Schneller, leichter, besser ?

Möglichst viele Menschen in gewaltfreier Konfliktbearbeitung ausbilden: Das soll der Zivile Friedensdienst. Geht es um eine alltagsrelevante Kulturtechnik oder nur um die Psychologisierung struktureller Gewalt? •Von Renate Wanie

Als ich zum ersten Mal von der Idee der Kampagne «Wege aus der Gewalt - 1000 Leute lernen gewaltfreies Handeln» hörte, war mein erster spontaner Gedanke: Endlich werden es mehr Leute, die das sinnvolle und gesellschaftlich notwendige Konzept der Gewaltfreiheit kennenlernen und ein Verständnis von gewaltfreier Politik entwickeln können! Aber nach einigem Nachdenken stellten sich mir - als langjähriger Trainerin einer friedenspolitischen Einrichtung - doch eine Reihe von Fragen. Kann es denn unsere Zielrichtung sein, Volksbildung in Sachen Gewaltfreiheit zu betreiben? Sollten wir jetzt plötzlich völlig unspezifische Workshops durchführen, um in einer Art missionarischem Eifer der ganzen Welt die Gewaltfreiheit beizubringen - wir, die wir bisher unsere Trainings mit grossem politischem Anspruch durchführen, um den Widerstand gegen die Herrschenden und ihre wirtschaftlichen Interessen zu organisieren, um Einfluss zu nehmen auf gesellschaftliche Veränderungen und den Aufbau gewaltfreier Alternativen? Das klang in meinen Ohren doch sehr nach entpolitisierten Zielen und Inhalten. Dass vielen Menschen die Grundlagen und die Idee der gewaltfreien Aktion schmackhaft gemacht werden könnte, dagegen hatte ich nichts einzuwenden. Aber lediglich individuell Bewusstsein schaffen, daran wollte ich nicht mitarbeiten. Ausserdem würden unsere eh schon knappen Kräfte für Allgemeinbildung abgezogen.

Dramatisierung vs. Mediation

Seit Anfang der achtziger Jahre veranstalteten die aus der Friedensbewegung heraus entstandenen friedenspolitischen bzw. -pädagogischen Einrichtungen Trainings für Gruppen aus den sozialen Bewegungen in gewaltfreier Aktion und gewaltfreiem Widerstand. Ein Grundgedanke der Werkstattarbeit war, gewaltfreie Konfliktaustragung kontinuierlich weiterzuentwickeln. Im Zentrum stand die Einübung und Durchführung gewaltfreier Widerstandsaktionen, bei denen wir als soziale Bewegung selbst Konfliktpartei waren. Wir diskutierten vor allem den Zusammenhang zwischen den Methoden gewaltfreier Aktion und den Chancen der Dramatisierung, also der Zuspitzung gesellschaftlicher Konflikte. Unser politisches Handeln gegen militärische Bedrohung (Aufrüstung und Atomraketenstationierung) oder gegen kapitalistische Interessen (Atomkraftwerkebau) waren damals explizit mit emanzipativen Zielen und Forderungen verknüpft.

Aber seit Beginn der 90er Jahre hat sich die Trainingslandschaft für gewaltfreie Aktion gewandelt. In der Folge der Wiedervereinigung entwickelte sich in der BRD seit 1989 ein fremdenfeindliches und rassistisches Klima. Die brutalen Übergriffe auf Asylbewerberlnnen veränderten die Ansprüche an gewaltfreies Handeln grundlegend. Auch der Krieg im ehemaligen Jugoslawien verlangte neue Überlegungen. Neben der Vorbereitung von Freiwilligen für die Arbeit in Flüchtlingslagern wurden Workshops zu Gewaltfreiheit und Mediation direkt aus dem Kriegsgebiet nachgefragt. Gewaltfreies und deeskalierendes Eingreifen in Gewaltsituationen durch Dritte - sowohl auf der politischen Ebene wie auch im öffentlichen Raum - sind in der BRD die bevorzugten Themen geworden. Zunehmend nachgefragt werden Seminare zur Vermittlung in Konflikten (Mediation), Verhaltenstrainings für gewaltfreies Handeln sowie Weiterbildungskurse in konstruktiver Konfliktbearbeitung. Immer mehr gesellschaftliche Institutionen und - vor allem pädagogische - Berufsfelder melden entsprechenden Bedarf an.

