In seinem beklemmenden Buch über die Traumatisierung von US-Soldaten in Vietnam* analysiert der Psychologe Jonathan Shay den Krieg als eine soziale Institution, welche die moralische Ordnung der daran Beteiligten zerstört. Kriegstraumata, so argumentiert Jay, beginnen mit der massiven Verletzung «dessen, was richtig ist». Shay zitiert einen seiner Patienten, einen ehemaligen Vietnam-Unteroffizier, dessen Einheit eines Nachts angebliche Vietkong-Kämpfer beim Ausladen von Waffen beschoss: « Dann wurde es Tag und wir sahen, dass wir eine Menge Fischer und Kinder getötet hatten. Was uns am meisten verwirrte war, dass uns sofort gesagt wurde: Macht euch nichts draus, alles ist super! Du weisst in deinem Herzen, es ist falsch, aber dein Vorgesetzter sagt dir, es ist okay. Also ist es doch okay, oder? Das ist eben Teil des Krieges. Und es gab Zeremonien, wissen Sie, ich stand wie ein verdammter Wichser in der Reihe und sie gaben mir eine Scheissmedaille, weil ich Zivilisten getötet hatte.»
Viele Vietnam-Veteranen vermuten, dass solche Aktionen absichtlich organisiert wurden, um Soldaten zu «de-moralisieren» und sie in einen Zustand zu versetzen, in dem sie zu jeder Tat bereit waren. Ob Absicht oder nicht: Genau das wurde damit erreicht.
Krieg ist auf jeder Ebene ein Kampf um Macht. Auf der Ebene des einzelnen Soldaten geht es um die Versklavung von dessen Kopf, Herz und Körper. Darin gleicht der Krieg anderen totalitären Institutionen wie dem Lager oder dem Gefängnis. Aber im Krieg wetteifern zwei Mächte um Herrschaft: Die eigene und die gegnerische Militärmaschinerie. Sie zwingen die Soldaten gemeinsam, den Terror des Kampfes auszuhalten. Flucht, in welcher Richtung auch immer, führt nur in eine andere Form der Gefangenschaft oder in den sicheren Tod. Die Front wird zu einem schmalen Streifen der Todesangst zwischen zwei Gefängnismauern. Ähnlich wie Folteropfer können auch Soldaten psychisch ein ganzes Leben lang in dieser traumatisierenden Situation gefangen bleiben.
Im Krieg geht es um Leben und Tod. Kriege zerstören daher das elementare soziale Vertrauen von Soldaten in ihre Umgebung auf zum Teil «banale» Weise: Die Erteilung inkompetenter Befehle, unzuverlässige Waffen, die Vernachlässigung lebenswichtiger Versorgungs- oder Nothilfeleistungen, mit erhöhter Todesgefahr verbundene Benachteiligung durch Vorgesetzte oder der Beschuss eigener Soldaten (der für jeden Sechsten amerikanischen Toten verantwortlich war) sind im Krieg Alltagsnormalität. Solche und ähnliche «Zufälle» lassen den sozialen Raum schrumpfen, bis die Beziehungswelt sich auf einige wenige Kameraden komprimiert.
Stirbt mit einem solchen Soldaten die letzte emotionale Bezugsperson, erleben die Überlebenden überwältigende Trauer und Schuldgefühle. In Vietnam wurden diese vom US-Militär systematisch entwertet, belächelt, fragmentiert, minimisiert, ignoriert und (medikamentös) sediert. Beim Tod eines speziellen Kameraden forderten die Offiziere ihre Untergebenen mit der Formel «Don't get sad. Get even!» («Werde nicht traurig, zahl's ihnen heim!») dazu auf, Kummer in Rache zu verwandeln. Diese Motivierungs-Techniken trieben die Soldaten zusätzlich in einen Zustand unkontrollierter Wut: Sie wurden zu «Berserkern».
