Neue GSoA-Initiativen: warum eigentlich?Alte Mythen, neue MythenWas will die GSoA mit einer neuen Armee-Abschaffungsinitiative? Und um was geht es beim zivilen Friedensdienst? Vielleicht müssen wir noch intensiver nach gemeinsamen Antworten auf diese grunsätzlichen Fragen suchen, um unsere Projekte verständlich machen zu können. |
Von Hans Hartmann
Ein Mythos, so steht es im Fremdwörterduden, ist eine
«Person, Sache, Begebenheit, die (aus meist verschwommenen
irrationalen Vorstellungen heraus) glorifiziert wird, legendären
Charakter hat». Bis weit in die 80er Jahre dominierte der Mythos
der bewaffneten Neutralität das Selbstbild der Schweiz. Es war
dies ein Mythos des Ausschliessens und daher ein Mythos der
Tabus. Ausgeschlossen aus der heilen Welt Schweiz war die unheile
Welt, die es abzuwehren galt. Ausgeschlossen war aber auch die
Kritik an der heilen Welt Schweiz. Symbol und institutionelle
Verkörperung dieses Mythos zugleich war die Armee.
Solidarität konnte sich so nur als humanitären
Ausflug in eine fremde Welt verstehen, und nur Uniformität
versprach Sicherheit.
Die Schweiz ändert sich
Dass die GSoA die Armee und damit die Mythen der inneren
Verfassung und der äusseren Beziehungslosigkeit der Schweiz in
Frage stellte, als deren Fundamente zu bröckeln begannen, machte
ihre Faszination aus. Auch im Rückblick sind dabei Ursache und
Wirkung kaum zu unterscheiden. Sicher ist nur, dass immer mehr
Gläubige vom helvetischen Sonderfall, vom heiligen Mythos der
Abgrenzung und von seiner Inkarnation, der Armee, abfallen. Die
Schule der Nation muss ihren Lehrplan umschreiben -
neue GSoA-Initiativen hin oder her. Bleibt uns also nur
langweilige Vollzugspolitik? Ich glaube nicht. Denn
vor unseren Augen entsteht ein neuer Mythos: der Mythos der
Existenzsicherung. Dabei geht es nicht mehr in erster
Linie um den Ausschluss des Unheils, sondern um dessen Kontrolle.
Nicht mehr bedingungslose Uniformität, sondern kollektive
Selbstkontrolle - innere Interventionsfähigkeit - soll
Sicherheit gewährleisten. Und nicht mehr wohlfeile
Wohltätigkeit, sondern kooperative Interventionsfähigkeit in
Angelegenheiten, die früher als fremde Händel abgetan wurden,
gilt als Messlatte von Solidarität.
Oberstes Gebot des Ausgrenzungsmythos war Unabhängigkeit und
Eigenart. Diesbezügliche Kritik konnte nicht Thema politischer
Meinung, sondern nur Ausdruck landesverräterischer Gesinnung
sein. Oberstes Gebot des Kontrollmythos wird Funktionalität und
Effizienz sein. Die neuen Herausforderungen lauten: Was
ermöglicht es der Schweiz, ihre inneren Spannungen zu meistern?
Welchen Part übernimmt sie im internationalen Kontrollkonzert,
und wie stellt sie damit ihre Überlebensfähigkeit unter Beweis?
Wenn die Armee auch in diesem neuen Mythos eine zentrale Rolle
übernehmen will, muss sie sich wandeln: vom Sinnbild
helvetischer Urwüchsigkeit zum effizienten Kontrollinstrument.
Dieser Interpretationsrahmen gibt einer Reihe von scheinbar
unzusammenhängenden Entwicklungen in der offiziellen
Militärpolitik einen gemeinsamen Sinn: Milizapostel wandeln sich
zu Professionalisierungsanhängern; auf die
Uno-Blauhelminitiative des Bundesrates folgt die Annäherung an
die Nato; hohe Offiziere profilieren sich als Gelbmützen in
Sarajevo; zivile Politikbereiche sollen plötzlich zu
Armeeaufgaben werden, von der Katastrophenhilfe über die
Migrationspolitik bis zum Objekt- und Personenschutz;
Bedrohungsbilder werden flächendeckend flexibilisiert; der
innere Ordnungsdienst wird wieder aktuell, sowohl auf
Gesetzesebene als auch in der Standardausbildung immer neuer
Armeeformationen.
Wenn wir, die GSoA, neue Initiativprojekte diskutieren, sollte es
uns also nicht nur darum gehen, den alten Mythos endgültig zu
verabschieden. Mindestens ebensosehr sollten wir bedenken, wie
wir dem neuen Kontrollmythos eine zivilere und friedlichere
Vision der Schweiz (und der Welt) entgegenhalten können.
