«Nichts als Leere» Auszüge aus den Gesprächen der bosnischen Journalistin Jasna Bastic mit Anton Golik, einem ehemaligen Major der kroatischen Armee.

Der Krieg im Kopf

Krieg macht krank, weil Menschen nicht zum Morden geschaffen sind. Eine bosnische Journalistin will von einem Major der kroatischen Armee wissen, was es heisst, Menschen zu töten. Das Interview mit Jasna Bastic führte Hans Hartmann.

Wenn wir vom «Horror des Krieges» reden, denken wir zumeist an die unschuldigen Opfer unter der Zivilbevölkerung. Du hast einen anderen Zugang gewählt und rekonstruierst die Geschichte eines Majors der kroatischen Armee. Warum?

Über die Traumatisierung von Soldaten im Krieg weiss man wenig. Ich selbst war keineswegs eine «Trauma-Expertin», als ich im Februar 1996 zusammen mit einem Team des Schweizer Fernsehens die Abteilung für traumatisierte Soldaten eines Zagreber Spitals besuchte. Was ich dort zu sehen bekam, hat mich geschockt. Nie zuvor hatte ich gesehen, dass psychisches Leiden so absolut zerstörerisch sein kann. Diese Leute waren nicht nur krank, sondern lebensunfähig. Sie waren zerstört - weil sie im Krieg gewesen waren wie hunderttausende von ehemaligen Bürgern Jugoslawiens. Und dennoch wurde und wird in der Öffentlichkeit nicht darüber geredet. Angesichts der grossen Zahl von Traumatisierten und der tiefen emotionalen Konsequenzen der Traumatisierung erschien mir die völlige Tabuisierung des Themas unbegreiflich.

Wieviele ehemalige Soldaten leiden heute in Ex-Jugoslawien an solchen Formen von Kriegstraumatisierung?

Einzig in Kroatien gibt es offizielle Angaben. Der Anteil der psychisch geschädigten Ex-Soldaten wird mit 31 bis 37 Prozent beziffert. Inoffizielle Zahlen aus Militärkreisen bewegen sich zwischen 45 und 50 Prozent. Die wenigsten von ihnen erhalten medizinsche oder psychologische Betreuung.

Regierungen und hohe Militärs haben offensichtlich ein Interesse daran, das wahre Ausmass dieser Katastrophe zu verheimlichen. In Sarajevo ist es den Spitälern heute untersagt, Daten über Selbstmorde zu veröffentlichen, weil sich darunter ein überproportional grosser Anteil ehemaliger Soldaten befindet. Das Belgrader Militärspital und seine Abteilung für traumatisierte Soldaten unterliegen einer Informationssperre. In Serbien ist das Thema völlig tabu. Die Leute sollen möglichst wenig davon erfahren. Vielleicht würden sie es sich beim nächsten Mal sonst besser überlegen, bevor sie in den Krieg ziehen.

Wie erklärst Du Dir, dass dieses Massenphänomen von der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen wird?

Ich sehe drei Gründe: Erstens flaut das Interesse der Medien und der Weltöffentlichkeit an einem Konflikt ab, wenn ein Krieg durch einen Waffenstillstand oder ein Friedensabkommen abgeschlossen beziehungsweise unterbrochen wird. Man übersieht leicht, dass sich der Krieg in den Köpfen der direkt Beteiligten nicht so einfach beenden lässt.

Zweitens wollen sich die Menschen vor Ort nicht mehr mit dem Krieg beschäftigen. Sie wollen lieber an den Wiederaufbau, an einen Wirtschaftsaufschwung oder an eine bessere Zukunft denken. Niemand will Horrorgeschichten von sinnlosem Töten und sinnlosem Leiden hören.

Und drittens machen sich ZivilistInnen normalerweise nicht viel Gedanken darüber, was ein Krieg für die Psyche von Soldaten bedeutet. Manchmal denken sie sogar: Die haben nur bekommen, was sie verdienen, die haben gewusst, was sie erwartet, sie sind in den Krieg gezogen - und jetzt sollen sie die Konsequenzen tragen.

