Europa schafft die Wehrpflicht ab - die Schweiz will die
Dienstpflicht ausdehnen
Wehrpflicht adieu
Am meisten Aufsehen erregte der Entscheid Frankreichs:
Jacques Chirac schafft
die Wehrpflicht ab - ein Trend, der sich in den meisten
Nato-Staaten abzeichnet.
In der Schweiz dagegen untersuchte eine eidgenössische
Studienkommission vier
Jahre lang, ob die Wehrpflicht zur allgemeinen Dienstpflicht
ausgedehnt werden solle.
Von Andreas Kyriacou
Die Abschaffung der Wehrpflicht in Frankreich geht einher mit einer massiven
Reduktion des Truppenbestandes. Bis zum Jahr 2002 soll auf 150000 der 500000
Soldaten verzichtet werden, und die Präsenz in Deutschland wird von 20000
auf 3000 sinken.
Dabei wird der Verteidigungsetat während 5 Jahren auf dem Stand von 1995
eingefroren: bei jährlich 185 Milliarden Francs. Erreicht werden soll dies
mit einem reduzierten Beschaffungsprogramm und dem teilweisen Rückzug aus
Kooperationsprogrammen. Am stärksten davon betroffen ist Deutschland.
Bonner Dissonanzen
In Bonn hat man sich deshalb über die Pläne der westlichen Nachbarn wenig
erbaut gezeigt. Und zumindest von offizieller deutscher Seite wird eine Berufsarmee
und damit die Abschaffung der Wehrpflicht nach wie vor vehement abgelehnt.
Doch auch Deutschland rüstet personell ab. Eingeleitet ist eine Reduktion der
Bestände auf 340000 Mann und eine Verkürzung der Dienstpflicht von 12 auf 10 Monate.
Die SPD fordert gar eine Halbierung der Dienstzeit und eine Reduktion auf unter
300000 Mann. Zudem wollen Grüne und SPD auf das Jagdflugzeug Eurofighter verzichten.
In der Frage der Wehrpflicht ist die Sozialdemokratie allerdings gespalten; nur die
Fraktion der Grünen/Bündnis 90 ist einhellig dafür. Dennoch hat auch die deutsche
Debatte über eine Abschaffung der allgemeinen Dienstpflicht an Aktualität gewonnen.
Vor allem die Berliner Kampagne gegen Wehrpflicht, Zwangsdienste und Militär
versucht, die Diskussion voranzubringen.
Braucht die Volkswirtschaft Zivildienstleistende?
Der in Deutschland etablierte zivile Ersatzdienst entpuppt sich dabei immer
mehr als potentielles Hindernis. 1995 leisteten in Deutschland über 160000
Kriegsdienstverweigerer - das sind 43 Prozent der diensttauglichen Männer -
zivilen Ersatzdienst. Ihr Sold von 20000 bis 30000 Deutschen Mark wird zu
rund drei Vierteln vom Bund getragen. Anbieter von Einsatzplätzen erwirtschaften
daher im Schnitt pro Ersatzdienstleistenden einen fetten Gewinn von 33000
Deutschen Mark.
Volkswirtschaftlich geht die Rechnung allerdings nicht auf. Die Gesamtkosten des
Zivildienstes belaufen sich - Lohn-, Erfassungs-, Musterungs- und Zuteilungskosten
eingerechnet - auf rund 4,9 Milliarden DM jährlich. Werden dieselben Tätigkeiten
von tariflich bezahlten Arbeitskräften übernommen, fallen - je nach Rechnungsmodell -
Kosten von 3 bis 4,8 Milliarden DM an, und der Staat könnte sich über zusätzliche
Steuereinnahmen und Sozialabgaben freuen.
Nato ohne Wehrpflicht?
Dabei wäre Deutschland von Vorbildern umgeben: Die Nato-Länder Belgien und die
Niederlande beschlossen 1992 beziehungsweise 1993, die allgemeine Wehrpflicht
aufzuheben. Holland will sich zudem statt mit heute 125000 künftig mit 70000
Soldaten begnügen. Als bisher letztes Nato-Land will auch Spanien diesen Weg
gehen. An die Stelle der heute rund 215000 Dienstpflichtigen sollen rund 150000
Berufssoldaten und Freiwillige treten.