Mit Armeeabschaffung meine ich in Zukunft nicht genau dasselbe
wie vor zehn Jahren. Neue Aspekte sind wichtig geworden.
Armeeabschaffung heisst heute auch: Sicherheit darf nicht als
instrumentelles Problem missverstanden werden, sondern muss
vielmehr Gegenstand der politisch-zivilen Auseinandersetzung
sein. Und Armeeabschaffung heisst immer mehr: Globale
Solidarität misst sich nicht in machtpolitischen
Kategorien militärischer Interventionsfähigkeit, sondern am
politischen Willen, die Perspektiven anderer wahrzunehmen und im
gegenseitigen Austausch zu lernen, wie Konflikte gewaltfrei
angegangen werden können.
Die sich verändernde Auseinandersetzung um Sicherheit und
Solidarität geht uns alle an. Sie wird die Zukunft auch unseres
Landes mitbestimmen. Es lohnt sich, darum zu kämpfen, dass sich
in unseren Köpfen nicht ein neuer Mythos festsetzt. Aber um die
Phantasie dieses Landes - und unsere eigene - anzuregen, wird es
nicht mehr genügen, das Bestehende (also den alten, zerfallenden
Mythos) radikal zu kritisieren. Die politische Schweiz ist auf
der Suche. Das wollen wir unterstützen, auch wenn wir die
militaristischen Prämissen dieser Suche ablehnen. Es reicht
nicht, «Abschaffung!» zu rufen, wenn wir die Diskussion um die
Frage führen wollen, was denn internationale Solidarität unter
den Bedingungen realer Kriege heissen könnte. Und es reicht
nicht, auf strukturelle Gewaltursachen zu verweisen,
wenn wir uns zusammen mit anderen dazu befähigen wollen, nach
Wegen aus aktueller Gewalt zu suchen.
Es geht also darum, Alternativen zu militaristischen
Kontrollphantasien zu entwickeln. Die Idee eines zivilen
Friedensdienstes (ZFD) bietet dafür viele Ansatzpunkte - bei
weitem nicht alle denkbaren, aber viele. Einen zukünftigen
zivilen Friedensdienst stelle ich mir als ein Netz von Orten vor,
an denen unterschiedlichste Menschen in der Schweiz und
grenzüberschreitend die Möglichkeit erhalten, voneinander und
miteinander zu lernen, wie Konflikte gewaltfrei angegangen werden
können. Ein solcher ZFD würde Chancen eröffnen; vor allem die
Chance, aus scheinbaren Sachzwängen wieder Themen politischer
Auseinandersetzung zu machen und damit selber Gewaltstrukturen in
Frage zu stellen. Ein entsprechender Initiativtext sollte so
offen formuliert werden, dass die verschiedensten Erfahrungen und
Vorstellungen darüber, wie dies am besten zu bewerkstelligen
wäre, in die Diskussion um die detaillierte Ausgestaltung eines
ZFD einfliessen können.
Keine neuen Mythen
Hüten sollten wir uns bei diesem Unternehmen allerdings, selber
neue politische Mythen in die Welt zu setzen:
Sicherheit kann nie ein für alle Mal garantiert
werden, auch nicht von zivilen Institutionen; Sicherheit ist
nicht das Resultat von Kontrolle, sondern entsteht aus der
Bereitschaft zum Austausch; Solidarität bedeutet nicht, dass
keine Konflikte mehr entstehen, und Solidarität wird sich nie
ganz dem Spannungsfeld von Einmischung, Bevormundung und
Selbstverleugnung entziehen können. Wenn wir solche
Einschränkungen bedenken, können wir vielleicht die Grundlagen
für einen ZFD skizzieren, der Friedenspolitik ermöglichen und
nicht ersetzen will; der weder friedensimperialistisch noch
eigenbrötlerisch funktioniert; der einerseits «Friedensarbeit»
nicht an BürokratInnen und ExpertInnen delegiert, anderseits den
Staat und seine Institutionen auch nicht aus ihrer Verantwortung
entlässt. Die laufende Diskussion in der GSoA geht, so denke
ich, in diese Richtung.
Vor allem aber dürfen wir nicht eine alte GSoA-Utopie - die
umfassende Friedenspolitik - zum Mythos werden
lassen. Friedenspolitik kann niemals umfassend zu
Ende gedacht, geschweige denn praktiziert werden, denn niemand
kann die Erfahrungen aller Menschen in eine Perspektive
zusammengiessen. Am Anspruch, umfassende
Friedenspolitik konkretisieren zu müssen, wird nicht nur
der ZFD, sondern jede Initiative scheitern. Wenn wir mit dem
ZFD-Projekt interessante Perspektiven für eine solidarische,
gewaltfreie Sicherheitspolitik der Zukunft stark
machen können, dann haben wir schon viel erreicht.