Aber das Problem der Kriegstraumatisierung lässt sich nicht auf die Individuen abschieben. Soldaten waren Zivilisten, bevor sie Soldaten wurden, und sie werden nach dem Krieg meistens wieder zu Zivilisten. Sie haben Eltern, vielleicht eine Ehefrau und Kinder, sie sollten einer zivilen Arbeit nachgehen und sie bewegen sich in einem Netz von FreundInnen und Bekannten. Wenn sie aus dem Krieg psychische Probleme mitbringen, die es ihnen unmöglich machen, im gewohnten zivilen Umfeld zu funktionieren, so wird ihr Trauma zum Problem für ihr ganzes Umfeld. Sie bedrohen die psychische Stabilität ihrer Bezugspersonen, indem sie sich nun in der einen oder anderen Form «kriegsgerecht» verhalten oder indem sie sich umbringen. Manchmal - wenn sie zu unkontrollierten Gewaltausbrüchen neigen - gefährden diese Leute sogar die physische Sicherheit ihrer Mitmenschen.

Dass sich heute kaum mehr jemand mit dem Krieg beschäftigen will, ist nachvollziehbar. Aber noch vor kurzem haben zum Teil dieselben Leute die ganze Kriegsmaschinerie als sinnvoll angesehen und unterstützt. Wie geht das zusammen?

Der Mechanismus, der Männer massenhaft zu kampfbereiten Soldaten werden lässt, ist schwer zu verstehen. Wie ist es möglich, dass Hunderttausende von Zivilisten eine Uniform anziehen, eine Waffe in die Hand nehmen und töten? Erst wenn wir dies besser verstehen, könne wir in Zukunft ähnliches verhindern.

Anton Golik, der Mann, den ich im Rahmen meines Buchprojekts befrage, ist ein moderner, aufgeklärter städtischer Intellektueller. Er war für eine Zeitung als Kriegsberichterstatter unterwegs und meldete sich einfach zum Dienst bei der Truppe. Nicht einmal seiner Familie hatte er zuvor diesen Schritt angekündet.

Warum ging dieser Mann freiwillig in den Krieg? War Anton Golik vor dem Krieg etwa ein überzeugter Nationalist?

Nein. Sein Handeln ist eher im Kontext einer Art gesellschaftlicher Explosion zu verstehen. Nach 50 Jahren politischer Passivität unter dem kommunistischen Regime brach innert kürzester Zeit die gesellschaftliche Normalität zusammen. Jeder Tag brachte politische und wirtschafliche Veränderungen, neue Krisen und «grosse Ereignisse». Diese Dynamik zog die Menschen in ihren Bann und plötzlich fanden sie sich in einer Situation, in der sie keine Alternativen zum Krieg sahen.

Die wichtigsten Faktoren, welche vor diesem Hintergrund die Kriegsbereitschaft förderten, waren Kriegspropaganda und patriarchale Denkmuster. Kriegspropaganda arbeitet immer auf einen Zustand kollektiver Angst hin. Alle, auch die aggressivsten Politiker, sagen, es gehe um Selbstverteidigung. Das Leben deiner Familie, das Überleben deines Volkes - alles, was dir lieb und teuer ist - steht auf dem Spiel, wir befinden uns in einem historischen Moment und du bist ein Mann, du musst eine Entscheidung treffen, du musst auf der richtigen Seite stehen, du musst handeln.

Diese Art von Propaganda hat den Krieg im ehemaligen Jugoslawien während Jahren vorbereitet. Das serbische Fernsehen verbreitete schon vor dem Ausbruch der Kampfhandlungen und während der Anfangsphase des Krieges tagtäglich Bilder der Angst, der Bedrohung und des Todes. Serbische Psychiater beschreiben das Ergebnis dieser Propaganda als kollektive Hysterie. Eine ganze Nation wurde propagandistisch traumatisiert.

Das entspricht auch Goliks eigener Einschätzung. Golik sagte mir, dass er die ständige Flut negativer Information, die Berichte über serbische Angriffe, über die Angst der kroatischen Zivilbevölkerung einfach nicht mehr aushielt. Er fühlte einen unwiderstehlichen Drang zu reagieren, «etwas» dagegen zu tun. Heute kann er nicht mehr verstehen, wie er damals so naiv sein und sich selbst dieser Katastrophe aussetzen konnte. Wenn ein städtischer Intellektueller das von sich sagt, wie stark muss dann Propaganda bei der weniger gebildeten, ländlichen Bevölkerung wirken!

Und warum desertierten Menschen wie Golik nicht, wenn sie die grausame Realität des Krieges erfahren?

