Wie man eine Invasion anständig beendet

Die meisten Schweizer Zeitungen fanden es nicht einmal einer Meldung wert, dass am 2. März 170 Rekruten der Schweizer Armee die Grenze nach Liechtenstein überschritten. Nicht, dass Invasionen bei uns an der Tagesordnung wären, aber es war schnell klar, dass es sich um ein Versehen gehandelt hatte.

Von Peter Stamm, Schriftsteller, Winterthur *

Es geschah mitten in der Nacht bei schlechtem Wetter. Nachts aber ist die Schweiz schwer von umliegenden Gebieten zu unterscheiden. «Es war alles so dunkel dort», sagte einer der fehlgeleiteten Rekruten.

Der Zwischenfall hat auch in der Politik keine hohen Wellen geworfen. Die Behörden und die Armee wiegelten ab. Eine Woche nach dem Zwischenfall schrieb Dr. Paul Seger, der Botschafter der Schweiz im Fürstentum Liechtenstein (mit Sitz in der Schweiz) in einem langen Artikel in der Neuen Zürcher Zeitung, die Beziehungen der beiden Länder seien «intensiv» und «sehr freundschaftlich». Zwar konkurrenzieren sie sich bei der Verwaltung nicht ganz lupenreiner Vermögen, zwar sind in der Schweiz Adelstitel verboten, während Liechtenstein von einem autokratischen Erbmonarchen regiert wird, zwar gilt in der Schweiz schon als betrunken, wer in Liechtenstein noch ein Auto lenken darf, aber es gibt doch mehr Gemeinsamkeiten als Unterschiede. Wir sprechen denselben Dialekt, bezahlen mit demselben Franken, und die Menschen wechseln von einer Seite zur anderen, als gebe es keine Grenze. Viele Schweizer sehen Liechtenstein als eine Art siebenundzwanzigsten Kanton an, auch wenn das «Ländle» sich in den letzten Jahrzehnten zunehmend von der Schweiz emanzipiert hat, zwölf Jahre vor uns Mitglied der UNO wurde und – im Gegensatz zu uns – Mitglied des Europäischen Wirtschaftsraums ist. Es gibt keinen Grund für eine Invasion, zumal Liechtenstein weder ein Atomprogramm hat, noch im Besitz von Massenvernichtungswaffen ist. Seit bald hundertfünfzig Jahren hat es noch nicht einmal mehr eine Armee.

Dass die Infanterierekruten vom Weg abgekommen sind, kann allerdings niemanden erstaunen, der die Schweizer Armee kennt. Noch weniger erstaunt, dass die Invasoren zwar Gewehre bei sich hatten aber keine Munition. Die Sturmgewehre (jeder Wehrmann bewahrt seine Waffe zu Hause auf) kommen eigentlich nur bei Selbstmorden zum Einsatz und gelegentlich bei Gewaltverbrechen. Im Dienst dienen sie vor allem als Ballast auf langen Märschen, einer der Lieblingsbeschäftigungen der Schweizer Armee. Die Schweiz ist seit bald fünfhundert Jahren neutral und heute kann sich niemand mehr wirklich vorstellen, wer das Land angreifen könnte, gegen welchen Feind sich die Armee zu rüsten hat. So hat sie in den letzten Jahrzehnten eher folkloristischen Charakter bekommen. Bis 1994 waren noch Brieftauben im Einsatz, die Fahrradtruppen wurden vor vier Jahren abgeschafft. Und erst in den Neunziger Jahren merkte die Armeeführung, dass zwei Drittel der über 20’000 Festungsbauten eigentlich überflüssig waren und geschlossen werden konnten.

Auslöser für diese Reformen war eine Abstimmung, in der 1989 mehr als ein Drittel der Stimmenden fand, die Schweiz brauche keine Armee mehr. Ausgerechnet in jenem Jahr kam uns mit dem kommunistischen Osten – in Manövern gerne Rotland genannt – auch der einzige einigermassen glaubwürdige Feind abhanden. Seither ist die Schweizer Armee in der Krise und versucht, ihre Daseinsberechtigung mit Katastrophenhilfe und Hilfsdiensten bei Sportveranstaltungen zu beweisen. Im Prinzip wäre es möglich, die Armee zu verkleinern, aber da die allgemeine Wehrpflicht so unantastbar ist wie in Liechtenstein der Fürst, kann eine Reduktion des Truppenbestandes nur durch eine Verkürzung der Dienstzeit erfolgen oder dadurch, dass man möglichst viele Dienstpflichtige als untauglich erklärt. So konnte die Truppenstärke in den letzten zwölf Jahren von 600’000 auf immer noch beachtliche 240’000 verringert werden. Die Armeeausgaben sanken in den letzten fünfzig Jahren von 35% auf 9% des Bundeshaushalts.

Da die Schweizer Politiker immer weniger Geld für die Armee auszugeben gewillt sind, müssen billige Mittel gefunden werden, die Soldaten zu beschäftigen. Spitzensportler können neuerdings ihren Militärdienst als Trainingslager absolvieren. Das Fussvolk hingegen – Schuhsohlen sind billiger als Munition – muss marschieren. Die Schweiz hat vielleicht nicht die schlagkräftigste Armee der Welt, aber bestimmt die marschtüchtigste. Sollte der Welt jemals das Öl ausgehen, wird unsere Armee die letzte sein, die sich noch bewegt.

Die Invasion war eine Dummheit, zugegeben, aber die Schweizer Armee hat immerhin bewiesen, dass sie weiss, wie man eine missglückte Militäraktion zu einem guten Ende bringt. Man kehrt möglichst schnell um und schleicht sich ganz leise, und bevor irgendjemand etwas gemerkt hat, zurück nach Hause. Und am nächsten Tag ruft man beim Gemeindepräsidenten des fremden Territoriums an und entschuldigt sich in aller Form.

* Dieser Artikel erscheint mit der freundlichen Genehmigung von Peter Stamm und der New York Times, in der er am 10.März 2007 erstmals veröffentlicht wurde.

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