Wollten wir in den 80er Jahren mittels gewaltfreier Aktion den Konflikt in organisierter Form eskalieren, um öffentliche Aufmerksamkeit gegen Unrecht und Gegenmacht zur Durchsetzung einer anderen Gesellschaft zu erlangen, so geht es in unseren Seminaren heute um Deeskalation, gewaltfreie Formen der Konfliktbearbeitung, Eingreifen auf möglichst niedrigem Konfliktniveau, gegebenenfalls präventiv. Wir beschäftigen uns mit Problemen, die wir in der Gesellschaft vorfinden, die uns von anderen Akteuren sozusagen aufgedrängt werden: etwa von gewaltbereiten Jugendlichen, Rechtsradikalen, ethnischen Gruppen, Eingewanderten und so weiter. Im Mittelpunkt der Überlegungen stehen nicht mehr Aktionskonzepte, sondern alternative Verhaltensweisen in Gewaltsituationen.

Neue Zielgruppen

Statt aus den sozialen Bewegungen kommt die Nachfrage nach entsprechenden Trainings heute überwiegend aus etablierten Organisationen: aus der städtischen und kirchlichen Jugendarbeit, aus kommunaler, gewerkschaftlicher und kirchlicher Erwachsenenbildung, aus der Flüchtlingsarbeit, von den Volkshochschulen, den Universitäten, den Pädagogischen Hochschulen und den Schulen allgemein. Die Zunahme der Gewaltbereitschaft und die Brutalisierung der Gewaltformen in den verschiedenen Bereichen unserer Gesellschaft bewegen offenbar immer breitere Bevölkerungskreise zur Suche nach Alternativen zum Draufhauen einerseits und zum Wegschauen andererseits.

Der pragmatische Ansatz, dass gewaltfreies Handeln genauso wie Gewalt erlernt werden kann, kann durchaus einen alternativen Umgang mit Konflikten vermitteln. Dieses Konflikt-Verständnis, das ohne das gängige «Sieg-Niederlage-Konzept» auskommt, haben wir aus der Geschichte des gewaltfreien Widerstandes sowie aus der Konfliktforschung entnommen und für die Trainingsarbeit methodisch weiterentwickelt.

Gewaltfreiheit konsumieren?

Doch damit sind die Probleme eines Ausbildungskonzeptes, das Individuen in grosser Zahl zur Gewaltfreiheit führen will, nicht ausgeräumt. «Schneller, leichter, effektiver» - lauten so die Ansprüche an ein solches Konzept, beispielsweise an die Kampagne «Wege aus der Gewalt?»? Dies entspräche zwar dem allgemeinen Bedürfnis unserer Kultur, nicht aber den Erfordernissen gewaltfreier Philosophie und Praxis.

Der Anspruch der Kampagne ist meiner Meinung nach ein doppelter: Zum einen können viele Menschen an zwei Wochenenden die Grundlagen gewaltfreien Handelns erlernen, und zum anderen vergrössert sich der «Pool» von Menschen, die sich zu «Multiplikatorlnnen» ausbilden lassen könnten. Es reicht aber nicht, in einem zu kurz angelegten Zeitraum nur unspezifische Grundlagen der Gewaltfreiheit zu vermitteln. Statt eines Schnellkurses bedarf es einer längeren, prozessorientierten Ausbildung. Im «Schnellverfahren» ausgebildeten Menschen, die ja möglichst bald selbst Trainings begleiten sollen, werden die notwendigen pädagogischen und politischen Erfahrungen fehlen.

Zudem ist zu befürchten, dass ein Verständnis von gewaltfreier Konfliktaustragung als einer menschenfreundlichen, netten und letztlich psychologischen Methode weitervermittelt wird. Diese Tendenz schleicht sich nach meiner Erfahrung immer wieder in Trainings ein, die keine öffentlich-politische Zielsetzung verfolgen und die Menschen zusammenbringen, die in keinem politischen Zusammenhang stehen. Damit wird aber jenes Vorurteil über Gewaltfreiheit als einer zwar für die zwischenmenschlichen Beziehungen, nicht aber für den politischen Raum geeigneten Methode bestärkt, gegen das wir schon heute anzukämpfen haben. Zu viele Spiele in den Seminaren, zu wenig theoretischer Hintergrund und die fehlende Ausrichtung auf politisches Handeln tragen dazu bei. Die theoretische Erarbeitung von politischen Positionen der Gewaltfreiheit kann aber nicht in zwei, drei Wochenenden erreicht werden. Der Wunsch, möglichst schnell möglichst viele Menschen zu erreichen, ist verständlich. Kontraproduktiv wäre es aber, eine Form von Konsumismus zu unterstützen, statt den Erwerb wirklich fundierter Kompetenzen zu fördern.