Dafür gibt es verschiedene Gründe: Während die Verbindung der Soldaten zum «normalen» zivilen Leben langsam abbricht, wird die militärische Einheit für sie zum Familienersatz. Sie fühlen sich dort akzeptiert, übernehmen Verantwortung und verstehen die einfachen Regeln des Zusammenlebens. Zu Hause haben sie das Gefühl, sie würden ihre Kameraden verraten. Zudem können die ständigen Adrenalinschübe, das High-Gefühl von Action und das Gefühl, Macht über andere zu haben, zu so etwas wie einer Sucht führen. Und drittens wird den Soldaten ständig eingetrichtert, dass sie an etwas «Historischem» teilhaben.

Soldaten, die den Kampf und damit unkontrollierte Todesangst erfahren, die töten oder den Tod ihrer engsten Kameraden erleben, machen eine tiefgreifende Veränderung ihrer Persönlichkeit durch. Dabei spielt es keine Rolle, ob sie sich freiwillig in den Krieg begeben haben oder ob sie gezwungen wurden. Ihre Psyche beginnt nach einer anderen Logik zu funktionieren. Das, was zuvor im Zivilleben für sie selbstverständlich gültig war, verliert jeden Sinn. Sie begeben sich in jeder Hinsicht in eine andere Welt.

Was genau zerstört die Psyche der Soldaten?

Die meisten Menschen haben schon erfahren, wie es sich anfühlt, beinahe von einem Auto überfahren zu werden oder Opfer eines gewalttätigen Angriffs zu werden. Moderner Krieg bedeutet: tagtäglich, rund um die Uhr solch extremen Gefahr- und Angstsituationen ausgeliefert zu sein. Wir sind weder psychisch noch physiologisch fähig, ständige Todesangst über Tage, Wochen oder gar Monate auszuhalten.

Extreme Angst ist auch eine körperliche Reaktion auf Gefahr. Sie versetzt Menschen in einen Zustand gesteigerter Wachheit, der die Flucht ermöglichen soll: Stresshormone wie Adrenalin werden ausgeschüttet, periphere Blutbahnen verengen sich, die Atmung und der Pulsschlag beschleunigen sich. Ist keine Flucht möglich und bleibt diese Angst-Anspannung dennoch über lange Zeit bestehen, bricht das ganze System zusammen. Viele Soldaten erleiden daher auf dem Schlachtfeld einen Schock und werden kampfunfähig. Dieser Effekt ist seit langem unter dem Namen «Combat Trauma» bekannt. Dass viele Betroffene unter den Folgen dieser Traumatisierung bis zum Lebensende leiden, wurde aber erst spät anerkannt. 1980 kreierte man dafür den Begriff «Post Traumatic Stress Disorder». In jüngster Zeit wurde die Forschung über Hirnschäden und andere physiologische und sogar anatomische Veränderungen als Folge solcher Traumatisierungen intensiviert.

Offensichtlich brechen nicht alle Soldaten gleich schnell unter dem Druck dieses Stresses zusammen. Gibt es also auch «Trauma-resistente» Menschen?

Nur ein kleiner Prozentsatz pathologischer Personen durchlebt das Grauen eines Krieges ohne sich psychisch zu verändern. Aber die Reaktion hängt natürlich auch von der Schwere und der Dauer der traumatisierenden Erfahrungen ab. Bei weitem nicht alle Soldaten kommen in Kriegen an der Front zum Einsatz. In einer Logistik-Einheit im Hinterland ist der Stress sicher kleiner. Anton Golik war schon sehr bald traumatischen Ereignissen ausgesetzt, die ihn dann schon im Dienst ständig verfolgten. Aber erst als er nach einigen Monaten auf Heimaturlaub ging, merkte er, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Er fühlte sich depressiv und völlig desorientiert, er hatte schwere Schlafstörungen und er konnte nicht einmal mehr mit seinen eigenen Kindern spielen oder kommunizieren.

Golik wurde sich seines psychischen Zusammenbruchs nur langsam bewusst. Einer der interessantesten - und bis heute noch kaum untersuchten - Aspekte dabei ist die Rolle, welche eigene Schuldgefühle spielen.

Was heisst «Schuld» im Krieg?

Vorneweg dies: Franjo Tudjman sandte eine Gratulationskarte zur Präsidentenwahl von Milosevic. Zuvor schickten sie unzählige, ihnen unbekannte Menschen gegeneinander in den Tod, und heute üben sie sich in Shake-Hands.