Bereits zur Tradition geworden ist die Abschaffung der Dienstpflicht im angelsächsischen
Raum. Eine breit abgestützte Kampagne in den sechziger Jahren hatte der Dienstpflicht
in Grossbritannien ein Ende bereitet - knapp 50 Jahre nach ihrer Einführung. Und die U
SA schafften die Dienstpflicht nach dem Vietnamkrieg, dem sich Hunderttausende von
Dienstpflichtigen entzogen hatten, ab.
Und die Schweiz?
In der Schweiz brütete die Studienkommission Allgemeine Dienstpflicht (SKAD) ab
Dezember 1992 über der Wehrpflichtfrage.Jedoch ging es an ihren Treffen nicht etwa
um die Streichung der Wehrpflicht. Die SKAD hatte vielmehr zu prüfen, «ob und
allenfalls wie die allgemeine Wehrpflicht durch eine allgemeine Dienstpflicht
oder eine Gesamtverteidigungsdienstpflicht abgelöst werden» solle.
Die Tendenz zum Wechsel zu einer Berufsarmee im benachbarten Europa wurde zwar
zur Kenntnis genommen, jedoch weder die Expertinnen und Experten noch der Bundesrat
sehen offenbar einen Anlass, dadurch die Dienstpflicht generell in Frage zu stellen.
Die Komission untersuchte lediglich Möglichkeiten, die Dienstpflicht auf zivile
Bereiche auszudehnen und entwickelte dabei drei Szenarien:
Das Modell Status quo + stützt sich auf den heutigen Zustand. Dienstpflichtig
bleiben alle Schweizer Männer, die Dienstart kann nicht frei gewählt werden, der
zivile Ersatzdienst bleibt jedoch bestehen.
Das Szenario Allgemeine Dienstpflicht schliesst den zivilen Bereich gänzlich ein.
Alle SchweizerInnen werden dienstpflichtig, und der bisherige Zivildienst entfällt.
Dieses Modell stiess in der Studienkommission auf Skepsis, weil es zu stark auf den
Arbeitsmarkt einwirken könnte und weil von Frauenseite erhebliche Opposition zu erwarten
wäre. Die Ausdehnung der Wehrpflicht auf eine Dienstpflicht für Frauen würde zudem eine
Verfassungsänderung voraussetzen.
Dies gilt auch für das dritte Modell, den goldenen Mittelweg, den die Studienkommission
schliesslich favorisierte. Dieses Modell Allgemeine Wehr- und Schutzdienstpflicht will
den Militärdienst und den Zivilschutz gleichstellen und andere Partner der Existenzsicherung
- von der Feuerwehr über die Rettungssanität bis zur Bergrettung - stärker gewichten.
Dienstpflichtig wären weiterhin nur Schweizer Männer, aber Frauen sowie AusländerInnen
könnten «in Notlagen zu zivilen Schutzdienstleistungen oder zu einem anderen Dienst»
verpflichtet werden. Auf den Zivildienst will auch dieses Modell verzichten.
Verfehlter Ansatz
Mit keinem Wort hinterfragt der Bericht die Ausdehnung der Tätigkeiten der Armee
in den zivilen Bereich. Zwar werden die rechtlichen Rahmenbedingungen erörtert,
aber die Verhältnismässigkeit der heutigen Dienstpflicht wird nicht diskutiert.
Die juristische Argumentation konzentriert sich auf die Feststellung, dass eine
Berufsarmee heute verfassungswidrig wäre. Dieses Resultat mag angesichts der
Zusammensetzung der Studienkommission nicht weiter erstaunen:
Zwölf Mitglieder sind Vertreter von Armee und Zivilschutz oder übernehmen in
Behörden und Organisationen Aufgaben im Dienste der Gesamtverteidigung. Auch
einzelne Frauenorganisationen waren vertreten, das militärkritische Lager
allerdings einzig durch Stella Jegher vom Christlichen Friedensdienst. Mit
von der Partie war dagegen der in diesem Zusammenhang sicherlich unentbehrliche
Verband bernischer Waldbesitzer.
Bundesrat und SKAD haben mit dieser Studie die entscheidenden Fragestellungen
verfehlt. Darüber hinaus kann der Vorschlag, den eben erst erkämpften zivilen
Ersatzdienst zugunsten eines zivileren Zivilschutzes aufzugeben, keinesfalls
hingenommen werden. Unerwartete Unterstützung erhält Bern jedoch von Chirac.
Dieser will die Abschaffung der Wehrpflicht nämlich mit der Einführung einer
allgemeinen Dienstpflicht verknüpfen.