Berserker-Soldaten koppeln sich radikal von der menschlichen Gemeinschaft und ihren moralischen Schranken ab. Sie können Unempfindlichkeit gegenüber körperlichen Schmerzen entwickeln und während längerer Zeit auf Nahrung verzichten. Situationen grösster Gefahr begegnen sie mit völliger Indifferenz. Sie verhalten sich oft so, als wären sie unverletzlich, schreiben sich also gottähnliche, nicht-menschliche Fähigkeiten zu. Und all dies wird im militärischen Denken als «Kaltblütigkeit» oder «Heldenhaftigkeit» missverstanden. Ein Veteran erinnert sich: «Ich wurde ein Tier. Ich begann, ihre verdammten Köpfe aufzupfählen. Es kümmerte mich einen Dreck. Die [Vorgesetzten] wollten einen verdammten Helden, da hab ich ihnen einen gegeben. Sie wollten Leichen sehen, und sie haben Leichen bekommen. Hoffentlich sind sie glücklich damit. Aber sie müssen nicht damit leben. Ich muss.»
Berserkerei wird von den Betroffenen - wenn sie überhaupt überleben - meist mit dem Verlust der Menschlichkeit assoziiert. Die US-Militärpropaganda entwertete die vietnamesischen Gegner systematisch als rückständige Untermenschen. Dies begünstigte das Ausleben hemmungsloser Rachefantasien bei amerikanischen Soldaten. Die Propaganda wirkte aber auch als psychologisches Langzeitgift, denn der Krieg gegen schmutzige, hässliche Unmenschen ist auch im Rückblick eine besonders schmutzige, hässliche und unmenschliche Angelegenheit - Drecksarbeit eben. «Ich war ein verdammtes Tier. Wenn ich zurückblicke, denke ich: Das hat jemand anderes getan. Nicht ich. Das war nicht ich. Wer war das? Wissen Sie, damals hat das nichts bedeutet. Es bedeutete nichts. Krieg verändert dich. Zieht dir alles ab, deine Überzeugungen, deine Religion, deine Würde, du wirst ein Tier.»
Sowohl unterdrückte Trauer als auch massive Schuldgefühle verhinderten später die Rückkehr in die menschliche Gemeinschaft. Ein Vietnam-Veteran beschreibt dies so: «Ich erwartete nicht mehr, lebend nach Hause zu kommen, und emotional habe ich das auch nie getan.» Berserkerei kann zu einem dauerhaften, physiologischen Syndrom werden: «Es dauerte etwa zwei Jahre lang Die Rache verliess mich keine Minute. Sie war da. Sie war stark. Und sie frass mich auf. Sie verschlang meinen Kopf. Sie verschlang meinen Körper Und ich nahm sie mit nach Hause. Ich verlor all meine Freunde, schlug meine Schwester zusammen und meinen Vater. Alle drei Tage drehte ich durch, völlig grundlos», erzählt ein Veteran. Er kann seinen Zustand bis heute nur mit Adrenalin-blockierenden Medikamenten kontrollieren.
Die Folgen von Kriegstraumata sind dramatisch. Sie äussern sich in psychosomatischen Erkrankungen, in einer erhöhten Selbstmordrate, im Verlust zentraler mentaler Funktionen (Vertrauen in die eigene Wahrnehmung, Gedächnisverlust, Unfähigkeit, der eigenen Vergangenheit und Zukunft einen Sinn zu geben), in sozialer Isolation, im Fortbestehen automatisierter Fluchtreaktionen und paranoiden Überlebensverhaltens und schliesslich in der Unfähigkeit zu demokratischer Partizipation. Auseinandersetzung bedeutet für diese Menschen immer noch Auseinandersetzung auf Leben und Tod. «Für ein Land in den Krieg zu ziehen bedeutet, dass man möglicherweise unfähig wird, ein Bürger dieses Landes zu sein» (Shay).
«Normale» Menschen erleben sich in einem «normalen» gesellschaftlichen Kontext als stabile Persönlichkeiten mit festen Werten und Überzeugungen. Unser guter Charakter und unsere moralische Festigkeit, so denken wir, hält uns davon ab, andere Menschen zu töten oder sie grausam zu behandeln. Da Krieg zwar einerseits durchaus als «normale» Institution betrachtet wird, andererseits aber immer Schauplatz unzähliger Grausamkeiten ist, liegt der Schluss nahe: Die Täter, die Soldaten, müssen zum vornherein perverse oder gar unmenschliche Wesen sein.
Die Geschichten überlebender Soldaten erzählen aber etwas anderes: Krieg ist eine abnormale Institution, die aus jedem normalen Menschen ein «Monster» machen kann. Ein Vietnam-Veteran schildert dies so: «Zuerst konnte ich nicht glauben, was ich in Vietnam sah. Ich konnte nicht glauben, dass Amerikaner anderen Menschen solche Dinge antun können aber dann wurde ich genau so. Wir zogen durch Dörfer und töteten alles, wirklich alles, und das erschien mir durchaus okay zu sein.»