Aber Krieg ist jenseits solch obszöner Amoralität tief mit Schuld verstrickt. Obwohl viele Menschen, darunter auch ich, den Griff zur Waffe generell für einen kriminellen Akt halten, gilt Krieg in unserer Welt immer noch als eine im Prinzip legale und ideologisch rechtfertigbare Institution. Unschuldige junge Menschen dürfen rechtens in Situationen gebracht werden, in denen sie andere Menschen töten müssen. Man sollte sich nicht von Lagerfeuer-Romantik und WK-Kumpanei täuschen lassen: Jede Armee richtet Menschen letztlich dazu ab, andere zu töten. Und jeder Soldat muss damit rechnen, dass er das, was ihm beigebracht wurde, verwirklichen muss.

Insofern Krieg als legaler Akt verstanden wird, gilt Mord im Krieg auch als normal. Warum spielen Schuldgefühle dennoch eine wichtige Rolle bei ihrem psychischen Zusammenbruch?

Ich möchte zwei Ebenen unterscheiden: Wenn Todesangst zum Alltag wird, verändert sich auch die soziale Welt eines Menschen. Die Beziehung zwischen Soldaten untereinander kann intensiver werden als alle anderen, «zivilen» Beziehungen, denn immerhin hängt davon das nackte Überleben ab. Und dann siehst du diese Menschen, denen du näher standest als irgendwem, leiden und sterben. Du wirst dir vielleicht wünschen, an ihrer Stelle gestorben zu sein, und du wirst dich schuldig fühlen.

Ein zweiter Aspekt sind die Schuldgefühle gegenüber «dem Feind». Über den Feind spricht man nicht wie über andere Menschen. Die Sprache des Krieges will den Gegner systematisch entmenschlichen. Es heisst: Im Dorf soundso hat es drei feindliche Mörser, ein Maschinengewehr und zwanzig MPs. Dann beginnt das Gefecht, und nichts anderes zählt mehr. Zeit zum Denken gibt es nicht. Alles geht so schnell, alle versuchen - sofern sie nicht vor Angst gelähmt sind - schneller zu sein, um nicht selbst getötet zu werden. Aber die Sache ist nicht so einfach. Nach dem Schusswechsel liegt «der Feind» am Boden. Du musst da hin gehen, den Tascheninhalt überprüfen - vielleicht auf der Suche nach kriegswichtigen Informationen - und du findest tote oder sterbende Menschen mit einem jungen Gesicht, Fotos von Angehörigen, Andenken, vielleicht sogar einen Liebesbrief. Und du siehst: Das ist ein Mensch wie du. Vielleicht wollte er gar nicht in den Krieg. Vielleicht wurde er gezwungen. Du weisst es nicht. Und du wirst es nie wissen.

Besonders traumatisierend scheint die berüchtigte Praxis der «Säuberungen» gewesen zu sein. Nach der Eroberung wurden jeweils ganze Dörfer Haus für Haus von gegnerischen Soldaten «gesäubert». Die Anspannung und die Ungewissheit bei diesen Aktionen führten regelmässig dazu, dass dabei auch unbewaffnete Zivilisten erschossen wurden. Das ist eine Sache von Sekundenbruchteilen. Dafür kommt niemand vors Kriegsverbrechertribunal. Aber oft werden die Täter ein solches Erlebnis nie mehr los: Sie sehen die Gesichter, sie riechen das Blut, sie hören die Schreie. Anton Golik schluckt täglich 18 psychoaktive Tabletten - die Ereignisse wird er nicht los.

Könnte man sagen, dass es im Krieg zwei Sorten von Schuldgefühlen gibt: erlaubte und unerlaubte?

Ja. Obwohl Golik als Major militärisch verantwortlich für den Tod «seiner» Soldaten war, ist das nicht sein schrecklichstes Problem. Er kann es sich erlauben, darüber zu trauern. Ich glaube, der tiefste und am stärksten verdrängte Grund für das Trauma und den Zusammenbruch von Anton Golik ist die Tatsache, dass er andere Menschen getötet hat.

Offenbar sind sogar die schlimmsten Kriegsverbrecher nicht vor diesen Schuldgefühlen gefeit. Ein auf solche Fälle spezialisierter serbischer Psychiater berichtet mir von seinem Erstaunen über die grosse Zahl von Kriegsverbrechern, die freiwillig seine Behandlung in Anspruch nehmen. Bei einem Drittel von ihnen stehen dabei starke Schuldgefühle im Zentrum.

