Wie Thomas von Aquin zum UN-Sonderberater wurde

Unlängst verlangte Generalsekretär Kofi Annan von den Mitgliedsstaaten im Hinblick auf die im September stattfindende Uno-Vollversammlung mehr Engagement bei der Umsetzung der «Milleniumsziele». Dazu forderte er auch die Anerkennung des Prinzips der «Responsibility to Protect».

Woher kommt dieses Prinzip und was bedeutet es? Erstaunlicherweise liegt ein grosser Teil der Antworten auf diese Fragen im tiefen Mittelalter.
Von Felix Birchler

Der Scholastiker Thomas von Aquin (1225-1274) hat mit seinen Schriften zur Frage nach der möglichen Rechtfertigung von Gewalt und Krieg, ein Thema aufgegriffen, das seit jeher kontrovers diskutiert wurde. Die thomanische Lehre des gerechten Krieges ist aber wohl einzigartig in ihrer Durchschlagskraft, scheint es doch, dass diese mehr als 700 Jahre alten Vorstellungen noch heute die internationale Politik beeinflussen. Worin besteht also Thomas von Aquins Lehre vom gerechten Krieg?

In seiner Summa Theologica kommt Thomas zum Schluss, dass ein Krieg nur dann gerecht sein kann, wenn er drei Bedingungen erfüllt:

  1. Auctoritas principis (Legtimierte Autorität). Einen Krieg beschliessen darf nur, wer auch rechtlich dazu bemächtigt ist, eine solche Entscheidung zu treffen.
  2. Iusta causa (Gerechter Grund). Ein Krieg kann nur dann gerecht sein, wenn damit Unrecht bestraft wird oder etwas unrechtmässig Gestohlenes (Territorium) zurückgeholt wird. Da das Recht nur auf einer Seite liegen kann, ist klar, dass ein gerechter Krieg nur von einer Partei gefochten werden kann.
  3. Recta intentio (Reine Absicht). Wer in reiner Absicht einen Krieg beginnt, der kann dies nur tun, um damit einen gerechten Frieden herbeizuführen. Schlechte Absichten für einen Krieg sind hingegen Bosheit, die Lust anderen Schaden zuzufügen, Rachegelüste, ein gnadenloser Geist oder die Gier nach Macht.

Wer in reiner Absicht in den Krieg zieht, der wendet nur soviel Gewalt an wie unbedingt notwendig ist, um den Krieg zu gewinnen. Übertriebene Gewaltanwendung gilt als sicheres Zeichen dafür, dass der Krieg in böser Absicht geführt wird. Das Anliegen der thomanischen Lehre vom gerechten Krieg ist es, aufzuzeigen, dass Gewalt und Krieg sinnvoll als Instrumente zur Verteidigung oder Förderung des Gemeinwohls eingesetzt werden können. Die Anwendung von Gewalt kann nach Thomas von Aquin nicht per se verurteilt werden, da sie ja auch dazu dienen kann, das Gute zu befördern und die Schwachen vor den Bösen zu beschützen. Ein Krieg muss deshalb immer im grösseren Kontext beurteilt werden. Und für eben diese Beurteilung wollte Thomas von Aquin seine Bedingungen als Instrumentarium verstanden haben.

Die Kommission

Im Jahr 2000 veröffentlichte UN-Generalsekretär Kofi Annan seinen Millenniumsbericht «We the Peoples: The Role of the United Nations in the 21st Century», der neben den Themen HIV/AIDS, Armut und Umweltschutz auch die menschliche Sicherheit und deren mögliche Verteidigung durch Waffengewalt ansprach. In eindringlichen Worten wandte sich Kofi Annan an die Weltöffentlichkeit und verlangte, dass die Vereinten Nationen sich endlich ihrer Verantwortung bewusst werden und den vermeintlichen Widerspruch zwischen staatlicher Souveränität und individuellen Menschenrechten auflösen sollten. Nach Ruanda und Srebrenica solle sich kein Staat mehr hinter seinem Recht auf Souveränität verschanzen können, wenn infolge von Massakern und ethnischen Säuberungen, das Gewissen der Weltöffentlichkeit nicht länger wegsehen, sondern sich einmischen will.

Als Antwort auf diese Herausforderung des UN-Generalsekretärs bildete die kanadische Regierung im September 2000 die International Commission on Intervention and State Sovereignty (ICISS). Als bekannteste Mitglieder der Kommission figurierten der kanadische Menschenrechts-Professor Michael Ignatieff, General Klaus Naumann (ehemaliger Vorsitzender des NATO-Militärausschusses und einer der Urheber der Kosovo-Intervention), der ehemalige philippinische Präsident Fidel Ramos, sowie Cornelio Sommaruga (Präsident des IKRK während der Kosovo-Intervention).

Unter den Geldgebern der ICISS befand sich neben der kanadischen Regierung auch eine Reihe privater amerikanischer Stiftungen, darunter etwa die Carnegie-Stiftung und die Rockefeller-Stiftung. Darüber hinaus bekam die Kommission auch finanzielle Unterstützung von den Regierungen Grossbritanniens und der Schweiz.

