
Deutschland abgezogen, jetzt erledigen sie ihren Job halt in Bosnien. Ihr einziger Wunsch war: an Weihnachten wieder in Deutschland bei ihren Familien zu sein
und nicht wieder zurückkommen zu müssen.
Ich traf die beiden jungen Soldaten am Tag, an dem die von der Ifor bewachte Brücke über den Fluss Sava für den Verkehr geöffnet wurde. Von Verkehr war
allerdings noch nichts zu sehen. Dafür standen eine Menge ausländischer TV-Crews herum. Chuck war sehr kooperativ. Mehrmals marschierte er über die leere
Brücke, damit die Medien ihre Bilder schiessen konnten: mit Helm, Waffe, kugelsicherer Weste und gebeugten Schultern - er tat mir leid. All dies tat mir leid.
Soldaten wie Chuck und Thomas bewachen in der Nähe von Brcko den bekannten Marktplatz Arizona. Dieser Markt ist ein grosses Schlammfeld an der Grenze
der beiden Entitäten, auf dem sich Leute aller Nationalitäten - SerbInnen, KroatInnen, MuslimInnen, ja sogar Händler aus Serbien und Kroatien - treffen, um
Geschäfte zu machen oder um Freunde zu treffen. Was in Parlamenten, luxuriösen Kongressgebäuden und in Diplomatenvillen nicht möglich ist, findet hier unter
freiem Himmel statt. Nationalistische Gruppen jeglicher Herkunft würden dieses Symbol multinationalen Zusammenlebens am liebsten vom Erdboden tilgen.
Vielleicht genügte schon eine einzige Granate dazu. Bis jetzt hat Ifor das verhindert.
Das Mandat der 60000 Ifor-Soldaten unter Führung der Nato läuft im Dezember aus. Aber Ifor wird länger mit 20 000 bis 25000 Truppenangehörigen in Bosnien
stationiert bleiben - sicher bis in den April 1997 und möglicherweise bis zu den nächsten allgemeinen Wahlen von 1998, um dann das Wahlrecht der Bevölkerung
an ihrem Heimatort, also gegebenenfalls über die Entitätsgrenzen hinweg durchzusetzen.
Die Ifor-Truppen sollen nicht nur den Waffenstillstand in Bosnien garantieren. Für die beteiligten ausländischen Regierungen haben sie darüber hinaus eine noch
grössere Bedeutung: Die Nato will mit dem Dayton-Abkommen und Ifor zeigen, dass sie besser als die Uno mit kriegerischen Konflikten umgehen kann, die USA
hat ihre führende Position innerhalb der Nato gefestigt, und - am wichtigsten - die Nato hat sich in Osteuropa etabliert. Was auch immer mit Ifor geschehen wird:
Die Nato hat ihre Basen in Kroatien und Bosnien auf sicher.
Mit dem neuen Ifor-Mandat wird Deutschland eine neue Rolle in Bosnien übernehmen. Zur Zeit erfüllen die deutschen Soldaten von Kroatien logistische
Hilfsfunktionen im Bereich Sanität und Transport. Doch inzwischen hat der Verteidigungsminister Volker Rühe den neuen deutschen Führungsanspruch angemeldet.
Deutsche Soldaten sollen nun auch in Bosnien stationiert werden und Kommandoposten übernehmen. Nach der deutschen Beteiligung bei der militärischen
Überwachung des Waffenembargos gegen Ex-Jugoslawien 1992 und an der UN-Intervention in Somalia 1993 ist dies ein weiterer historischer Schritt für
Deutschland - angesichts der ungeheuren Verbrechen, welche die Wehrmacht während des zweiten Weltkrieges in Jugoslawien verübte, ein fragwürdiges
Unterfangen.
Bosnien ist zu einem riesigen Labor für die militärischen und politischen Machtspiele der Nato, bzw. der USA und der europäischen Mittelmächte geworden.
In der Endphase des offenen Krieges testete die Nato mit ihren Angriffen auf serbische Stellungen die neuesten, lasergesteuerten Raketen. Heute werden die
diplomatischen Kontakte zwischen westlichen und islamischen Staaten nicht zuletzt über den Bosnienkonflikt organisiert. Und morgen werden die praktischen
Erfahrungen deutscher Soldaten in Bosnien ein schlagendes Argument für die Bildung von starken Krisenreaktionskräften in einer neugestalteten Bundeswehr
abgeben.
Aber ohne echte politische Lösungen hat Ifor in Bosnien keine Perspektiven. Wie lange und wie effektiv wird Ifor eine Situation kontrollieren, in der die
konkurrierenden Warlords nicht zur politischen Koexistenz bereit sind? Wenn die verantwortlichen politischen Führer weitere Grenzkorrekturen durchsetzen
wollen, wird Ifor die sich daraus ergebenden bewaffneten Auseinandersetzungen nicht flächendeckend unterdrücken können. Dann wird die ganze Geschichte von
vorne beginnen. Wie also soll unter den Vorzeichen des Dayton-Abkommens, wie soll auf der Basis ethnischer Trennung und mit nationalistischen
Kriegsverbrechern an den Schaltstellen der Macht ein echter Friede in Bosnien möglich werden?
*Die bosnische Journalistin Jasna Bastic schrieb diesen Artikel Ende Oktober in Sarajevo für die GSoA-Zitig. Die Übersetzung besorgte Hans Hartmann.
GSoA-Zitig Nr.68, November 1996