Solche Schuldgefühle sind die Ursache von Kriegstraumatisierungen und damit Teil des Horrors. Andererseits sind sie auch Anlass zur Hoffnung, denn offenbar sind wir Menschen nicht für den Krieg geschaffen. Wenn wir andere Menschen töten, gefährden wir unser eigenes psychisches Überleben. Wir sind soziale Wesen, wir hängen von anderen ab und davon, dass andere auf uns angewiesen sind. Der Krieg verstösst gegen diese Grundbedingung. Meiner Ansicht nach geht es um mehr als um bestimmte moralische oder kulturelle Werte.

Es gibt aber Leute, die im Gegenteil behaupten, der Krieg selbst sei eine anthropologische Grundkonstante.

Wenn man anschaut, was der Krieg bei den betroffenen Menschen anrichtet - gleichgültig in welcher Kultur - dann muss man sagen: Das ist eine der dümmsten Behauptungen, die man sich vorstellen kann.

In den letzten Jahren hat die Idee an Boden gewonnen, es könne so etwas wie «virtuelle» Kriege geben. Der zweite Golfkrieg beispielsweise wurde in den westlichen Medien als eine Art Video-Game verkauft.

In Bosnien habe ich verschiedentlich mit US-Soldaten gesprochen, die auch am Golf im Einsatz waren. Auch sie waren von diesem Krieg gezeichnet. Einer sagte mir: «Seit ich dort gewesen bin, bin ich nicht mehr die gleiche Person. Ich lache nicht mehr, ich bin nicht mehr gerne mit anderen Leuten zusammen, ich spreche nicht mehr viel. Ich denke die ganze Zeit daran, was dort passiert ist.» Sobald das Militär Bodentruppen einsetzt, kommen diese notwendigerweise mit Tod und Leid in Kontakt. Ich glaube nicht daran, dass «saubere Kriege» möglich sind. Das ist auch eine Erfindung der Kriegspropaganda.

Soldaten müssen wissen, dass der Krieg ihre Persönlichkeit radikal zerstören wird, und zwar so, dass sie sich nicht mehr wiedererkennen werden. Das gilt nicht etwa nur für «schwache» Charaktere: Es ist der Normalfall. Und kein noch so ausgeklügeltes Training kann dem vorbeugen.

Das Schreckliche ist, dass Krieg und damit Mord bis heute als legale Institution angesehen wird. Krieg und Militärdienst sind aber keine «normalen» menschlichen Situationen. Normal ist der Zusammenbruch unter diesen Umständen. Wenn wir begreifen, warum dies geschieht, begreifen wir das wahre Gesicht des Krieges. Und diese Realität des Krieges ist gleichzeitig das stärkste Argument gegen den Krieg.

 

«Nichts als Leere»

Noch kaum abzuschätzen sind die Langzeit-Folgen der Kriegstraumatisierungen von Soldaten im ehemaligen Jugoslawien. Einen wichtigen Schritt zur Aufklärung dieser Katastrophe unternimmt die bosnische Journalistin Jasna Bastic. Die nachfolgenden Auszüge aus ihren Gesprächen mit Anton Golik, einem ehemaligen Major der kroatischen Armee, untermauern das nebenstehende Interview.

«Keiner von uns stellte sich vor, dass der Krieg so lange dauern würde und dass er so fürchterlich sein könnte. Wir dachten alle, es würde ein paar Wochen dauern, bis Kroatien international anerkannt werden würde. Dann könnten wir nach Hause gehen. Viele gingen in den Krieg wie in einen Wochenend-Ausflug oder zu einem Fussballmatch. Die jungen Leute hatten den Kopf voll von Bildern aus Kriegsfilmen. Was ich dann wirklich sah, hatte damit allerdings nichts zu tun.»

«In meiner Einheit haben viele Soldaten unter Stress oder im Schockzustand versucht, sich umzubringen. Sie schossen auf sich selbst - nicht etwa um von der Armee wegzukommen, sondern weil sie den extremen Stress nicht mehr aushielten, unter dem sie standen.»

«Als unser erster Kamerad verwundet wurde, transportierten wir ihn nach Zagreb ins Spital. Er musste zwei Stunden auf den Arzt warten und starb! An seiner Beerdigung sagte niemand ein Wort. Wir konnten es nicht glauben. Niemand sagte etwas. Ich spürte, dass Beerdigungen in Zukunft ein alltägliches Ereignis sein würden - eine Formalität.»