Schon die Zusammensetzung und Finanzierung der Kommission machte deutlich, dass die ICISS wohl eher die «Täterseite» der humanitären Interventionen zu Worte kommen lassen würde. Eine Absicht, die kaum verschleiert wurde. So heisst es im Mandat der ICISS, ihre Aufgabe sei es, die Polemiken zu beenden und einen globalen Konsensus zu schaffen. Dieser sollte damit erreicht werden, dass die Kommission beweist, dass es zwischen dem Recht der Staaten auf Souveränität und dem Prinzip der humanitären Interventionen gar keinen Widerspruch gäbe. Damit wurde das Ergebnis des Forschungsberichtes praktisch vorweggenommen. Der globale Konsensus wurde schon im Vorneherein festgelegt; divergierende Meinungen sollten zwar angehört werden, die Schlussfolgerungen des Berichtes aber nicht beeinflussen. Humanitäre Interventionen sind mit dem völkerrechtlichen Souveränitätsprinzip vereinbar. Punkt. Schluss.

Am 18. Dezember 2001 übergab die Kommission in einer förmlichen Zeremonie ihren Schlussbericht an UN-Generalsekretär Annan, gewissermassen als Antwort auf seinen Appell an die Öffentlichkeit. Der Bericht erschien unter dem Namen «The Responsibility to Protect».

Neuer Wein in alten Schläuchen

Zu welchem Schluss kamen nun die tapferen Forscher der International Commission on Intervention and State Sovereignty? Unter welchen Bedingungen lassen sich humanitäre Interventionen rechtlich, moralisch und politisch vertreten? Erstaunlicherweise kamen die klugen Köpfe nicht weiter als Thomas von Aquin mehr als 700 Jahre vor ihnen. Sie recyclierten ganz einfach seine Kriterien des gerechten Krieges und füllten sie mit Inhalten aus dem anbrechenden 21. Jahrhundert. Freilich wird der alte Scholastiker im Bericht nicht ein einziges Mal erwähnt.

  1. Die legitimierte Autorität: Nur der Sicherheitsrat der Vereinten Nationen ist in der legalen und legitimen Position eine humanitäre Intervention zu beschliessen.
  2. Der gerechte Grund: Humanitäre Interventionen dürfen nur in ausserordentlichen Situationen durchgeführt werden, in denen Nicht-Handeln grosses Leid über die Menschen bringen würde. Als solche Notsituationen gelten Massenmorde und Genozide, wie auch ethnische Säuberungen.
  3. Prinzipien der Vorsicht: Unter diesem Punkt figuriert das alte Prinzip der recta intentio. Eine humanitäre Intervention ist nur zulässig, wenn es ihr Motiv ist, menschliches Leiden zu stoppen.

Analog zu Thomas von Aquins Lehre vom gerechten Krieg verlangt der Bericht, dass in einer humanitären Intervention nur so viel Gewalt angewendet wird, wie unbedingt nötig ist, um das Ziel, einen gerechten Frieden, zu erreichen. Ausserdem darf eine humanitäre Intervention nur als letztes Mittel eingesetzt werden, wenn alle gewaltlosen Versuche die Massenmorde zu stoppen, gescheitert sind.

Wie Thomas von Aquin nach New York kam

Da der Bericht als direkte Antwort auf einen Aufruf von Kofi Annan konzipiert wurde, kann es auch nicht weiter erstaunen, dass sich die Kommission das Recht herausnahm, dem UN-Generalsekretär gleich eine paar Forderungen mitzuliefern. Ganz unbescheiden verlangte sie vom Generalsekretär, er solle sich mit den Vorsitzenden des Sicherheitsrates und der Vollversammlung zusammensetzen und die Wege und Mittel besprechen, mittels derer die Erkenntnisse und Forderungen des Berichtes in diesen beiden Gremien optimal umgesetzt werden können, aber auch wie der Generalsekretär künftig am besten nach den Prinzipien der «Responsibility to Protect» aktiv werden kann. Offensichtlich sind die Forderungen der ICISS auf offene Ohren gestossen, wurde doch der Titel ihres Schlussberichts gleich in den Rang eines Leitprinzipes der UNO-Aktivitäten erhoben.

Dieser durchschlagende Erfolg des ICISS-Berichtes darf nicht darüber hinwegtäuschen, dass damit vor allem eine vorgefertigte Meinung zugunsten der Befürworter humanitärer Interventionen bestätigt werden sollte. Dafür spricht insbesondere die Tatsache, dass eine Erkenntnis von Thomas von Aquin im ICISS-Bericht vollkommen fehlt. Thomas von Aquin war sich immer bewusst, dass Kriterien wie «gerechter Grund» oder «reine Absicht» derart schwammig sind, dass sie bis zur Unkenntlichkeit verbogen und missbraucht werden können. Das Bewusstsein, dass humanitäre Anliegen auch als moralischer Schutzschild für ordinären Krieg missbraucht werden können, fehlt der ICISS hingegen vollständig. Eine ernsthafte Diskussion um die rechtliche, wie moralische Zulässigkeit von humanitären Interventionen kann die Missbrauchsgefahr allerdings nicht ausklammern. Soviel Sinn für Realpolitik sollte schon noch sein.


lic.rer.soc. Felix Birchler arbeitet als Forschungsmitarbeiter an der Universität Luzern. Er analysiert Begründungen von Kriegen und humanitären Interventionen im historischen Vergleich.

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