Die schwierige Suche nach der Wahrheit…

Der Name Srebrenica steht seit neun Jahren für das Versagen der Staatengemeinschaft zum Schutz der Menschenrechte in Bosnien-Herzegowina. Doch die Probleme der Menschen in Srebrenica sind heute aus dem Blickwinkel der Weltöffentlichkeit gefallen. Renate Metzger-Breitenfellner (Text) und Jutta Vogel (Bild)* haben die Stadt im Herbst 2004 besucht.

Sie ist gross, spricht laut, hat dunkles Haar und braune Augen, kräftige Hände. Sie steht am Herd und kocht Kaffee. Starken bosnischen Kaffee, den sie mit viel Zucker trinkt. Dazu serviert sie Schweizer Schokolade. Ein Geschenk. Erinnerung an einen Besuch. Hatidza Mehmedovic hat viele Erinnerungen. Sie sind das einzige, was ihr nach dem Krieg geblieben ist…

Sie erzählt vom Abschied von ihrem Mann Abdulah, von ihren Söhnen Ahmir und Lalo, 13 und 15 Jahre waren sie alt, damals, im Juli 1995. Sie war bei der Selektion in Potocari mit dabei, als die serbische Armee die Männer von den Frauen trennte, sie versuchte immer wieder auf den rettenden Lastwagen aufzusteigen, wurde dreimal am Mitfahren gehindert. Schliesslich schaffte sie es doch. Sie kam nach Tuzla, in ein Kollektivzentrum, dorthin, wo zwei mal zwei Meter Platz pro Familie zur Verfügung standen, wo sich 30 Personen eine Toilette teilen mussten. Dann floh sie nach Vogosza, in einen Vorort von Sarajevo – und kehrte 2002 nach Srebrenica zurück. In die Stadt, in ihr Haus in Vidikovac, das in der Zwischenzeit von der malaysischen Regierung wiederaufgebaut worden ist. Sie lebt im ersten Stock, «unten fühle ich mich nicht sicher», sagt sie. Die meisten Häuser hier stehen leer, die Arbeitslosigkeit in Srebrenica liegt bei 90 Prozent, es gibt Hunger, Armut, Hoffnungslosigkeit. Und viel Kriminalität.

Srebrenica wirkt heute wie eine Geisterstadt. Wer via Potocari nach Srebrenica fährt, sieht zuerst das zerstörte Fussballstadion. Danach kommt eine serbische Flüchtlingssiedlung, die vor zwei Jahren errichtet worden ist. Das Krankenhaus, das nur minimale ambulante Versorgung garantiert. Eine grosse Tankstelle. Eine schäbige Busstation. Hohe Schwellen auf der Strasse, über die sogar die Einheimischen im Schritttempo fahren. Polizei. Schulareal. Kleine, geduckte Bauten ohne Türen und mit kaputten Fenstern. Wohnblöcke mit Einschusslöchern. Alte Menschen auf der Strasse, an den Fenstern, in den Wohnungen, junge auf dem Schulhofplatz. Niemand vor dem Hotel Domavia, das heute dreigeteilt ist: Ruine, Flüchtlingsunterkunft und Hotel in einem. Es liegt dort, wo die einst florierende Bergwerksstadt mit ihren Silber-, Zink- und Bleiminen ihr Zentrum hatte. Vor dem Krieg, als hier noch gelebt und gearbeitet werden konnte, als noch nicht wichtig war, wer bosniakisch und wer serbisch ist. Heute türmt sich hier der Müll, streunende Hunde suchen nach Essensresten, alt aussehende Männer spalten das Holz für den Winter. Viel Holz. Weil der Winter hart und kalt ist, mit Temperaturen bis zu minus 15 Grad, mit viel Schnee, mit unpassierbaren Strassen.