«Die Atmosphäre in der belagerten Stadt kann nur mit einem Wort beschrieben werden: mit 'Angst'. Es war eine endlose Kette von Enttäuschungen, Verlusten und Angst. Wir wussten von Anfang an, dass wir die Stadt nicht würden halten können. Ich hatte das Gefühl, wir würden dass Leben der Leute völlig sinnlos opfern.»

Während einer «Säuberungsaktion» in einem eroberten Dorf stiess Golik in einem Haus auf einen bewaffneten Zivilisten von etwa 60 Jahren. Golik erschoss den Mann sofort: «Ich habe diese Szene die ganze Zeit vor Augen. Was wollte dieser Mann? Wollte er schiessen, oder wollte er sich ergeben? Hätte ich warten sollen? Ich sehe sein Gesicht so klar, jede Einzelheit! Das blockiert mich völlig. Ich schlucke noch mehr Pillen. Das beruhigt mich, ich atme leichter … aber ich denke auch klarer. Ich denke nicht darüber nach, dass ich schoss. Das ist eine Tatsache. Ich denke darüber nach, was passiert wäre, wenn ich nicht geschossen hätte.»

«Ich dachte ständig an Situationen, die ich erlebt hatte und daran, was ich hätte anders tun können. Ich fragte mich unaufhörlich, ob ich etwas anderes hätte tun können. Gäbe es dann weniger Tote. Und warum starben sie? Hätte es anders ablaufen sollen? Ich ging mit diesen Fragen zu Bett und wachte mit ihnen am Morgen auf.»

Ein an Kriegsverbrechen beteiligter Soldat aus Goliks Einheit erklärte (ebenfalls in der Abteilung für PTSD-Erkrankte des Zagreber Spitals): «Manchmal sah ich die Gesichter der Personen, die ich exekutierte, nicht, manchmal schon. Jetzt habe ich diese Gesichter die ganze Zeit in meinem Kopf. Die Gesichter, die ich nicht sah, versuche ich mir vorzustellen. Ich wusste, dass alle irgendwo eine Familie haben. Ich habe ihre Frauen und Kinder nie gesehen. Jetzt stelle ich mir dauernd vor, wie sie wohl aussehen.»

«Ich war mit meiner Familie bei meinen Eltern zu Besuch. Meine Mutter sagt mir, ich sollte mich endlich wieder aufraffen, wieder arbeiten, meine Familie liebe mich und der Krieg sei vorüber. Ich sagte, für mich sei der Krieg nicht vorüber. Die Toten seien immer noch lebendig in mir. Sie sagte, sie wolle das nicht hören, sie ertrage es nicht, dass ihr Sohn jemanden töten könne. Da brach die Wut aus mir hervor. Ich wurde brutal, schrie sie an, sie solle wissen, dass ich getötet hätte und Häuser abgebrannt, alles, was Soldaten in jedem Krieg tun. Meine Mutter begann zu weinen. Das irritierte mich noch mehr, und ich flüchtete aus dem Haus.»

«Ich sprach beinahe nichts mit meiner Frau. Sie fragte mich, wann ich denn wieder funktionieren würde, ob ich zwei Wochen oder zwei Monate bräuchte. Einmal begleitete sie mich zum Arzt. Als ich ihm sagte, ich würde für niemanden etwas empfinden, war sie ziemlich schockiert.»

«Schliesslich wurde mir klar, dass wir viel mehr Menschen getötet hatten, als wir retteten. Soldaten oder Zivilisten? Da gibt es keine Differenz. Soldaten sind auch Zivilisten, einfach in anderen Kleidern … Ich suche nach dem Schuldigen. Wer ist schuld daran, dass mir das alles passiert ist, dass ich mich so verändert habe? Seltsamerweise habe ich immer weniger das Gefühl, dass der Feind daran schuld sei.»

«Am Ende fühlte ich mich vollständig leer und ausgebrannt. Ich kann das Gefühl nicht erklären. Ich denke, ich habe die Grenze überschritten, die Grenze, hinter der das Alltag wird, was im normalen Leben «Wahnsinn» genannt wird. Hinter dieser Grenze gibt es nichts als Leere.»

 

hinweis

Jasna Bastic beabsicht, ihre Untersuchung als Buch zu veröffentlichen. Die Finanzierung dieses Projektes ist aber noch nicht gesichert. Wir bitten daher um Spenden mit dem Vermerk «PTSD» auf das Konto der GSoA mit dem beiliegenden Einzahlungsschein.