Individuen oder Gruppe?

Die allgemeine Ausbildung von Individuen, die überwiegend keine Anbindung an eine politische Gruppe haben, birgt die Gefahr einer gewissen Entpolitisierung der Gewaltfreiheit. Die TeilnehmerInnen von solchen Verhaltenstrainings in Zivilcourage nehmen als zentrale Erfahrung oft einen neuen individuellen Umgang mit Konfliktsituationen und Gewalt mit. Gegen Selbsterfahrung ist an sich nichts einzuwenden, zumal wenn gleichzeitig auch Grundkenntnisse in gewaltfreier oder konstruktiver Konfliktaustragung vermittelt werden. Problematisch ist aber eine Psychologisierung der Gewalterfahrung oder gar der Widerstandsformen gegen Phänomene der Gewalt. So berechtigt dies angesichts von personaler und besonders verbaler Gewalt - etwa in der Familie, am Arbeitsplatz und in Beziehungen - auch sein mag, kann dies nicht die Aufgabe einer Trainingsbewegung sein, die sich in der gesellschaftsverändernden Tradition von Gandhi und Martin Luther King sieht.

Offen bleibt die Frage nach den Möglichkeiten, wie auf politischem Weg auf Gewaltsituationen eingewirkt werden kann, ohne beim individuellen Umgang mit Konflikten stehenzubleiben. Der öffentlich-kollektive Aspekt gewaltfreien Handelns kann in Schnellkursen nur schwer vermittelt werden, vor allem wenn primär nicht Gruppen, sondern Individuen aus «breiten Bevölkerungsschichten» angesprochen werden. Der Aspekt des sozialen Lernens, der in den sozialen Bewegungen und in politischen Gruppen zum Tragen kommt, geht auf diese Weise verloren, und gewaltfreies Handeln wird als Form des individuellen Handelns erfahren. Festzuhalten bleibt: Gewaltfreies politisches Handeln als gesellschaftverändernde Kraft ist an handelnde Gruppen gebunden. Die Trainerlnnen sollten sich daher auch als Wegweiser für gesellschaftspolitisches Engagement in sozialen Bewegungen und deren Initiativen verstehen. Ihre Seminare sollten immer auch eine Ermutigung zur Einmischung sein.

Gang in die Institutionen

Kampagnen wie «Wege aus der Gewalt - 1000 Leute lernen gewaltfreies Handeln» kommen einer wachsenden Nachfrage aus breiten Teilen der Bevölkerung und aus gesellschaftlichen Institutionen entgegen. Die Orientierungskurse holen mit ihrem Angebot die Menschen dort ab, wo sie Wege aus der Gewalt suchen und Konflikte bearbeiten wollen, mit denen sie in der Gesellschaft täglich konfrontiert werden. Interessierte können dabei auch ohne grossen politischen Anspruch teilnehmen.

In dieser Situation heisst die Herausforderung, gerade auch das politische Verständnis von gewaltfreier Konfliktbearbeitung gesellschaftlich breit zu verankern. Gelingt uns dies, dann würde Gewaltfreiheit den Freizeitbereich von Demo-Tourismus und direkten Aktionen zivilen Ungehorsams sprengen. Sie wäre dann im Alltagshandeln, im Beruf, in den Institutionen, in der Familie und im zwischenmenschlichen Bereich angekommen. Mit der Arbeit in Schulen, in Gewerkschaften, Kirchen und so weiter hat die Friedensbewegung bereits den Gang in die Institutionen dieser Gesellschaft begonnen. Hier besteht die Chance, die einzelnen Individuen für politische Prozesse zu sensibilisieren. Es kann deutlich werden, dass viele der alltäglichen und scheinbar privaten Gewalterfahrungen gesellschaftliche Wurzeln haben und auch innerhalb der Gesellschaftswelt konstruktiv bearbeitet werden können. Solche Seminare können zu kollektiven politischen Handlungen gegen Formen der strukturellen Gewalt ermutigen. Gewaltfreie Konfliktbearbeitung mag sich auf diesem Weg allmählich zu einer alltagsrelevanten sozialen Kulturtechnik entwickeln.

 

* Renate Wanie ist hauptamtliche Mitarbeiterin in der Werkstatt für Gewaltfreie Aktion, Baden Tel/Fax: 0049/6221/161978. Sie wurde vom Bund für Soziale Verteidigung zur kritischen Auswertung der Kampagne «Wege aus der Gewalt» eingeladen.