Vor dem Krieg war die Familie Mehmedovic glücklich. Der Vater Arbeiter, ein fleissiger Mann und vorbildlicher Vater, die Mutter eine gute Hausfrau, die Söhne tüchtig in der Schule. Jetzt ist alles anders. Jetzt ist sie alleine. 52 Jahre alt, eine religiöse Muslima, Präsidentin des Volksvereins, der einzigen Organisation in Srebrenica, die sich für die Suche nach den vermissten Personen einsetzt. Hatidza Mehmedovic ist noch immer auf der Suche nach ihren Lieben. «Für mich ist es sehr wichtig, die Körper meiner Kinder zu finden», sagt sie, die Stimme bebt ein wenig. «Ich will wissen, wer sie auf dem Gewissen hat. Ich will die Wahrheit wissen. Auch wenn das weh tut.»

Etwa 10’000 Männer wurden nach dem Juli 1995 vermisst. 1270 von ihnen sind auf dem Friedhof beim Memorial in Potocari begraben, etwa 5000 Leichen warten in Kühlhallen in Tuzla darauf, identifiziert zu werden, 32 neue Massengräber sind jetzt gemeldet, bezeichnet, aber nicht geöffnet. Für die Menschen in Srebrenica sei das eine Katastrophe, sagt die Psychotherapeutin Teufika Ibrahimefendic: «Sie können nicht anfangen zu leben, sie können sich der Realität des Todes eines Vermissten nicht stellen. Sie können sich nur an den Moment erinnern, als sie Abschied genommen haben. Es ist zermürbend, entmutigend.» Auch Hatidza Mehmedovic kann dieses Warten, diese zaghafte Hoffnung fast nicht ertragen. Eine Hoffnung, von der sie weiss, dass sie vergeblich ist. «Eines Tages werden sie meine Kinder finden», sagt. Und fügt mit leiser Stimme hinzu: «Wie werde ich das verkraften?».

Trotz ihrer Trauer hat sie begonnen ihr Leben neu zu organisieren. Sie arbeitet mit anderen Frauenorganisationen zusammen, nimmt an Beerdigungen teil, verteilt für die Gesellschaft für bedrohte Völker in Sarajevo Hilfsgüter. Sie besucht Familien, schaut, was sie brauchen, erstellt Prioritätenlisten und meldet die Informationen nach Sarajevo. 20 Kühe, 200 Schafe, 4 Mulitkultivatoren, 40 Ziegen und viele Säcke Saatgut hat sie auf diese Art bereits verteilt. Eine Arbeit, die ihr Spass macht, die ihr hilft, die Gegenwart zu bewältigen – ohne dabei die Vergangenheit zu vergessen.

Und diese Vergangenheit, davon sind Hatidza Mehmedovic und ihre Kolleginnen überzeugt, muss gesühnt werden. Die Srebrenica-Frauen haben deshalb mit Hilfe internationaler Anwälte gegen die UNO und die damaligen UN-Verantwortlichen Yasushi Akashi und Bernard Janvier, Boutros Boutros-Ghali und Kofi Annan geklagt – um aufzuzeigen, dass die Menschen von Srebrenica von der Uno im Stich gelassen worden sind.

Hatidza Mehmedovic nimmt ihren Gebetsteppich, setzt ein Kopftuch auf, verrichtet das Gebet. Und zeigt uns dann ein altes Schulheft, ein handgeschnitztes Holzschwert, ein paar Fotos – das, was ihr als Andenken an ihre Kinder geblieben ist. «So lange ich lebe, werden auch meine Söhne leben», sagt sie. Tränen rinnen ihr über die Wangen. Energisch wischt sie sie weg, sagt, dass sie ja eigentlich mit ihrem Leben zufrieden sei, dass es ihr recht gut gehe. «Aber ist es traurig, all die anderen zu sehen, die gar nichts haben.» Aus Bosnien selbst sei wenig Hilfe gekommen, sagt sie, fast alles Geld für den Wiederaufbau sei nach Sarajevo, Banja Luka und Tuzla geflossen. «Dort sieht man etwas davon. In Srebrenica nicht.»


*Renate Metzger-Breitenfellner ist freie Journalistin und Mitarbeiterin des RomeroHauses in Luzern. Sie hat sich an der Medienkonferenz der GSoA gegen die Entsendung von Schweizer Soldaten in die EU-Truppe nach Bosnien beteiligt; ihr Redebeitrag kann hier nachgelesen werden.
Jutta Vogel ist Fotografin in Luzern.

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