Diese Wahrheit zu akzeptieren hiesse, unser kulturell definiertes Selbstbild und unsere moralische Sicherheit in Frage zu stellen. Wohl deshalb reagieren «zivilisierte» Menschen auf solche Geschichten mit radikalem Unverständnis. Einfacher ist es, Grausamkeiten, Kriegsverbrechen und Menschenrechtsverletzungen als Angelegenheit rückständiger Untermenschen abzutun. «Sogar» wenn sie in Europa stattfinden. Durch die Brille der westlichen Populärkultur betrachtet sind solche Leute für die schmutzigen, unordentlichen, altmodischen Kriege in Bosnien oder in Zentralafrika veantwortlich. Die Nato stecke tief «im bosnischen Sumpf» titelte der Tages-Anzeiger unlängst (2.9.97). Vom serbischen «Mob» schreibt Peter Fürst im folgenden Artikel, aber auch davon, dass die USA endlich das «Vietnamtrauma im Hinterkopf» loswerden müsse. Ein Rückzug der Nato würde nämlich «die Menschen in Bosnien wieder den Barbaren ans Messer liefern». Die Botschaft ist klar: Wir hingegen - die guten Charaktere mit gefestigter Moral - bringen die Barbaren mit sauberen, ordentlichen Kriegen zur Räson. Das meinen heute PolitikerInnen und Massenmedien, wenn sie von «Friedensinterventionen» reden.
Die jüngsten Berichte über folternde UN-Soldaten aus «zivilisierten» Ländern zeigen, wie fadenscheinig die neue Ideologie der «zwei Kriegsarten» ist. Gar nicht erst wahrgenommen wird die andere Seite der Lüge: Der Krieg im ehemaligen Jugoslawien ist keineswegs ein «Sumpf». Es ist vielmehr ein moderner Krieg, in dem mit flexiblen Mitteln und unter Einbezug globaler Kräfteverhältnisse um Herrschaft über Territorien, Menschen und ihre Moral gekämpft wird.
Es ist den westlichen Friedensbewegungen bis heute kaum gelungen, diese Zusammenhänge aufzuklären. Im Gegenteil: Insoweit sie die Unterscheidung zwischen schlechtem «Balkankrieg» und guter «Friedensintervention» heute zum Ausgangspunkt ihrer Überlegungen gemacht haben, sind sie selbst verschwunden. Der Ansatz der breiten Anti-Atomkriegsbewegung der 80er Jahre war - notgedrungen - ebenso total wie abstrakt: «Wir Opfer (alle Menschen) gegen die Schreibtischtäter und ihre Raketensilos». Es ist auch heute nicht falsch, sich mit den zivilen Opfern von Kriegen zu solidarisieren und die Verantwortung von PolitikerInnen und Militärs zu thematisieren; aber ein einfaches, dualistisches Denken blendet den Kern moderner Kriege aus.
Als Aussenstehende müssen wir paradoxerweise versuchen, die Realität von Todesgefahr und Tod emotional nachzuvollziehen, um rational verstehen zu können, wieso Krieg die moralische Ordnung und den Charakter der meisten Menschen zwangsläufig zerstört. Möglicherweise gibt es kein überzeugenderes Argument für die Ächtung dieser schrecklichen Institution.
* Jonathan Shay, Achilles in Vietnam, Combat Trauma and the Undoing of Character, Touchstone Books. 1995.
(ha) Psychische Schockreaktionen («Combat Shock») und Langzeit-Traumatisierungen («Post Traumatic Stress Disorder») von Soldaten sind ebenso alt wie die Institution «Krieg» selbst. Und sie sind ein Massenphänomen. In seinem Buch «The Painful Field» (Greenwood Press, 1988) gibt der US-Militärpsychiater Richard A. Gabriel eine Übersicht über die in diesem Jahrhundert zu diesem Phänomen gesammelten Daten.
Im Ersten Weltkrieg wurde den verantwortlichen der US-Armee erstmals bewusst, dass psychische Schockreaktionen ein ernstes Problem für die «Kampfkraft» der Truppe im Feld darstellten. Von den ungefähr 250'000 US-Soldaten, die direkt in Kämpfe verwickelt wurden, mussten 27,7 Prozent wegen einem psychischen Kollaps aus dem Kriegsgebiet entfernt werden. Weitere 14,6 Prozent nahmen während Tagen, Wochen oder Monaten eine psychiatrische Betreuung in Anspruch.
Im Zweiten Weltkrieg versuchte man daher, das Problem schon bei der Rekrutierung der Soldaten in den Griff zu bekommen. 970'000 Männer wurden bei der Aushebung wegen neuro-psychiatrischen Störungen und emotionalen Problemen zurückgewiesen. Dieses Vorgehen erwies sich als Fehlschlag. Allein die amerikanischen Landstreitkräfte verloren 504'000 Soldaten permanent wegen psychischen Störungen. Weitere 596'000 wurden während Wochen oder Monaten kampfunfähig, und nochmals 464'000 Soldaten ersuchten erfolglos um medizinisch-psychiatrische Unterstützung. Angesichts von «nur» 800'000 direkt mit Kampfhandlungen konfontierten Soldaten sind das eindrückliche Zahlen. Weitere Studien ergänzen das Bild: Im Durchschnitt schossen nur 15 Prozent der Soldaten, wenn ihre Einheit attackiert wurden; selbst in Eliteeinheiten erreichte dieser Wert kaum einen Viertel. Gabriel stellt fest: «Drei Viertel der kämpfenden Soldaten im Zweiten Weltkrieg waren zu verängstigt, als dass sie ihre Waffen bei einem Angriff oder sogar zur Selbstverteidigung gebraucht hätten. Es ist unwahrscheinlich, dass all diese Männer Feiglinge oder 'schwach' gewesen sind.»
Ähnlich sieht auch die Bilanz vieler Kriege in der zweiten Hälfte unseres Jahrhunderts aus. Im Yom-Kippur-Krieg zwischen Israel und mehreren arabischen Staaten 1973 machten in der Israelischen Armee die psychischen Zusammenbrüche beinahe einen Drittel aller Verluste (inkl. Verletzte und Tote) aus. Bei der Libanon-Invasion von 1982 brachen anderthalbmal mehr Israelis psychisch zusammen, als in den Kämpfen starben.
Der Vietnam Krieg - um ein letztes Beispiel zu nennen - wurde in den ersten Jahren mit vergleichsweise «niederer» Intensität geführt. Erfolgten damals lediglich sechs Prozent der medizinisch bedingten Rückführungen von Soldaten in die USA aus psychiatrischen Gründen, wuchs dieser Anteil bis 1971 auf beinahe die Hälfte. Die Langzeit-Folgen dieses Krieges sind besonders verheerend. Eine vom US-Kongress überwachte Studie bewies Ende der 80er Jahre, dass unkontrollierte Gewalt für einen Grossteil der Vietnam-Veteranen zur Lebensweise geworden ist. Mehr als 40 Prozent von ihnen, also 300'000, verübten im Verlauf eines Jahres drei oder mehr Gewalttaten. 36 Prozent wiesen alle Symptome schwerer psychischer Störungen auf, welche die Diagnose «Post Traumatic Stress Disorder» (PTSD) beinhaltet, über 70 Prozent zumindest eines dieser Symptome. Vietnam-Veteranen machen zudem mindestens einen Drittel aller obdachlosen Männer aus (ca. 200'000). Noch heute gibt es in den USA annährend 200 Institutionen, die mit einem Jahresbudget von über 40 Millionen Dollars Vietnam-Veteranen psychologisch betreuen.
Psychischer Zusammenbruch und Langzeit-Traumatisierung, so folgert Richard Gabriel, ist offensichtlich die normale Folge von Krieg: «Ungefähr 2 Prozent der Soldaten, die über längere Zeit Kämpfen ausgesetzt sind, brechen nicht unter dem Stress zusammen. Wenn man diese «Helden» näher untersucht, zeigt sich, dass ihre einzige Gemeinsamkeit darin besteht, dass sie schon vor der Kriegserfahrung agressiv-psychopathische Persönlichkeiten waren. Offenbar brechen die psychisch Gesunden zusammen, während nur gewisse psychisch Kranke sich dem Schrecken anpassen können.»